Die Dämonin
von
Jack Shar­key

 

 

Als Bob, von sei­ner Lie­be zu Va­le­rie ge­blen­det, zum Trau­al­tar schritt, ge­lob­te er, eins zu sein mit ihr und sein Le­ben mit ihr zu tei­len. Er braucht lan­ge, um her­aus­zu­fin­den, daß Va­le­rie gar kein Le­ben hat, son­dern nur den Hun­ger und die Gier nach Le­ben … Die Ehe ist ein ma­ka­b­res Spiel, oh­ne Zwei­fel, aber sie ver­kehrt sich in schie­res Grau­en, wenn ei­ne Dä­mo­nin das Ge­löb­nis des Tei­lens all­zu wört­lich nimmt. Jack Shar­keys Sto­ry ist ein er­schre­cken­der Be­weis da­für, wes­sen man sich al­les vor­se­hen soll­te, ehe man sich ewig bin­det.

 

 

Er spür­te den Schmerz – einen kur­z­en, mes­ser­schar­fen Stich –, als er sich nach dem Zäh­ne­put­zen den Mund aus­spül­te. Um sei­ne Ur­sa­che her­aus­zu­fin­den, schob er mit den Fin­ger­spit­zen die Ober­lip­pe bei­sei­te und sah in den Spie­gel. Das ro­si­ge Zahn­fleisch war ge­sund, und die Zäh­ne wa­ren weiß und oh­ne Feh­ler. Er drück­te da­ge­gen – und wie­der spür­te er den Schmerz. Un­an­ge­nehm be­rührt, spül­te er den Mund noch ein­mal aus, trock­ne­te sich die Hän­de ab und ging ins Schlaf­zim­mer zu­rück.

Sei­ne Frau lag noch im Bett. Ih­re zu­sam­men­ge­roll­te Fi­gur zeich­ne­te sich un­ter den De­cken ab.

»Weißt du was?« frag­te er nach­denk­lich. »Ich glau­be, ich ha­be einen lo­sen Zahn.«

Die Fi­gur un­ter der grü­nen De­cke be­weg­te sich. Va­le­ries Kopf er­schi­en. Sie seufz­te mü­de. Ih­re Haa­re wa­ren hell­blond, und für einen Au­gen­blick sah es so aus, als krö­che ein hell­blon­der Schmet­ter­ling aus ei­nem grü­nen Ko­kon. Sie be­trach­te­te ih­ren Mann aus schläf­ri­gen, brau­nen Au­gen.

»Auf was Har­tes ge­bis­sen?«

»Nein – we­nigs­tens kann ich mich nicht er­in­nern. Und wenn es so wä­re, wür­de ich es be­stimmt nicht ver­ges­sen ha­ben.«

»Laß mich mal se­hen«, sag­te Va­le­rie und rich­te­te sich auf. Sie schob das Kopf­kis­sen zu­rück, da­mit sie sich da­ge­gen leh­nen konn­te. Mit der frei­en Hand strich sie sich die Haa­re aus dem Ge­sicht. Sie hat­te ein hüb­sches, schma­les Ge­sicht mit ei­nem ener­gi­schen Kinn.

»Hier«, sag­te Bob, setz­te sich auf die Bett­kan­te und beug­te sich zu ihr hin­ab. Wie­der schob er die Ober­lip­pe hoch. Sei­ne Stim­me klang leicht ver­än­dert. »Der Schnei­de­zahn, glau­be ich.«

Va­le­rie nahm den be­zeich­ne­ten Zahn vor­sich­tig zwi­schen Dau­men und Zei­ge­fin­ger und ruck­te dar­an. Bob grunz­te und wich zu­rück. Mit der Zun­ge be­fühl­te er den schmer­zen­den Zahn.

»Was ge­se­hen?« er­kun­dig­te er sich ei­ni­ge Se­kun­den spä­ter.

»Ei­gent­lich nicht. Viel­leicht liegt es an der Wur­zel …«

»Si­cher ist es die Wur­zel«, stimm­te er oh­ne Be­geis­te­rung zu. »Ich ha­be viel­leicht doch in et­was Har­tes hin­ein­ge­bis­sen.«

»Ich wer­de den Zahn­arzt an­ru­fen«, sag­te sei­ne Frau und griff nach dem Te­le­fon ne­ben dem Bett.

»Wo­zu?« Sei­ne Stim­me klang scharf und ab­leh­nend. Va­le­rie ver­än­der­te ih­re La­ge nicht und sah ihn nur stumm an, bis er er­rö­te­te und nick­te. »Ja, ru­fe ihn an. Es wird bes­ser sein.«

Wäh­rend sie die Num­mer wähl­te, er­hob er sich und be­gann sich an­zu­zie­hen. Er igno­rier­te das Ge­spräch, we­nigs­tens ver­such­te er es. Als Va­le­rie den Hö­rer auf die Ga­bel zu­rück­leg­te, setz­te er sich er­neut auf die Bett­kan­te, um sei­ne Strümp­fe an­zu­zie­hen.

»Heu­te?« frag­te er er­schro­cken. Sei­ne Frau glitt auf der an­de­ren Sei­te aus dem Bett. »Das kann kein gu­ter Zahn­arzt sein, wenn er gleich Zeit für mich hat.«

»Er ist aus­ge­zeich­net.« Va­le­rie ging ins Ba­de­zim­mer. »Je­mand hat ab­ge­sagt.«

»Es tut schon gar nicht mehr so weh.« Bob fuhr sich mit der Zun­ge über die Lip­pen. »Viel­leicht ist es nur ei­ne Er­käl­tung oder so was.« In der Ba­de­zim­mer­tür stand Va­le­rie und un­ter­drück­te ihr Lä­cheln. Sie sah ihn nur schwei­gend an, bis er ver­zwei­felt nick­te. »Schon gut«, mur­mel­te er, »schon gut, ich wer­de ge­hen. Wann?«

»Zwei Uhr. Ich wer­de dir um halb zwei Be­scheid sa­gen.«

»Ich ver­ges­se es schon nicht«, sag­te er und starr­te auf die ge­schlos­se­ne Tür. »Ich glau­be kaum, daß ich heu­te an et­was an­de­res den­ken kann.«

Dr. Hau­fen stand lan­ge Zeit am Fens­ter und be­trach­te­te das noch feuch­te Ne­ga­tiv der Rönt­gen­auf­nah­me. Bob saß zu­rück­ge­lehnt in dem Stuhl. Sein Kopf lag auf dem Pols­ter der Stüt­ze. Mit sei­nen Hän­den um­klam­mer­te er die Leh­nen des Stuh­les. Ver­geb­lich ver­such­te er, die blit­zen­den In­stru­men­te nicht zu se­hen, die hin­ter den Glas­schei­ben stan­den. Dicht vor ihm hing der Boh­rer. Fast vor sei­ner Na­se.

