Der Fall Chugoro
von
Laf­ca­dio Hearn

 

 

Laf­ca­dio Hearn (1850-1904) stamm­te aus Eng­land, wo er sich als Schritt­stel­ler be­reits einen Na­men ge­macht hat­te, be­vor er 1890 nach Ja­pan ging, ei­ne Ja­pa­ne­rin hei­ra­te­te und sich neu­tra­li­sie­ren ließ. Er lehr­te als Do­zent für eng­li­sche Li­te­ra­tur an der Uni­ver­si­tät To­kio. In vie­len Bü­chern ver­such­te er, sei­ne Wahl­hei­mat den Eu­ro­pä­ern na­he­zu­brin­gen. Die vor­lie­gen­de Er­zäh­lung aus dem Band »Ja­pa­ni­sche Geis­ter­ge­schich­ten« wur­de von Gu­stav Mey­rink über­setzt.

 

 

Vor lan­ger Zeit leb­te im Ko­is­hi-Ka­wa-Quar­tier von Ye­do ein Ha­ta­mo­to na­mens Su­zu­ki, des­sen Ya­shi­ki an der Sand­bank des Ye­do­ga­wa lag, nicht weit von der Brücke, die Na­ka­no-ha­shi heißt.

Un­ter den Sol­da­ten die­ses Su­zu­ki be­fand sich auch ein Ashi­ga­ru – ein Ge­frei­ter –, ein ge­wis­ser Chu­go­ro.

Chu­go­ro war ein hüb­scher Bur­sche, sehr lie­bens­wür­dig und an­stel­lig und un­ge­mein be­liebt bei sei­nen Ka­me­ra­den.

Vie­le Jah­re hin­durch blieb Chu­go­ro in den Diens­ten des Su­zu­ki und führ­te sich so gut auf, daß kein Ta­del an ihm haf­te­te.

End­lich ent­deck­ten die an­de­ren Ashi­ga­rus, daß Chu­go­ro die Ge­wohn­heit an­ge­nom­men hat­te, die Ya­shi­ki all­nächt­lich zu ver­las­sen, und zwar auf dem We­ge durch den Gar­ten, um erst knapp vor Ta­ges­grau­en zu­rück­zu­keh­ren.

An­fangs schwie­gen sie da­zu, da sich sol­ches selt­sa­me Un­ter­fan­gen nicht mit den vor­ge­schrie­be­nen Pflich­ten ver­trug, und nah­men an, ir­gend­ein Lie­bes­aben­teu­er ste­cke da­hin­ter.

Nach ei­ni­ger Zeit je­doch fing Chu­go­ro an, blaß und kränk­lich aus­zu­se­hen, und da sei­ne Ka­me­ra­den ei­ne ernst­li­che Tor­heit be­fürch­te­ten, be­schlos­sen sie, ihn aus­zu­fra­gen und ihm Vor­stel­lun­gen zu ma­chen.

Dement­spre­chend nahm ein äl­te­rer Ashi­ga­ru Chu­go­ro, als er sich eben wie­der heim­lich fort­schlei­chen woll­te, bei­sei­te und sag­te:

»Chu­go­ro, mein Jun­ge, wir wis­sen gar wohl, daß du je­de Nacht aus­gehst und bis zum frü­hen Mor­gen fort­bleibst! – Wir ha­ben auch be­merkt, daß du elend aus­siehst! Wir fürch­ten, du bist in schlech­te Ge­sell­schaft ge­ra­ten und un­ter­gräbst dei­ne Ge­sund­heit! – Wenn du uns nicht trif­ti­ge Grün­de für dein Be­neh­men an­gibst, müs­sen wir es als Pflicht an­se­hen, den Vor­fall dem Of­fi­zier zu mel­den. – Ob nun so oder so, da wir Ka­me­ra­den und Freun­de sind, ist es auf al­le Fäl­le nur recht und bil­lig, daß wir er­fah­ren, warum du nachts das Haus ver­läßt, trotz­dem das im Wi­der­spruch mit den dienst­li­chen Vor­schrif­ten steht.«

Chu­go­ro ge­riet bei die­sen Wor­ten gänz­lich au­ßer Fas­sung.

Nach kur­z­em Schwei­gen ging er sei­nem Ka­me­ra­den vor­an in den Gar­ten, und als sie au­ßer Hör­wei­te wa­ren, blieb Chu­go­ro ste­hen und sag­te:

»Jetzt will ich dir al­les er­zäh­len; aber ich muß dich bit­ten, strengs­tes Still­schwei­gen ge­gen­über je­der­mann zu be­wah­ren; wenn du wei­ter­er­zählst, was ich dir jetzt an­ver­trau­en wer­de, stür­zest du mich in un­sag­ba­res Un­glück!

