Die Geschichte vom schläfrigen
Tal
von
Washington Irving
Washington Irving (1783-1859) gilt als Vater der amerikanischen Literatur und als Begründer der amerikanischen Short-Story. Sein »Skizzenbuch« (1819/20) machte den in Nordamerika schon bekannten Schriftsteller auch in Europa berühmt. In der folgenden Geschichte daraus gestaltet er in seiner humoristisch-hintergründigen Manier eine alte amerikanische Volkssage.
Im Inneren einer der geräumigen Buchten, die sich am östlichen Ufer des Hudson gebildet haben, an jener Stelle, da sich der Fluß verbreitert, liegt ein kleiner ländlicher Hafen, der Greensburgh, aber auch Tarry Town genannt wird. Diesen Namen erhielt der Ort in früheren Zeiten, weil es die Männer an Markttagen nicht lassen konnten, sich ständig in den Schenken herumzutreiben. Nicht weit von diesem Dorf entfernt liegt ein kleines Tal zwischen hohen Bergen, das einer der stillsten Orte der ganzen Welt zu sein scheint. Ein kleiner Bach fließt hindurch, und das Wasser gibt ein einschläferndes Glucksen von sich. Ab und zu hört man den Ruf einer Wachtel oder das Picken eines Spechts, und dies sind beinahe die einzigen Laute, die diese eintönige Stille unterbrechen.
Die Ruhe des Ortes und der seltsame Charakter seiner Bewohner, die von holländischen Einwanderern abstammen, haben dieser abgelegenen Gegend den Namen »das schläfrige Tal« eingetragen. Ein schläfriges, träumerisches Wesen scheint auf dem ganzen Land zu liegen.
Einige Leute behaupten, der Ort sei von einem deutschen Doktor in den frühen Tagen der Kolonien behext worden, andere meinen, ein indianischer Häuptling habe dort Geisterbeschwörungen abgehalten. Jedenfalls ist es auch heute noch immer nicht recht geheuer in diesem Tal, und die Menschen, die dort wohnen, scheinen beständig im Traum umherzugehen. Sie glauben an Wunder und Erscheinungen, hören Musik und Geisterstimmen in der Luft, und der ganze Landstrich ist voller zwielichtigem Aberglauben, und man sagt, die Nachtmahr mit ihren neun Kindern zeige sich dort besonders gern.
Der wichtigste Geist aber, der hier umgeht, und dem gewissermaßen alle anderen Spukwesen Untertan sind, ist ein Reiter ohne Kopf. Man hält ihn für das Gespenst eines hessischen Kavalleristen, dem eine Kanonenkugel in irgendeiner Schlacht des Revolutionskrieges den Schädel zertrümmert hat. Man sieht ihn von Zeit zu Zeit, wie er rasch wie der Wind durch die Dunkelheit davonreitet. Er läßt sich nicht nur im Tal sehen, sondern taucht auch auf der nahegelegenen Landstraße auf und erscheint auch bei einer bestimmten Kirche, auf deren Friedhof nach glaubhaften Angaben der Leichnam des Reiters beerdigt wurde. Und es geht die Rede, das Gespenst reite des Nachts zum Schlachtfeld, um dort seinen Kopf zu suchen. Die Bewohner aber nennen es »den kopflosen Reiter aus dem schläfrigen Tal«.
In dieser spukhaften Gegend wohnte nun vor Zeiten ein Mann mit Namen Ichabod Crane, der es sich zur Aufgabe gesetzt hatte, die Kinder jenes Landstrichs zu unterrichten. Dieser Schullehrer war groß und sehr dürr, hatte lange Arme und Beine, und seine Hände ragten unförmig weit aus den Ärmeln seiner Jacke hervor. Seine Füße hätten als Schaufeln dienen können, und seine ganze Gestalt sah schlotternd und wie aus den Fugen geraten aus. Wenn man ihn an einem windigen Tag vom Abhang eines Berges herabsteigen sah und seine Kleider um ihn wehten und flatterten, hätte man ihn für das Gespenst der Hungersnot halten können, das auf die Erde steigt, oder für eine aus dem Kornfeld entlaufene Vogelscheuche.