Der Arzt dreh­te sich lang­sam zu ihm um.

»Wie alt, Mr. Ter­rill, sag­ten Sie, daß Sie sind?«

Die Fra­ge kam un­er­war­tet. Bob setz­te sich auf­recht und nahm den Kopf von der Stüt­ze.

»Sechs­und­drei­ßig.«

Der Zahn­arzt nick­te lang­sam und hing das Ne­ga­tiv, das von ei­ner Klam­mer ge­hal­ten wur­de, an einen Na­gel. Dann be­gann er in ei­ni­gen Käs­ten zu stö­bern.

»Ist mit dem Zahn was nicht in Ord­nung?« frag­te Bob. »Ist er ge­bro­chen? Ei­ne Ent­zün­dung?«

Dr. Hau­fen wand­te sich ihm zu. Er sag­te:

»Ihr Zahn stirbt ab. Der Nerv ist er­le­digt und die Kno­chen­haut ge­schwächt. Er muß her­aus, ganz klar.«

»Raus?« Bob starr­te ihn an. »Ein Schnei­de­zahn? Aus­ge­rech­net vorn?« Er über­dach­te die Mög­lich­kei­ten. »Ich wer­de aber doch kei­ne Lücke ha­ben? Si­cher kön­nen Sie mir einen falschen Zahn ein­set­zen, Herr Dok­tor? Wie soll ich sonst mei­nen Be­ruf aus­üben, mit ei­ner Lücke im Ge­biß? Ich kom­me mit vie­len Leu­ten zu­sam­men, muß viel lä­cheln und …«

»Na­tür­lich kann ich Ih­nen künst­li­che Zäh­ne ein­set­zen«, nick­te der Arzt. »Aber auf lan­ge Sicht ge­se­hen wird es ein­fa­cher und bil­li­ger sein, wenn wir da­mit war­ten, bis auch die an­de­ren Zäh­ne ge­zo­gen sind.«

Bob hat­te das Ge­fühl, in sei­nem Ma­gen sei nicht al­les in Ord­nung.

»Die an­de­ren?« stam­mel­te er. »Wol­len Sie da­mit sa­gen, daß noch an­de­re Zäh­ne ge­zo­gen wer­den müs­sen?«

Dr. Hau­fen schi­en einen Ent­schluß ge­faßt zu ha­ben. Er kam et­was nä­her und blin­zel­te ver­trau­lich.

»Mr. Ter­rill«, sag­te er sanft, »Sie ha­ben ei­ne noch sehr jun­ge Frau, kaum drei­ßig Jah­re alt. Ich ha­be größ­tes Ver­ständ­nis da­für, daß Sie da­her Ih­re äu­ße­re Er­schei­nung ein we­nig – hm, sa­gen wir an­ge­paßt ha­ben. Ein Mann ist so jung, wie er sich fühlt, das ist völ­lig rich­tig. Aber ei­ne ma­the­ma­tisch fest­ge­leg­te Tat­sa­che läßt sich nicht um­sto­ßen. Die Jah­re al­lein zäh­len, nicht nur das Aus­se­hen …«

»Einen Au­gen­blick, Dok­tor!« Bob un­ter­brach den Arzt und setz­te sich nun ganz auf­recht. »Was wol­len Sie ei­gent­lich? Kön­nen Sie nicht deut­li­cher wer­den?«

Auf dem Ge­sicht des Zahn­arz­tes spiel­te ein nach­sich­ti­ges Lä­cheln, als er das Ne­ga­tiv an der Klam­mer vom Na­gel nahm und de­mons­tra­tiv in die Luft hielt.

»Aus ver­ständ­li­chen Grün­den ver­sucht man oft, an­de­re Men­schen zu täu­schen, aber Rönt­gen­strah­len las­sen sich nicht be­trü­gen, und Rönt­gen­bil­der lü­gen auch nicht.«

»Ich ver­ste­he kein Wort«, sag­te Bob und fühl­te sich ganz elend. »Was wol­len Sie ei­gent­lich von mir?«

»Ich ver­su­che Ih­nen nur zu er­klä­ren, daß Ih­re Be­haup­tung, erst sechs­und­drei­ßig Jah­re alt zu sein, an­ge­sichts die­ser ent­wi­ckel­ten Rönt­gen­auf­nah­me ge­ra­de­zu lä­cher­lich ist.«

»Aber Dok­tor – ich bin sechs­und­drei­ßig!«

»Nicht, wenn es hier­nach geht.« Dr. Hau­fen hielt ihm das Ne­ga­tiv dicht vor die Au­gen. Bob starr­te auf die grau­wei­ßen Kon­tu­ren, die sich kaum ge­gen den schwar­zen Hin­ter­grund ab­ho­ben, dann schüt­tel­te er den Kopf.

»Da­von ver­ste­he ich nichts. Ich be­grei­fe über­haupt nicht, wor­auf Sie hin­aus­wol­len.«

»Al­so gut«, sag­te Hau­fen, »dann will ich es Ih­nen er­klä­ren. Sie be­haup­ten, sechs­und­drei­ßig Jah­re alt zu sein, aber Sie ha­ben die Zäh­ne ei­nes Man­nes, der gut und gern dop­pelt so alt sein muß.«

Bob ließ die Arm­leh­nen los und sank zu­rück, bis sein Kopf auf der Stüt­ze Halt fand. Er starr­te Hau­fen an.

»Ich bin sechs­und­drei­ßig …«

Der Arzt lä­chel­te nach­sich­tig und dreh­te sich um. Sorg­fäl­tig wähl­te er sei­ne In­stru­men­te aus. Als er wie­der sprach, schi­en sein In­ter­es­se für das wirk­li­che Al­ter sei­nes Pa­ti­en­ten er­lo­schen zu sein.

»Wie Sie wol­len, Mr. Ter­rill. Die Haupt­sa­che ist, wir zie­hen den Zahn.