Es war im Vor­früh­ling die­ses Jah­res, et­wa vor fünf Mo­na­ten, da ging ich das ers­te­mal des Nachts aus, und zwar we­gen ei­nes Lie­bes­aben­teu­ers. Ei­nes Abends näm­lich, als ich nach ei­nem Be­such bei mei­nen El­tern zur Ya­shi­ki zu­rück­kehr­te, sah ich ein Frau­en­zim­mer am Fluß­ufer nicht weit vom Haupt­tor ste­hen. Sie war wie ei­ne Per­son von Rang ge­klei­det, und ich wun­der­te mich nicht we­nig, daß ei­ne so fein ge­klei­de­te Frau al­lein dort ste­hen konn­te und noch da­zu zu so spä­ter Stun­de. Ich sag­te mir aber, daß ich des­we­gen noch kein Recht hät­te, sie an­zu­spre­chen, und ich woll­te ge­ra­de stumm an ihr vor­über­ge­hen, als sie einen Schritt vor­wärts mach­te und mich am Är­mel faß­te. Da­bei sah ich, daß sie sehr jung und schön war. ›Möch­test du nicht mit mir nur bis zur Brücke dort ge­hen?‹ frag­te sie mich. ›Ich ha­be dir et­was zu sa­gen!‹

Ih­re Stim­me war un­ge­mein weich und ein­schmei­chelnd, und da­bei lä­chel­te sie, wäh­rend sie sprach, und ih­rem Lä­cheln war schwer zu wi­der­ste­hen.

So ging ich denn mit ihr zur Brücke, und auf dem Weg er­zähl­te sie mir, sie hät­te mich oft ge­se­hen, wie ich in der Ya­shi­ki aus und ein ge­gan­gen sei, und sie ha­be ei­ne Vor­lie­be für mich ge­faßt. – ›Ich wün­sche dich zum Gat­ten zu ha­ben‹, sag­te sie. ›Wenn du mich lieb­ha­ben kannst, so wer­den wir ein­an­der sehr glück­lich ma­chen kön­nen.‹

Ich wuß­te zu­erst nicht, was ich ihr dar­auf ant­wor­ten soll­te; ge­dacht ha­be ich mir: Sie ist ent­zückend!

Als wir uns der Brücke nä­her­ten, faß­te sie mich wie­der am Är­mel und führ­te mich den Damm hin­un­ter zum Fluß­ufer. ›Komm mit mir hin­ein‹; flüs­ter­te sie und zog mich zum Was­ser hin. – Du weißt, Ka­me­rad, es ist dort sehr tief, und ich be­kam auf ein­mal Angst vor ihr und ver­such­te um­zu­keh­ren. Sie aber lä­chel­te nur, faß­te mich am Hand­ge­lenk und sag­te: ›Oh, fürch­te dich doch nicht vor mir!‹ Und wie sie mich so hielt, wur­de ich hilf­los wie ein Kind. Ich kam mir vor wie ein Mensch, der im Traum da­von­lau­fen will, aber plötz­lich we­der Hand noch Fü­ße re­gen kann. – Sie stieg in das tie­fe Was­ser und zog mich mit, und ich sah und hör­te und fühl­te nichts mehr, bis ich be­merk­te, daß ich ne­ben ihr durch Räu­me schritt, die ein großer Pa­last, voll von Licht, zu sein schie­nen. – Ich fühl­te we­der Näs­se noch Käl­te, al­les rings um mich war tro­cken, warm und herr­lich schön. Ich konn­te we­der be­grei­fen, wo ich mich be­fand, noch, wie ich über­haupt hier­her­ge­kom­men war.

Die Frau führ­te mich noch im­mer an der Hand, und wir gin­gen von ei­nem Saal durch den an­de­ren, durch vie­le, vie­le Zim­mer; al­le wa­ren leer, aber wun­der­schön – bis wir schließ­lich in einen Gas­traum mit tau­send Mat­ten ka­men. Vor ei­nem großen Al­ko­ven, am äu­ßers­ten En­de, brann­ten Lich­ter, und Kis­sen la­gen um­her wie für ein Fest, aber ich sah kei­ne Gäs­te.

Sie führ­te mich so­dann auf den Eh­ren­platz im Al­ko­ven, setz­te sich mir ge­gen­über und sag­te: ›Dies ist mein Heim. Glaubst du, du könn­test glück­lich mit mir wer­den?« – Und als sie mich so frag­te, lä­chel­te sie da­bei, und ich dach­te mir, daß ihr Lä­cheln schö­ner sei als ir­gend et­was in der Welt, und aus tiefs­tem Her­zen her­aus ant­wor­te­te ich: ›Ja …‹ Und im sel­ben Au­gen­blick er­in­ner­te ich mich an die Ge­schich­te von Ura­shi­ma, und der Ge­dan­ke kam mir, sie müs­se die Toch­ter ei­nes Got­tes sein; aber ich scheu­te mich, sie zu fra­gen. Gleich dar­auf ka­men Die­ne­rin­nen her­ein, brach­ten Reis­wein und vie­le Ge­rich­te und stell­ten sie vor uns auf.