Als Lehrer war er nachsichtig und milde, und da es den Bewohnern dieser Gegend schwerfiel, sich überhaupt einen Schulmeister zu leisten, machte er sich bei den Pächtern nebenher noch bei der Feldarbeit nützlich, half beim Heumachen, flickte Zäune, ritt die Pferde zur Tränke, trieb das Vieh von der Weide heim und spaltete Holz für den Winter. Auch stellte man ihn gelegentlich als Kindermädchen an, was ihm viel von der gebieterischen Würde nahm, die sonst solchen Personen anhaftet. Zudem war er auch der Gesangslehrer in diesem Landstrich, und seine Stimme war am Sonntag im Kirchenchor aus einer Anzahl schöner Stimmen deutlich herauszuhören.
So schlug sich dieser edle Pädagoge mit Hängen und Würgen durch, und alle, die von den Mühen geistiger Arbeit nichts wußten, waren der Ansicht, er führe doch ein wunderbares bequemes Leben. Da er bei seinen mannigfaltigen Beschäftigungen viel herumkam, wurde er zu einer Art wandelnder Zeitung, die den Dorfklatsch von Haus zu Haus trug. Außerdem war er bei den Weibern wie bei den Männern hoch angesehen, hatte er doch mehrere Bücher ganz durchgelesen und kannte er sich doch in Cotton Mathers Geschichte der neuenglischen Zauberei gut aus.
Er liebte es, sich selbst das Gruseln einzureden. Sah er in der Nacht einen Leuchtkäfer, so hielt er ihn für eine verzauberte Seele, erblickte er einen besonders großen Käfer, der wild mit den Flügeln um sich schlug, so war es für Ichabod klar, daß der arme Kerl von einer Hexe besprochen worden sei. All solche Wahrnehmungen genoß er halb ängstlich, halb mit freudiger Erregung darüber, dem Unheimlichen nahe zu sein.
Schauerliches Vergnügen bereitete es ihm auch, an langen Winterabenden bei den alten Holländerfrauen in den Spinnstuben zu sitzen und ihre seltsamen Erzählungen von Gespenstern und Kobolden, von verhexten Feldern, Bächen und Häusern und besonders von dem kopflosen Reiter anzuhören.
Dagegen wußte er sie mit Anekdoten von Hexerei, von schrecklichen Zeichen und seltsamen Erscheinungen und Tönen in der Luft zu unterhalten und jagte ihnen Schrecken ein, indem er ihnen von Kometen und Sternschnuppen berichtete und sie mit der Tatsache vertraut machte, daß sich die Welt ganz und gar drehe und sie alle die Hälfte ihrer Zeit auf dem Kopf stünden.
Aber wie angenehm dies auch war, wenn man in einer warmen Stube, in die sich kein Gespenst hereinwagte, davon berichtete – es gab den Heimweg. Da lagerten furchtbare Gestalten und Schatten am Wegrand. Mit argwöhnischem Blick sah er auf jeden zitternden Lichtstrahl, der aus irgendeinem fernen Fenster auf die weiten Felder fiel. Ein verschneiter Strauch barg gewiß ein Ungetüm. Und fuhr ein Windstoß heulend durch den Wald, so sah er sich zu wilder Verzweiflung getrieben, denn er war sich fast sicher, daß das Geräusch von dem Reiter ohne Kopf herrührte, der wieder einmal nach dem Schlachtfeld unterwegs war, um seinen Schädel zu suchen.
All dies war jedoch nur dem bösen Geist der Finsternis zuzuschreiben, der sich in der Nacht bewegt und die Phantome losläßt. Und wenn er auch schon manch Gespenst gesehen hatte und oft auf seinen Wanderungen vom Satan heimgesucht worden war, so vermochte er sich doch im tiefsten Schrecken immer damit zu trösten, daß dies alles bei Tagesanbruch ein Ende habe. So wäre der gute Mann trotz der nächtlichen Erscheinungen des Satans und seines Gefolges glücklich und zufrieden gewesen, wäre nicht sein Weg von einem Wesen gekreuzt worden, das den Sterblichen mehr Kummer und Verdruß bereiten kann, als alle Gespenster, Kobolde und das ganze Hexenvolk zusammen, nämlich – ein Mädchen.
Unter den Gesangsschülern, die sich an einem Abend der Woche versammelten, um Unterricht in Psalmensingen zu nehmen, befand sich eine gewisse Katharina van Tassel, die Tochter und das einzige Kind eines wohlhabenden holländischen Pächters.