Spä­ter al­ler­dings wä­re ich Ih­nen schon dank­bar, wenn Sie mich dar­über auf­klä­ren, wie Sie es schaf­fen, so jung aus­zu­se­hen. Auch Ih­re Stim­me ist …«

Er hat­te sich in­zwi­schen wie­der um­ge­dreht und ver­stumm­te. Der Stuhl, in dem Mr. Ter­rill ge­ses­sen hat­te, war leer. Der Pa­ti­ent hat­te un­be­merkt das Wei­te ge­sucht.

Dr. Hau­fen ließ den Wat­te­bausch in den Ab­fall­ei­mer fal­len und zuck­te die Ach­seln. Die­sem Ter­rill wür­de er schon ei­ne ge­pfef­fer­te Rech­nung schi­cken, auch oh­ne ge­zo­ge­nen Zahn.

Schon von der Ter­ras­se aus konn­te er das fla­ckern­de Ker­zen­licht be­mer­ken. Er steck­te den Haus­schlüs­sel in die Ho­sen­ta­sche zu­rück, durch­quer­te das Wohn­zim­mer und ging aufs Schlaf­zim­mer zu. Die Ker­zen auf dem Tisch wa­ren halb nie­der­ge­brannt. Das Sil­ber­be­steck re­flek­tier­te das Licht. Er sah auf die Uhr und stell­te fest, daß es be­reits halb acht war. Von der Kü­che her kam der Ge­ruch kalt­ge­wor­de­nen Es­sens.

Er hat­te kein rei­nes Ge­wis­sen, als er die Tür zum Schlaf­zim­mer öff­ne­te. Va­le­rie saß auf­recht im Bett, bleich und ab­ge­härmt. Die rech­te Hand lag in der Nä­he des Te­le­fons. Als sie ihn sah, sprang sie auf, und die Far­be kehr­te in ihr Ge­sicht zu­rück.

»Vom Bü­ro aus ha­ben sie an­ge­ru­fen.« Ih­re sonst so aus­ge­wo­ge­ne Stim­me klang schrill und ner­vös. »Sie frag­ten, ob dir was pas­siert sei.« Sie dräng­te sich an ihn. »Ich woll­te ge­ra­de die Po­li­zei an­ru­fen.«

»Es tut mir leid«, sag­te er ernst.

»War es schlimm?« Va­le­rie lehn­te sich zu­rück, um ihm ins Ge­sicht se­hen zu kön­nen. »Beim Zahn­arzt, mei­ne ich.«

Bob leg­te den Arm um sie, da­mit sie sich nicht noch wei­ter zu­rück­leh­nen konn­te.

»Ziem­lich schlimm«, be­ton­te er, oh­ne lü­gen zu müs­sen. »Es war so ziem­lich das Schlimms­te, was ich bis­her über­haupt er­lebt ha­be.«

»Laß mich den Zahn mal se­hen«, bat sie und sah auf sei­nen Mund. »Tut er sehr weh? Hat der Arzt ei­ne Fül­lung ge­macht?«

»Nicht di­rekt«, mur­mel­te Bob. Sanft drück­te er ih­ren Kopf ge­gen sei­ne Brust, da­mit sie sein Ge­sicht nicht se­hen konn­te. »Er hat ge­sagt, der Zahn müs­se ge­zo­gen wer­den.«

»Oh Bob!«

Das war­me Mit­ge­fühl in ih­rer Stim­me be­rühr­te ihn, gab ihm Ver­trau­en in ih­re Lie­be. Zö­gernd zu­erst, dann fast has­tig, be­rich­te­te er von dem, was er beim Zahn­arzt er­lebt hat­te. Er schloß:

»Er­hat sich ge­irrt! Er muß sich ein­fach ge­irrt ha­ben!«

»Aber na­tür­lich hat er sich ge­irrt«, sag­te Va­le­rie. »Du großer Dumm­kopf, warum bist du nicht so­fort nach Hau­se ge­kom­men, statt den gan­zen Nach­mit­tag ziel­los in der Stadt her­um­zu­lau­fen?«

»Ich hat­te Angst, es dir zu sa­gen.«

»Angst? Vor mir?« Sie sah ihn mit großen Au­gen an. »Warum soll­test du Angst ha­ben, es mir zu er­zäh­len?«

Er zuck­te die Schul­tern und fühl­te sich in die En­ge ge­trie­ben. Wie dumm hat­te er sich an­ge­stellt! Schließ­lich mur­mel­te er:

»Ich weiß es nicht. Ich wuß­te auch nicht, wie du es auf­neh­men wür­dest. Si­cher, du hät­test mir den Kopf schon nicht ab­ge­bis­sen – ich weiß eben nicht, warum ich nicht gleich hier­her­ge­kom­men bin.«

Va­le­rie nahm sei­nen Arm. Sie schi­en die ver­rück­te Ge­schich­te schon wie­der ver­ges­sen zu ha­ben.

»Komm in die Kü­che, da ha­be ich noch was zum Es­sen für dich.«

Er folg­te ihr durch das Wohn­zim­mer in die Kü­che. Er­neut über­kam ihn das Schuld­ge­fühl, als er den ver­welk­ten Sa­lat und den ver­brut­zel­ten Bra­ten sah. Al­les war für sechs Uhr vor­be­rei­tet ge­we­sen, und er war nicht ge­kom­men.

»Tut mir leid, Klei­nes. Du hast es so gut ge­meint, und ich …«

»Ach, Un­sinn«, sag­te sie la­chend. »Ich ma­che schnell ein paar Fri­ka­del­len. Öff­ne du in­zwi­schen ei­ne Do­se Bier, und du sollst se­hen, wie gut es dann schmeckt.« Ih­re Hand lag schon auf dem Griff zum Eis­schrank, als sie sich noch ein­mal um­dreh­te und hin­zu­füg­te: »Und das nächs­te­mal, wenn dir die Welt über dem Kopf zu­sam­men­fällt, dann komm nach Hau­se, oder ruf mich an, oder schick mir ein Te­le­gramm, ja?«

»Ach, Lie­bes«, seufz­te er, zog sie an sich und be­deck­te ihr blon­des Haar mit zärt­li­chen Küs­sen. »Nie wie­der wer­de ich dich war­ten las­sen. Im­mer wer­de ich so­fort zu dir kom­men und dir al­les er­zäh­len.«

»Ja, tu das. Da­für sind wir Frau­en näm­lich da.« Sie stieß ihn von sich und mach­te ein erns­tes Ge­sicht. »Kei­nen Un­sinn jetzt! Erst wird ge­ges­sen, spä­ter kannst du dich dann an mei­ner Brust aus­wei­nen.«

Bob lach­te und be­gann nach dem Büch­sen­öff­ner zu su­chen.