Sie war schön, rundlich wie ein Rebhuhn und reif, weich und rotwangig wie einer von den Pfirsichen ihres Vaters. Da aber ihr Vater einer der reichsten Pächter weit und breit war, wurde sie nicht nur wegen ihrer äußeren Reize, sondern auch wegen ihrer großen Mitgift von den Burschen der Gegend umschwärmt. In dieses Mädchen also verliebte sich der Schulmeister Ichabod, und auch bei ihm spielte die Aussicht, auf diesem Umweg den prächtigen Besitz ihres Vaters zu erben, keine geringe Rolle.
Er mußte jedoch feststellen, daß er außer einer Anzahl von Schwärmern, die sich wenig Hoffnung auf die Gunst des Mädchens machen konnten, sehr wohl einen ernstzunehmenden Rivalen besaß, dessen Art und Wesen es eben bewirkt hatten, daß die anderen Burschen mehr oder minder freiwillig zurückgetreten waren und dem Mädchen nur noch aus der Ferne schöne Augen machten. Der Bursche hieß Abraham, wurde aber Brom van Brunt genannt, und das ganze Land sprach von seinen Taten. Er war breitschultrig und sehnig, trug kurzes krauses schwarzes Haar und hatte ein grobes, aber nicht unschönes Gesicht, in dem sich Schalk und Hochmut mischten. Wegen seiner herkulischen Taten und seiner großen Kraft hatte er den Spottnamen Brom Bones, das heißt »Knochen-Brom«, erhalten. Er war ein guter Reiter, und mit drei oder vier lustigen Kumpanen, die ihn als Vorbild betrachteten, ritt er oft bei kaltem Wetter in einer Pelzmütze mit langem Fuchsschwanz über Land. Zuweilen hörte man dann seine Schar um Mitternacht mit großem Geschrei und Hussa wie ein Trupp Kosaken an den Häusern vorbeisprengen. Die alten Frauen fuhren im Schlaf hoch und murmelten: Das ist wieder Brom Bones mit seiner Bande. Bei allen tollen Streichen und bei jeder Schlägerei war er dabei und hatte sich so überall bekannt gemacht.
Dieser tapfere Held hatte seit einiger Zeit die schöne Katharina zum Gegenstand seiner recht plumpen Zärtlichkeiten ausersehen, die, wenngleich sie etwas von den Tapsigkeiten eines Bären hatten, wie man sich erzählte, auf das Mädchen nicht ganz ohne Eindruck geblieben waren. Bones begann nun, Ichabod allerlei Streiche zu spielen. Mit seiner Reiterschar erschien er bei der Singschule und verstopfte die Schornsteine, so daß der arme Schulmeister schon vermutete, Hexen seien am Werk. Auch ließ Brom keine Gelegenheit verstreichen, Ichabod in Gegenwart des Mädchens lächerlich zu machen. Er besaß einen Hund, den er zum Jaulen und Winseln abrichtete, um ihn dann in die Singschule einzuschmuggeln, wo er Ichabods Gesänge in schaurigster Weise parodierte.
So ging die Sache eine Zeitlang hin, ohne daß es zwischen den beiden Rivalen zu einer Entscheidung gekommen wäre, bis Ichabod an einem schönen Herbstnachmittag in seinem Schulhaus den Besuch eines Negers empfing, der ihm eine Einladung zu einem Festessen überbrachte, das noch am selben Abend im Hause des Mynheer van Tassel stattfinden sollte. Ehe sich Ichabod noch nach näheren Einzelheiten erkundigen konnte, war der Bote auch schon wieder verschwunden, angetrieben von der Wichtigkeit und Eile seiner Mission. Der Lehrer gab seinen Schülern frei und machte sich dann mit besonderer Sorgfalt an die Toilette. Er zog seinen verschossenen schwarzen Anzug an, borgte sich von seinem Nachbarn dessen Pferd »Gunpowder«, was Schießpulver bedeutet, und schwang sich schließlich, angetan mit einem wehenden schwarzen Mantel, dessen Schöße fast bis zum Schweif des Tieres flatterten, auf die recht magere Mähre und ritt davon.