Am nächs­ten Mor­gen schmerz­te der Zahn wie nie zu­vor, und auch in der nächs­ten Nach­bar­schaft schi­en nicht al­les in bes­ter Ord­nung zu sein. Va­le­rie war eben­falls wach ge­wor­den, und sie frag­te gleich, wie es sei­nem Zahn ging. Tap­fer be­log er sie und igno­rier­te die fürch­ter­li­chen Schmer­zen, als er den eis­ge­kühl­ten Frucht­saft zum Früh­stück trank. Als er sich ver­ab­schie­de­te und sich auf den Weg ins Bü­ro mach­te, sah er noch lan­ge ihr lie­bes Lä­cheln vor sich, mit dem sie Ab­schied von ihm ge­nom­men hat­te. Es trös­te­te ihn über den Schmerz hin­weg.

Im Bü­ro nahm er sich als ers­tes das Bran­chen­ver­zeich­nis vor und sah nach, wel­che Zahn­ärz­te in der Um­ge­bung ih­ren Be­ruf aus­üb­ten. Er schrieb sich ei­ni­ge in sein No­tiz­buch und über­leg­te, daß es wohl recht dumm aus­sä­he, heu­te wie­der Ur­laub zu neh­men. Er be­schloß, sei­ne Mit­tags­stun­de zu op­fern. Im üb­ri­gen war er um die Hüf­te her­um dick ge­nug, sich einen Hun­ger­tag leis­ten zu kön­nen.

Als er spä­ter dann kurz nach ein Uhr in sein Bü­ro zu­rück­kehr­te, war sein Ge­sicht grau­er als je zu­vor. Zum Glück fiel das nie­mand auf. Zwei Den­tis­ten hat­te er auf­su­chen kön­nen, und al­le bei­de hat­ten ge­nau das zu ihm ge­sagt, was auch Dr. Hau­fen ge­sagt hat­te. Sei­ne Zäh­ne wa­ren al­ters­schwach und er­le­digt. Es wa­ren die Zäh­ne ei­nes al­ten Man­nes, ob­wohl er ge­ra­de erst sechs­und­drei­ßig war.

Das ist ja völ­li­ger Blöd­sinn, dach­te er ver­zwei­felt und wü­tend. Es ist ver­rückt, und ich kann Va­le­rie das auf kei­nen Fall sa­gen. Kein Mann kann sei­ner jun­gen Frau sa­gen, daß er plötz­lich se­nil und krank wird.

Ver­geb­lich such­te er in sei­nen Ta­schen nach Zi­ga­ret­ten, dann stand er auf und ging durchs Haupt­bü­ro, mit­ten durch die lan­gen Tisch­rei­hen mit eif­rig ar­bei­ten­den An­ge­stell­ten, bis er die Vor­hal­le er­reich­te, wo ein Au­to­mat hing. Die not­wen­di­ge Mün­ze hat­te er be­reits ge­fun­den und schob sie in den Schlitz. Er zog sei­ne Lieb­lings­mar­ke, aber erst als er das Päck­chen ge­öff­net und die ers­te Zi­ga­ret­te ent­zün­det hat­te, sah er rein zu­fäl­lig in den Spie­gel, der einen Teil der Front­ver­klei­dung des Au­to­ma­ten aus­mach­te.

Die Zi­ga­ret­te ent­glitt sei­nen Fin­gern und fiel auf den Bo­den. Es dau­er­te fast ei­ne vol­le Mi­nu­te, bis er es be­merk­te und sie mit den Fuß­spit­zen aus­trat. Un­gläu­big lehn­te er sich dann wei­ter vor und starr­te auf sein Spie­gel­bild.

An der Be­leuch­tung lag es nicht, denn es war so hell in dem Vor­raum, daß für Schat­ten kein Platz war. Das Licht der Ne­on­röh­ren war kalt und grell. Was Bob sah, war die Wirk­lich­keit und kei­ne Täu­schung.

Heu­te früh noch war sein Haar über der Stirn und an den Schlä­fen dicht und braun ge­we­sen, jetzt war es mit sil­ber­nen Fä­den durch­zo­gen. Win­zi­ge Fält­chen un­ter sei­nen Au­gen ga­ben sei­ner Haut das Aus­se­hen ro­sa­far­be­nen Krepp­a­piers.

Er konn­te nicht zu sei­nem Ar­beits­platz zu­rück jetzt. Er hät­te durch das Haupt­bü­ro ge­hen müs­sen, und dies­mal wä­re si­cher­lich je­dem die Ver­än­de­rung auf­ge­fal­len, die mit ihm ge­sche­hen war.

Bob dreh­te sich um und ver­ließ die Vor­hal­le durch die an­de­re Tür. Oh­ne wei­ter zu über­le­gen, stieg er in den Lift und ließ sich nach un­ten brin­gen. Drau­ßen auf der Stra­ße fror er plötz­lich. Zu dumm, daß er sei­nen Man­tel im Bü­ro zu­rück­ge­las­sen hat­te. Er un­ter­drück­te das Ver­lan­gen, laut zu schrei­en. Lan­ge hielt er das nicht mehr aus. Er dach­te an den Weg bis zur U-Bahn, an das War­ten auf dem Bahn­hof, an die lan­ge Fahrt. Ein frei­es Ta­xi mach­te die Ent­schei­dung leich­ter. Er wink­te es her­an und gab dem Fah­rer sei­ne Adres­se.

Als Va­le­rie ihn ru­fen hör­te, kam sie von der Ter­ras­se. Ein blau­er Ba­de­man­tel hüll­te ih­re klei­ne und schlan­ke Ge­stalt ein. In der Hand trug sie noch ih­re Tas­se mit dem Früh­stücks­kaf­fee. Bob brach­te kein Wort her­vor. Er sah sie nur an, wäh­rend sei­ne Hän­de lo­se her­ab­hin­gen.

»Wie­der der Zahn?« frag­te sie schließ­lich. Ein frem­der Ton­fall in ih­rer Stim­me ließ Bob ah­nen, daß sie et­was an­de­res ver­mu­te­te.

»Ich woll­te, es wä­re nur der Zahn.« Er ging auf sie zu. Jetzt erst wur­de er vom Son­nen­licht voll an­ge­strahlt, das von der Glas­tür der Ve­ran­da her ins Zim­mer fiel. Er sah, wie Va­le­ries Au­gen sich ent­setzt wei­te­ten. Die Tas­se glitt ihr aus der Hand und zer­brach am Bo­den.

»Bob – dei­ne Haa­re! Dein Ge­sicht …!«

»Ir­gend et­was ge­schieht mit mir.« Sei­ne Stim­me ver­riet die gan­ze Angst vor dem Un­be­greif­li­chen. »Ich war noch bei zwei Zahn­ärz­ten; sie be­stä­tig­ten, was schon Dr. Hau­fen sag­te. Und nun das noch!« Er sank in den nächs­ten Ses­sel. Auf dem Tep­pich brei­te­te sich die Kaf­fee­la­che aus. »Sechs­und­drei­ßig Jah­re alt bin ich, aber ich ha­be die Zäh­ne ei­nes Grei­ses und das Aus­se­hen ei­nes Man­nes über sech­zig.«

Va­le­rie setz­te sich in den an­de­ren Ses­sel und nahm sei­ne Hän­de zwi­schen die ih­ren.

»Le­ge dich jetzt ins Bett, Bob. Ich wer­de den Arzt ho­len.«

»Wo­zu?« Bobs Stim­me war kalt und spöt­tisch. »Da­mit er mich an­grinst und mich fragt, wie alt ich wirk­lich sei?«

»Auf je­den Fall fehlt dir was, Bob. Viel­leicht Vit­amin­man­gel, oder du hast dich über­ar­bei­tet. Ein Vi­rus …«

»Vi­rus!« stieß er zor­nig her­vor. »Was ist das für ein Vi­rus, das einen Men­schen in we­ni­gen Ta­gen um Jahr­zehn­te al­tern läßt?«

»Ich weiß es nicht«, gab Va­le­rie zu. Plötz­lich stan­den Trä­nen in ih­ren Au­gen. »Ein­fach hier sit­zen hilft uns auch nicht wei­ter. Ich muß et­was für dich tun …«

»Al­so gut.« Bobs Stim­me klang zer­knirscht. »Du hast recht, Klei­nes. Ruf den Arzt an, dann wer­den wir ja se­hen, was er sagt.«

Es war vie­le Stun­den spä­ter. Bob lag in sei­nem Bett. Oben an der De­cke glüh­ten die letz­ten Strah­len der un­ter­ge­hen­den Son­ne. Er rauch­te lust­los, sprach nichts, dach­te nur nach und wun­der­te sich. Vor ei­ni­gen Stun­den war der Arzt ge­kom­men und hat­te ihn un­ter­sucht. Er hat­te nichts ge­fun­den und be­tont, für sein Al­ter sei Bob kern­ge­sund und in bes­ter Ver­fas­sung.

»Wel­ches Al­ter?« hat­te Va­le­rie lau­ernd ge­fragt.

Der Arzt, der Ver­tre­ter ih­res Haus­arz­tes, der in Ur­laub ge­gan­gen war, sah sie neu­gie­rig und er­staunt an.

»En­de der Sech­zig, wür­de ich mei­nen.« Sei­ne Stim­me ver­riet Be­frem­den über ih­re un­ge­wöhn­li­che Fra­ge, aber als sie nicht rea­gier­te, schloß er sei­ne Ta­sche, schrieb ein Re­zept aus und ver­ab­schie­de­te sich mit den schreck­li­chen Wor­ten: »Ihr Va­ter soll­te sich ein we­nig aus­ru­hen, Miss Ter­rill, dann wird er sich wie­der bes­ser füh­len.«

Kei­ner war auf den Ge­dan­ken ge­kom­men, ihn über sei­nen Irr­tum auf­zu­klä­ren und ihm die Wahr­heit zu sa­gen. Der Arzt war ge­gan­gen. Bob konn­te Va­le­ries Bli­cke nicht mehr er­tra­gen. Er hat­te dar­auf be­stan­den, daß sie zur Apo­the­ke ging und die Me­di­zin hol­te. Um noch län­ger al­lein sein zu kön­nen, gab er spä­ter vor, ein un­wi­der­steh­li­ches Ver­lan­gen nach Pfef­fer­minz­schnaps zu ver­spü­ren. Er wuß­te, daß man die­sen Schnaps nur im deut­schen Vier­tel am an­de­ren En­de der Stadt er­hal­ten konn­te. Sie half ihm ins Bett, küß­te ihn und ging. End­lich war er al­lein. Er hoff­te, sie wür­de lan­ge aus­blei­ben, aber schon bald be­gann er sie zu ver­mis­sen. Doch lie­ber sehn­te er sich nach ihr, als daß er ih­re for­schen­den Bli­cke sah.

Es wur­de all­mäh­lich dun­kel, und als es völ­lig fins­ter ge­wor­den war, hör­te er die Haus­tür ge­hen. Va­le­rie kam zu­rück.

Er ver­spür­te kei­ne Lust, den Pfef­fer­minz­schnaps zu trin­ken; er hat­te ihn nie ge­mocht. Al­so schloß er die Au­gen und stell­te sich schla­fend. Er hör­te, wie Va­le­rie die Schlaf­zim­mer­tür öff­ne­te und auf sei­ne re­gel­mä­ßi­gen Atem­zü­ge lausch­te. Lei­se schloß sie die Tür wie­der. Er ver­folg­te ih­re Schrit­te bis zur Kü­che, wo sie die Fla­sche mit dem Schnaps in den Kühl­schrank stell­te.

Die Ge­räusche ver­rie­ten ihm, was sie dann tat. Schrank­tü­ren wur­den ge­öff­net und wie­der ge­schlos­sen, Was­ser rann, und dann wur­de ein Topf auf den Herd ge­stellt. Aha, sie mach­te Kaf­fee. Viel­leicht auch ein be­leg­tes Brot da­zu. Si­cher hat­te sie Hun­ger nach dem lan­gen Weg.

Bob rich­te­te sich auf. Es war nur zu na­tür­lich, daß Va­le­rie jetzt Hun­ger hat­te, aber ir­gend­wie paß­te es ihm nicht, daß sie aß, wäh­rend er sich in ein … ja, in was ver­wan­del­te er sich ei­gent­lich? Was war das für ei­ne Me­ta­mor­pho­se, die er durch­mach­te? Die al­te Ge­schich­te von Me­thu­sa­lem fiel ihm ein, und es lief ihm kalt über den Rücken.