Es wurde Abend, bis Ichabod das Gehöft des Mynheer van Tassel erreichte. Dort waren die wohlhabenden Pächter der Nachbarschaft versammelt, aber auch Brom Bones war mit seinem Lieblingspferd »Gefahrenteufel« herbeigeritten, ein Tier voller Feuer und Teufeleien wie er selbst, das nur er regieren konnte. Man speiste feist und üppig, wie das bei den Holländern Brauch ist. Danach tanzte man, und dabei tat sich Ichabod recht hervor, wenngleich er in seinem alten Anzug eine ziemlich lächerliche Figur abgab. Doch davon merkte er nichts, hielt er doch die schöne Katharina in den Armen und durfte sie nach Herzenslust im Kreis herumschwenken, während sein Rivale Brom Bones, von wilder Eifersucht gequält, abseits in der Ecke saß und mit bösem Gesicht vor sich hinbrütete.
Als der Tanz zu Ende war, setzte sich der Schulmeister zu einer Gruppe vernünftigerer Leute, die mit dem alten van Tassel auf der Veranda saßen, über alte Zeiten redeten und lange Geschichten aus dem Krieg zum besten gaben. Schließlich kamen auch Geister- und Spukgeschichten zur Sprache. Von Leichenzügen, Trauergeschrei und den Klagen der Nachtalben wurde erzählt, die man im schläfrigen Tal vernommen haben wollte. Man sprach auch von einer weißen Frau, die am Rabenfelsen in eben diesem Tal umginge und die man oft in Winternächten vor einem Sturm wehklagen hören könne, denn sie war dort im Schnee umgekommen. Die meisten Geschichten kreisten jedoch um das Lieblingsgespenst des schläfrigen Tales, den kopflosen Reiter, von dem man erst kürzlich des öfteren gehört hatte, er ziehe wieder durch die Gegend und binde bei Nacht sein Pferd an den Gräbern des Friedhofes an.
Der Friedhof liegt an einer Kirche, und dieser Platz scheint schon immer ein Lieblingsort unseliger Geister gewesen zu sein. Die Kirche steht auf einem Hügel, von Akazien und hohen Ulmen umgeben, und dazwischen schimmern ihre weißgetünchten Mauern hervor. Ein Abhang führt von hier zu einer Wasserfläche, die von großen Bäumen umstanden ist, und zwischen ihnen hindurch kann man die blauen Hügel des Hudson sehen. Wenn man den mit hohem Gras bewachsenen Kirchhof betrachtet, so sollte man glauben, daß wenigstens hier die Toten ruhig schlummern. Auf der anderen Seite der Kirche aber zieht sich ein großes waldiges Tal hin, durch das zwischen Felsen und umgestürzten Baumstämmen ein Bach tost. Über eine tiefe schwarze Stelle führt eine Holzbrücke. Der Weg zu ihr hin und die Brücke selbst sind von überhängenden Weiden dicht beschattet. Dies war der Lieblingsaufenthalt des kopflosen Reiters, und der Ort, wo man ihn am häufigsten treffen konnte. Die Geschichte vom alten Bouwer, einem Mann, der selbst hartnäckig die Existenz von Geistern bestritt, wurde erzählt: wie er dem Reiter begegnete, als dieser von einem Streifzug ins schläfrige Tal zurückkehrte, wie er gezwungen wurde, sich hinter ihm aufzusetzen, wie sie über Stock und Stein, über Hügel und durch Morast galoppiert seien, bis sie an die Brücke kamen, wo sich der Reiter plötzlich in ein Gerippe verwandelte, den alten Bouwer in den Bach warf und unter Donnerschlag über die Baumwipfel davonritt.
Hier aber mischte sich Brom Bones ein. Er meinte, der galoppierende Hesse sei ein durchtriebener Gauner, und behauptete, der mitternächtliche Reiter habe ihn überrascht, als er aus dem benachbarten Dorf Sing-Sing zurückkehrte, er habe ihm vorgeschlagen, mit ihm um die Wette zu reiten. Ein Glas Punsch für den, der gewinnen wird! Er, Brom, habe dann gewonnen und auf »Gefahrenteufel« das Geisterpferd weit hinter sich gelassen, als sie aber an die Kirchenbrücke gekommen seien, wäre der Reiter ohne Kopf davongeritten und in einer Feuerflamme verschwunden.
All diese Geschichten, vorgetragen in einem murmelnden, gedämpften Tonfall, dazu im Dunkeln, das nur vom Aufglimmen einer Pfeife ein wenig erhellt wurde, prägten sich bei Ichabod tief ein, und auch er selbst steuerte nun zu der Unterhaltung noch einige unheimliche Begebenheiten bei.
Die Gesellschaft brach nun langsam auf. Einer nach dem anderen fuhr mit seinem Wagen ab. Die jungen Mädchen stiegen zu den Burschen aufs Pferd und ließen sich von ihnen heimbringen. Nur Ichabod zögerte noch, denn er wollte mit Katharina ein Gespräch unter vier Augen führen. Dazu kam es auch, aber wie diese Unterhaltung vonstatten ging, davon weiß der Verfasser dieses Berichts nichts zu sagen, denn er war nicht dabei. Sicher ist, daß Ichabod traurig und niedergeschlagen den Schauplatz des Festes verließ. Wahrscheinlich war ihm klargeworden, daß das Mädchen ihn den ganzen Abend nur begünstigt hatte, um ihren anderen Verehrer aufzustacheln.
Die Geisterstunde hatte begonnen, als sich Ichabod auf seinem Klepper auf den Heimweg machte. Die Stunde war so trüb wie sein Sinn. Weit unten lag die neblige Wasserfläche des Tappan Zee, ab und zu sah er den Mast eines Bootes, das am Ufer über Nacht festgemacht hatte. Auch das Bellen eines Kettenhundes klang von Zeit zu Zeit durch die nächtliche Stille. Kein Anzeichen von Leben zeigte sich in der unmittelbaren Nähe seines Weges, es sei denn man wollte das schwermütige Zirpen der Grillen oder das Quaken eines Frosches aus einem nahen Morast dafür nehmen.
Alle Geistergeschichten kamen Ichabod bei seinem Ritt wieder in den Sinn, und er bekam Angst. Die Nacht wurde dunkler und dunkler. Die Sterne schienen immer tiefer zu fallen. Nie hatte er sich so verlassen und unglücklich gefühlt. Und nun näherte er sich einer Gegend, in der gleich mehrere Gespenstergeschichten sich zugetragen hatten. An dem großen Tulpenbaum, der allgemein Major Andres Baum genannt wurde, glaubte er etwas Weißes zu erkennen, das in der Mitte des Stammes hing. Als er genauer hinschaute, sah er, daß es ein Fleck war, an dem der Blitz die Rinde versengt hatte. Doch nun vernahm er ein Stöhnen. Seine Zähne klapperten, aber das Geräusch rührte nur von zwei Ästen her, die sich aneinander rieben.
Ungefähr zweihundert Meter hinter dem Baum kreuzte ein kleiner Bach den Weg und floß in ein sumpfiges, dicht bewachsenes Tal, das man »Wileys Moor« nannte. Auch hier sollte es Gespenster geben.
Sein Herz begann zu klopfen. Er nahm allen Mut zusammen, gab dem Pferd ein halbes Dutzend Fußtritte und versuchte rasch über die Brücke zu kommen. Aber statt vorwärts zu laufen, machte das widerspenstige Vieh eine Bewegung nach der Seite und rannte gegen das Geländer. Diese Verzögerung ließ Ichabods Angst wachsen; er riß die Zügel nach der anderen Seite und stieß das Tier mit dem Fuß; alles war vergebens; der Gaul ging zwar vorwärts, aber er geriet nun am Ufer auf der anderen Seite des Weges in ein Brombeer- und Holundergesträuch.
Eben in diesem Augenblick hörten Ichabods feine Ohren im Morast an der Brücke Schritte. Im dunklen Schatten des Wäldchens dort erblickte er etwas Riesiges, Unförmiges, das schwarz aufragte. Es bewegte sich nicht, sondern schien im Dunkeln hinzukauern wie ein riesiges Ungeheuer, das einem Reisenden an die Kehle fahren will. Die Haare sträubten sich dem erschreckten Schulmeister. Er faßte sein letztes Quentlein Mut zusammen und fragte stotternd: »Wer bist du?« Er erhielt keine Antwort und wiederholte die Frage mit zitternder Stimme. Noch immer kam keine Antwort. Und wieder drosch er auf sein Pferd ein, schloß die Augen und begann eine Psalmenmelodie zu summen. In diesem Moment setzte sich der dunkle Gegenstand in Bewegung und stand plötzlich mitten auf dem Weg. Obwohl es sehr dunkel war, konnte man nun die Gestalt des Unbekannten einigermaßen erkennen. Er schien ein Reiter von gewaltiger Größe auf einem schwarzen Roß von riesigem Wuchs. Er machte keine Anstalten, ihn zu belästigen oder sich zu nähern, sondern blieb in einiger Entfernung auf der Wegseite stehen. Ichabod, der der Erzählung Brom Bones vom kopflosen Reiter gedachte, trieb jetzt sein Pferd an, in der Hoffnung, die Erscheinung hinter sich zu lassen. Aber auch der Fremde trabte an, und wie immer Ichabod ritt, schnell oder langsam, der Fremde blieb bei ihm. Der Schulmeister war von Entsetzen gelähmt, als er bemerkte, daß der Kopf des Fremden, der auf der Schulter hätte sitzen sollen, auf dem Sattelknopf lag. Sein Entsetzen steigerte sich zur Verzweiflung, er ließ einen Hagel von Schlägen auf sein armes Pferd niedergehen, das auch tatsächlich nun sehr rasch lief – aber das Gespenst sprengte so schnell dahin wie er. So jagte er durch dick und dünn davon. Steine flogen auf, Funken stoben. Ichabods dünnes Gewand flatterte.