Va­le­rie ging ne­ben­an ins Wohn­zim­mer. Er leg­te sich ins Bett zu­rück und war be­reit, den Schla­fen­den zu spie­len, wenn sie her­ein­kam. Aber sie kam nicht, son­dern ging nach ei­ner kur­z­en Wei­le hin­aus auf die Ter­ras­se.

In­zwi­schen war der Mond auf­ge­gan­gen. Sein bläu­li­cher Schein lag auf den Dä­chern der Nach­bar­häu­ser und ver­wan­del­te sie in glit­zern­de Dia­man­ten­fel­der. Vor­sich­tig stand Bob auf und ging zum Fens­ter. Wenn er sich ganz nach rechts lehn­te, konn­te er den Rand der Ter­ras­se se­hen. Dort stand Va­le­rie, in der einen Hand die Un­ter­tas­se, in der an­de­ren die Tas­se mit dem damp­fen­den Kaf­fee. Sie blick­te zu den Häu­sern hin­über und dreh­te ihm den Rücken zu. Auf der nied­ri­gen Stein­mau­er stand ein fla­cher Tel­ler mit dem an­ge­bis­se­nen Brot. Ihr lang her­ab­fal­len­des, blon­des Haar schim­mer­te wie Gold im Mond­licht.

Sie be­weg­te sich nicht. Sie hät­te ei­ne Mar­mor­sta­tue sein kön­nen. Noch nie zu­vor war sie Bob so schön er­schie­nen wie in die­sem Au­gen­blick. Er spür­te ein plötz­li­ches Ver­lan­gen da­nach, sie jetzt in sei­ne Ar­me zu schlie­ßen. Ab­rupt dreh­te er sich je­doch um und ging zur Tür. Das sanf­te Mond­licht wür­de gnä­dig sein, es wür­de sei­ne grau­en Haa­re und sei­ne fal­ti­ge Haut vor ih­ren Au­gen ver­ber­gen. Viel­leicht war das jetzt die letz­te Mög­lich­keit für ihn, noch ein­mal so wie frü­her mit ihr zu­sam­men­zu­sein. Sein plötz­li­ches Al­tern konn­te vom Mond­licht ver­schlei­ert wer­den. Viel­leicht wür­de sein Haar nur durch sei­nen Schein ver­sil­bert; die Fal­ten wür­den va­ge Schat­ten wer­den und sei­ne ge­beug­te Ge­stalt ei­ne Täu­schung.

Die Hand noch auf dem Tür­griff, zö­ger­te er plötz­lich. Die Tür war halb­ge­öff­net, und er konn­te das Wohn­zim­mer über­se­hen. Ir­gend­wie fiel ihm auf, daß et­was fehl­te. Der Raum schi­en lee­rer als sonst zu sein.

Das Te­le­fon! Es war nicht mehr an sei­nem ge­wohn­ten Platz. Die Schnur führ­te zur Ter­ras­se. Va­le­rie hat­te das Te­le­fon mit nach drau­ßen ge­nom­men, um an­zu­ru­fen. Wen an­zu­ru­fen?

Lei­se schloß Bob die Tür wie­der und kehr­te ins Bett zu­rück. Bis zum Kinn zog er die De­cken hoch. Auf dem Nacht­schränk­chen stand das An­schluß­te­le­fon. Er nahm den Hö­rer vor­sich­tig ab und lausch­te. Das Frei­zei­chen er­tön­te. Be­hut­sam leg­te er den Hö­rer zu­rück. Er war­te­te.

Als er das lei­se Kli­cken im In­nern des Ap­pa­ra­tes hör­te, wuß­te er, daß Va­le­rie drau­ßen auf der Ve­ran­da den Hö­rer ab­ge­nom­men hat­te. Schon woll­te er nach sei­nem Hö­rer grei­fen, da fiel ihm ein, daß er das jetzt noch nicht tun durf­te. Erst muß­te die Ver­bin­dung her­ge­stellt sein. Er zähl­te lang­sam bis zehn, hielt die Ga­bel mit ei­nem Fin­ger fest und nahm den Hö­rer ab. Dann erst ließ er die Ga­bel Mil­li­me­ter für Mil­li­me­ter los.

Es summ­te ent­fernt. Dann ein Knacken und die Stim­me ei­nes Man­nes: »Hal­lo.«

»Mar­ty«, sag­te die ru­hi­ge Stim­me sei­ner Frau. »Hier ist Val.«

»Val?« er­wi­der­te der Mann. »Val Mor­ri­son?«

Bob fühl­te einen Stich in der Herz­ge­gend. Mor­ri­son war Va­le­ries bei­na­he ver­ges­se­ner Mäd­chen­na­me. Plötz­lich stand Schweiß auf sei­ner Stirn, und er be­deck­te das Mund­stück des Hö­rers mit der Hand. Atem­los lausch­te er.

»Du hast mich doch wohl nicht für tot ge­hal­ten?« lach­te Va­le­rie.

»Du warst so schnell von der Par­ty ver­schwun­den da­mals …«

Par­ty? Da­mals? Bob dach­te nach, und ihm fiel ein, daß er in der ver­gan­ge­nen Wo­che ge­schäft­lich un­ter­wegs ge­we­sen war. Er hat­te aus­wärts ge­schla­fen und spät am Abend Val an­ge­ru­fen. Nie­mand hat­te sich ge­mel­det. Am an­de­ren Tag hat­te sie ihm er­klärt, sie hät­te ei­ne Schlaf­ta­blet­te ge­nom­men und das Te­le­fon nicht ge­hört. Es war die ein­zi­ge Nacht, in der sie nicht zu Hau­se ge­we­sen sein konn­te. We­nigs­tens nahm er das an. Er lausch­te wei­ter auf die Stim­men.

Die Wor­te ka­men ihm ver­traut vor. So et­wa hat­te er mit Val ge­spro­chen, be­vor sie ver­hei­ra­tet wa­ren. Aus sei­nem Un­ter­be­wußt­sein stie­gen Er­in­ne­run­gen hoch, die plötz­lich einen Sinn be­ka­men. Wie oft hat­te sie Ver­ab­re­dun­gen nicht ein­ge­hal­ten oder war ein­fach da­von­ge­lau­fen? Nie hat­te er et­was über ih­re Ver­gan­gen­heit er­fah­ren, sie war al­len sol­chen Fra­gen aus­ge­wi­chen oder hat­te ge­schwie­gen. Auch die­ser Mar­ty wuß­te nichts von ihr, kann­te ih­re Adres­se nicht und hat­te kei­ne Ah­nung da­von, daß sie ver­hei­ra­tet war.