Sie kamen nun in das schläfrige Tal, und da bemerkte Ichabod, daß sich sein Sattel, oder vielmehr der Sattel seines Nachbarn Hans van Ripper, den ihm jener mit dem Pferd geborgt hatte, zu lockern begann. Er versuchte das Ding festzuhalten, aber es war unmöglich, denn das reitende Gespenst war ihm immer noch dicht auf den Fersen, und er hatte alle Mühe, seinen Klepper anzuspornen. So fiel der Sattel zur Erde.
Eine Lichtung im Wald erweckte bei Ichabod neue Hoffnung. Die Kirchenbrücke konnte nun nicht mehr fern sein. Er sah tatsächlich nun auch die Mauern der Kirche zwischen den Bäumen und erinnerte sich daran, daß Brom Bones geisterhafter Rivale an dieser Stelle verschwunden war. Wenn ich nur diese Brücke erreiche, dachte Ichabod, dann bin ich in Sicherheit. Aber gerade jetzt hörte er das schwarze Pferd hinter sich schnauben, er glaubte schon, dessen heißen Atem zu spüren. Noch ein Fußtritt in die Rippen seines Kleppers, und dieser sprang auf die dröhnenden Bretter der Brücke und erreichte das andere Ufer.
Von dort aus warf Ichabod einen Blick zurück, um zu sehen, ob sein Verfolger tatsächlich in einer Wolke von Feuer und Schwefel verschwinde. Dem war aber nicht so. Das Gespenst erhob sich vielmehr in den Steigbügeln und schleuderte seinen Kopf Ichabod nach.
Der Schädel traf mit einem ungeheuren Krach den Schulmeister an der Stirn, während der gespenstige Reiter wie ein Wirbelsturm davonpreschte. Am nächsten Morgen wurde das alte Pferd ohne Sattel vor der Tür seines Herrn gefunden. Von Ichabod fehlte jede Spur. Doch entdeckte man an der Brücke den Hut des Verschwundenen und dicht daneben einen zertrümmerten Kürbis.
Als Ichabod auch in den nächsten Tagen nicht wieder auftauchte, gaben die Vorfälle dieser Nacht zu allerlei Geschwätz Anlaß. Die alten Weiber behaupteten, er sei von dem galoppierenden Hessen entführt worden. Brom Bones, der kurze Zeit nach Verschwinden seines Nebenbuhlers die blühende Katharina im Triumph zum Altar führte, setzte immer eine schalkhafte Miene auf, wenn Ichabods Geschichte erzählt wurde, und wenn von dem Kürbis die Rede war, den man an der Brücke gefunden, brach er stets in schallendes Gelächter aus, und hieraus wollen einige schließen, daß er von der ganzen Angelegenheit mehr wußte, als er zu sagen für gut befand.
Die alten Weiber im Dorf, die in solchen Dingen immer die besten Richter sind, behaupten jedoch bis auf den heutigen Tag, daß Ichabod auf übernatürliche Weise verschwunden sei, und es ist eine Lieblingsgeschichte, die in der Gegend häufig erzählt wird. Die Brücke flößt mehr denn je abergläubische Furcht ein. Das verlassene Schulhaus zerfiel bald, und man sagt, der Geist des unglücklichen Schulmeisters gehe dort um. Bauernknechte, die an stillen Sommerabenden nach Hause schlendern, meinen oft, eine Stimme in der Ferne zu hören, die in der verschwiegenen Einsamkeit des schläfrigen Tales eine schwermütige Psalmenmelodie singt.