Hat­ten die­se Sinn­lo­sig­kei­ten doch einen Sinn? Bob run­zel­te die Stirn. Wel­chen Sinn wohl? Was steck­te da­hin­ter? Was soll­te das al­les be­deu­ten?

Es fiel Bob schwer, einen ver­nünf­ti­gen Ge­dan­ken zu fas­sen. Er hat­te plötz­lich Angst, ganz schreck­li­che Angst. Am liebs­ten wä­re er ein­fach da­von­ge­lau­fen, weg von Va­le­rie, die ihm un­heim­lich ge­wor­den war, oh­ne daß er hät­te sa­gen kön­nen, warum. Sie war jung und schön und le­bens­froh. Und er muß­te weg von ihr, so­lan­ge er noch den­ken konn­te.

Sei­ne Hand zit­ter­te, als er den Hö­rer vom Ohr weg­nahm, aber er wag­te es nicht, ihn auf die Ga­bel zu le­gen. Das Ge­räusch konn­te ihn ver­ra­ten. Er leg­te ihn un­ter das Kopf­kis­sen und glitt vor­sich­tig aus dem Bett. Sei­ne Bei­ne schmerz­ten, und er hum­pel­te bis zum Stuhl, auf dem sei­ne Klei­der la­gen.

Er muß­te den Gür­tel en­ger schnal­len, und der Kra­gen war viel zu weit ge­wor­den. Er­zog den Kno­ten des Bin­ders so fest an, bis das Hemd saß. Das Haar fiel ihm in die Stirn, und im Mond­licht konn­te Bob er­ken­nen, daß es schnee­weiß ge­wor­den war. Die Hand, mit der er es zu­rück­strich, war alt und ner­vig; blaue Adern durch­zo­gen ih­ren Rücken. Er konn­te sich nicht mehr bücken, um die Schnür­rie­men der Schu­he zu rich­ten. Ihm war plötz­lich übel.

Er at­me­te schwer, und plötz­lich fiel ihm auf, daß sei­ne Sicht sich trüb­te. Das Au­gen­licht ließ ra­pi­de nach. Nur mit Mü­he fand er die Tür und hielt sich am Griff fest, bis der Schwin­del­an­fall vor­über war. Vor­sich­tig öff­ne­te er dann die Tür und stol­per­te ins Wohn­zim­mer. Sein ers­ter Blick galt der Ve­ran­da. Wie ge­bannt blieb er ste­hen. Die Furcht sprang ihn an wie ein wil­des Tier.

Ge­gen das Mond­licht zeich­ne­te sich die Sil­hou­et­te Va­le­ries deut­lich ab. Sie stand in der ge­öff­ne­ten Tür, das Ge­sicht dun­kel und nicht zu er­ken­nen; um ih­ren Kopf er­strahl­te die gol­de­ne Au­reo­le des Haa­res. Sie sah aus wie ei­ne an­ti­ke Ra­che­göt­tin.

»Na­nu, Bob«, sag­te sie und kam lang­sam auf ihn zu. »Fühlst du dich wie­der bes­ser?«

»Ja – das heißt nein, mir ist schwin­de­lig.« Pa­nik er­griff ihn. »Ich woll­te nur fri­sche Luft schöp­fen, viel­leicht ein Spa­zier­gang.« Sei­ne Stim­me klang brü­chig. Es war nicht mehr die Stim­me, mit der Bob ges­tern noch ge­spro­chen hatte. »Ja, ein klei­ner Spa­zier­gang wür­de mir viel­leicht aus­ge­spro­chen gut­tun.«

»Ich brin­ge dich auf die Ter­ras­se. Es ist ei­ne wun­der­ba­re Nacht heu­te.« Sie trat zu ihm und nahm sei­nen Arm. Er sah, wie sie lä­chel­te – und auf ihn her­ab blick­te.

Er hät­te nie ge­glaubt, daß Kno­chen so schnell aus­trock­nen kön­nen. Er war klei­ner ge­wor­den. Sein An­zug schlot­ter­te am Kör­per. Er spür­te Va­le­rie, und wo ihr Fleisch das sei­ne be­rühr­te, brann­te es wie Feu­er. Ihr Par­füm roch stark und be­täu­bend. Er ver­such­te, sich zu weh­ren, aber er hat­te kei­ne Kraft mehr. Wil­len­los ließ er sich auf die Ve­ran­da füh­ren. Er stam­mel­te ein paar un­ar­ti­ku­lier­te Lau­te, und der Spei­chel tropf­te aus sei­nem Mund, fiel auf den Rockaufschlag und zu Bo­den. Er konn­te kaum noch se­hen.

Va­le­rie brach­te ihn zu ei­nem Stuhl und war­te­te, bis er sich ge­setzt hat­te. Jetzt konn­te er sie wie­der se­hen, denn das Mond­licht war hell und un­barm­her­zig.

»Du bist nur mü­de«, sag­te sie. »Ru­he dich aus.«

Die Mat­tig­keit über­flu­te­te ihn wie ei­ne Wo­ge. Sie spül­te über ihn hin­weg und drang bis in das Mark sei­ner Kno­chen. Ihm war übel, und er fühl­te sich alt und ver­braucht. Das Mond­licht schmerz­te in den Au­gen. Das Le­ben er­schi­en ihm sinn­los und wie ei­ne Last. Mit letz­ter Kraft raff­te er sich auf und sah in das Ge­sicht sei­ner Frau. Es war das Ge­sicht ei­nes an­mu­ti­gen, hüb­schen Mäd­chens von kaum zehn Jah­ren.

Ein letz­ter Fun­ke Le­bens­wil­le fla­cker­te in ihm auf. Er be­weg­te sei­ne sprö­den Lip­pen und krächz­te müh­sam:

»Wer bist du? Was bist du …?«

Sie stand da, ein­gehüllt vom Sil­ber des Mond­lichts, die Ar­me auf der Brust ver­schränkt, und sah ihn an. Kalt und er­bar­mungs­los lag ihr Blick auf ihm. Dann sag­te sie:

»Hun­ger und Gier nach Le­ben er­fül­len mich, aber ich ha­be kein ei­ge­nes Le­ben – ich kann es nur an­de­ren weg­neh­men. Ich und an­de­re, die wie ich sind. Wir be­sit­zen das ge­hei­me Buch des Le­bens, in dem die Schick­sa­le al­ler Men­schen auf­ge­zeich­net sind.« Ih­re Stim­me klang geis­ter­haft. Sie klang aber auch er­schöpft und mü­de. »Um so et­was wie le­ben zu kön­nen, müs­sen wir an­de­ren Men­schen die Zu­kunft rau­ben, ih­nen die Jah­re steh­len. Du wä­rest acht­zig Jah­re alt ge­wor­den, Bob.«

Sie setz­te sich auf die Stein­mau­er der Ter­ras­se und ließ ihn nicht aus den Au­gen. Bob ver­hielt sich ganz ru­hig und be­ob­ach­te­te sie. Lei­se frag­te er:

»Wie macht ihr es?«

Va­le­rie lä­chel­te.

»Als du mich zur Frau nahmst, ge­lob­test du, eins mit mir zu sein und dein Le­ben mit mir zu tei­len. Zu tei­len, Bob. Aber ich ha­be kein ei­ge­nes Le­ben, nur den Hun­ger und die Gier da­nach. Je­des­mal bei ei­ner Be­rüh­rung, bei ei­nem Kuß, bei ei­ner Um­ar­mung, über­haupt im­mer, wenn wir uns na­he wa­ren, saug­te ich dich aus, nahm dir ein Stück dei­ner Zu­kunft. Aber was sind fünf­zig oder sech­zig Jah­re ge­gen voll­kom­me­ne Lee­re? Wir konn­ten nicht tei­len, ich woll­te al­les. Dei­ne Jah­re ge­hö­ren nun mir; ich wer­de sie le­ben.«

Ihm wur­de schwarz vor den Au­gen. Aber sein Wil­le war stär­ker als die Furcht. Schmerz ras­te durch sei­nen Kör­per, als er auf die Fü­ße sprang. Sei­ne Hän­de um­klam­mer­ten die Stuhl­leh­nen und ga­ben ihm Halt.

»Nein, du kannst mir nicht mein Le­ben steh­len!«

Jetzt konn­te er Va­le­rie wie­der se­hen. Sie starr­te ihn an und schüt­tel­te den Kopf.

»Du kannst es nicht än­dern, Bob. Scho­ne dich jetzt, denn die An­stren­gung tut dir nicht gut. Ob du an Al­ters­schwä­che oder durch einen Un­fall stirbst, spielt kei­ne Rol­le mehr. Dei­ne Jah­re ge­hö­ren mir.«

Es wa­ren tau­send ver­schie­de­ne Ge­dan­ken, die in die­sem Au­gen­blick von ihm Be­sitz er­grif­fen. Er dach­te an die vie­len krän­keln­den Män­ner, de­ren Frau­en jung und ge­sund blie­ben, an die Tat­sa­che, daß die Le­bens­er­war­tung der Män­ner kür­zer als die der Frau­en war, und er ent­sann sich der An­ge­wohn­heit der Frau­en, stets ein Ge­heim­nis um ihr wah­res Al­ter zu ma­chen.

»Dä­mo­nen!« stieß er mit zit­tern­den Lip­pen her­vor. »Ihr seid al­le Dä­mo­nen!«

Er be­gann zu schrei­en und sank in die Knie. Der Schmerz zuck­te durch sei­ne Bei­ne, als sie ein­knick­ten und er lang am Bo­den lag, ge­nau vor Va­le­ries Fü­ßen. Sie saß im­mer noch auf der nied­ri­gen Stein­mau­er und sah auf ihn her­ab.

»Gna­de!« wis­per­te er mit ver­sa­gen­der Stim­me. »Val … bit­te …«

Sie lach­te spöt­tisch.

Es war die­ses La­chen, das den Rest sei­ner Le­bens­glut neu an­fach­te und ihm die Kraft gab, sich noch ein­mal auf­zu­rich­ten. Mit bei­den Hän­den griff er nach ih­ren Fü­ßen und hob sie an. Er igno­rier­te die furcht­ba­ren Schmer­zen im Rücken und rich­te­te sich auf, oh­ne Va­le­ries Fü­ße los­zu­las­sen. Er hör­te, wie sie ent­setzt auf­schrie, und dann wur­den ihm ih­re Fü­ße von ei­nem hef­ti­gen Ruck aus den Hän­den ge­ris­sen.

Va­le­ries Schrei kam plötz­lich aus wei­ter Fer­ne und riß jäh ab. Bob fiel kraft­los auf den Rücken. Er sah, daß der Platz, wo Va­le­rie ge­ses­sen hat­te, leer war. In dem Au­gen­blick, in dem sie un­ten auf der Stra­ße auf­schlug, fühl­te er ih­ren Schmerz. Ir­gend et­was in ihm zer­riß wie ein über­spann­ter Bo­gen, dann ver­lor er das Be­wußt­sein.

Als er ei­ne hal­be Stun­de spä­ter er­wach­te, war er kräf­tig ge­nug, um auf­zu­ste­hen. Sein An­zug paß­te ihm wie­der. Im Spie­gel der Gar­de­ro­be sah er, daß sei­ne Haa­re nicht mehr weiß wa­ren, und auch die Zahn­schmer­zen wa­ren ver­schwun­den. Noch nie hat­te er sich so wohl ge­fühlt.

Schnell glitt der Lift nach un­ten.

Drau­ßen auf der Stra­ße flu­te­te der Nacht­ver­kehr. Hier un­ten war es hel­ler als oben un­ter dem Dach des Hoch­hau­ses. Die Leucht­re­kla­men ver­dräng­ten den Mond und tauch­ten Stra­ße und Bür­ger­steig in ei­ne grel­le Licht­flut.

Bob such­te den zer­schmet­ter­ten Kör­per Va­le­ries, aber er fand ihn nicht. Er fand auch kei­ne Blut­spu­ren, son­dern nur ein Bün­del ver­schmutz­ter Klei­der. Es lag di­rekt in der Gos­se ne­ben ei­nem Gul­li.

Er bück­te sich.

Es wa­ren die Sa­chen, die Va­le­rie eben noch an­ge­habt hat­te.

Als er sich wie­der er­hob, streif­ten sei­ne Fü­ße den grau­en Staub der Gos­se. Er wir­bel­te auf und drang in sei­ne Na­se.

Er roch mod­rig und alt.

Sehr alt.