Dann sag­te die Frau zu mir: ›Heu­te nacht soll un­se­re Braut­nacht sein, weil du mich lieb­hast, und dies ist un­ser Hoch­zeits­fest.‹

Und wir ge­lob­ten ein­an­der an für die Zeit von sie­ben Exis­ten­zen, und nach dem Ban­kett ge­lei­te­te man uns in ein Braut­ge­mach, das für uns be­rei­tet war. – Es war noch sehr früh am Mor­gen, da weck­te sie mich und sag­te: ›Ge­lieb­ter, du bist jetzt wirk­lich und wahr­haf­tig mein Gat­te, aber aus Grün­den, die ich dir nicht sa­gen kann und nach de­nen du mich auch nicht fra­gen darfst, ist es not­wen­dig, daß un­se­re Ehe ein Ge­heim­nis bleibt. Dich hier­zu­be­hal­ten, bis der Tag an­ge­bro­chen ist, wür­de uns bei­den das Le­ben kos­ten! Des­halb bit­te ich dich, sei nicht bö­se, daß ich dich jetzt zu­rück­schi­cken muß in das Haus dei­nes Herrn. Du kannst heu­te nacht wie­der zu mir kom­men und von da an je­de Nacht und im­mer um die­sel­be Stun­de, in der wir uns das ers­te­mal be­geg­net sind. War­te im­mer an der Brücke auf mich – und du wirst nie lan­ge zu war­ten brau­chen! – Hal­te aber fest im Ge­dächt­nis, daß vor al­len Din­gen un­se­re Ehe ge­heim­ge­hal­ten wer­den muß, denn sprichst du dar­über, so wer­den wir wahr­schein­lich für im­mer ge­trennt.«

Und ich ver­sprach ihr, ge­hor­sam zu sein in al­len Din­gen – ich muß­te an das Schick­sal Ura­shi­mas den­ken –, und sie ge­lei­te­te mich durch die vie­len Zim­mer – al­le leer und schön – zum Ein­gang zu­rück. Dort nahm sie mich wie­der beim Hand­ge­lenk, und plötz­lich wur­de al­les dun­kel vor mei­nen Au­gen, und ich wuß­te nichts mehr von mir, bis ich mich al­lein am Fluß­ufer ste­hend fand, dicht ne­ben der Brücke Na­ka­no-ha­shi. Als ich in die Ya­shi­ki zu­rück­ging, hat­ten die Tem­pel­glo­cken noch nicht zu läu­ten an­ge­fan­gen. – Abends ging ich wie­der zur Brücke – um die be­stimm­te Stun­de –, und sie war­te­te dort be­reits auf mich. – Wie­der wie das ers­te­mal zog sie mich in das tie­fe Was­ser und führ­te mich an den wun­der­sa­men Ort, wo wir un­se­re Braut­nacht ge­fei­ert hat­ten. – Und je­de Nacht seit­dem ha­be ich sie ge­trof­fen und bin den­sel­ben Weg mit ihr ge­gan­gen. – Auch heu­te nacht war­tet sie si­cher­lich auf mich, und lie­ber möch­te ich ster­ben, als ihr ei­ne Ent­täu­schung be­rei­ten, dar­um muß ich jetzt ge­hen.

Aber noch­mals laß dich bit­ten, Ka­me­rad, sag nie­mand auch nur ein Wort von dem, was ich dir an­ver­traut ha­be!«

Der al­te Ashi­ga­ru war eben­so er­staunt wie be­un­ru­higt durch die­se Er­zäh­lung.

In­stink­tiv fühl­te er, daß Chu­go­ro ihm die Wahr­heit ge­sagt hat­te; aber die­se Wahr­heit er­öff­ne­te bö­se Aus­bli­cke. Mög­li­cher­wei­se war das Er­leb­nis Chu­go­ros nichts als Sin­nes­täu­schung, viel­leicht aber ei­ne von fins­te­ren Mäch­ten zu ver­derb­li­chen Zwe­cken her­bei­ge­führ­te Sin­nes­täu­schung!

War der jun­ge Mensch nun tat­säch­lich be­hext oder nicht, je­den­falls war er zu be­mit­lei­den und nicht zu ta­deln; Ge­walt an­zu­wen­den war kei­nes­falls am Plat­ze – des­halb er­wi­der­te der Ashi­ga­ru freund­lich:

»Ich wer­de nie­mals über das spre­chen, was du mir an­ver­traut hast, nie­mals, vor­aus­ge­setzt, daß du ge­sund und am Le­ben bleibst. Geh und su­che das Weib auf, aber – hü­te dich vor ihr! Ich fürch­te, ein bö­ser Geist hat dich in sei­ne Net­ze ge­lockt.« Chu­go­ro lä­chel­te nur über die­se War­nung sei­nes al­ten Ka­me­ra­den und eil­te da­von.

Ei­ni­ge Stun­den spä­ter kehr­te er mit selt­sam ver­stör­ter Mie­ne in die Ya­shi­ki zu­rück.

»Hast du sie ge­trof­fen?« frag­te flüs­ternd der Ashi­ga­ru.

»Nein«, er­wi­der­te Chu­go­ro, »sie war nicht dort. Das ers­te­mal, daß sie nicht ge­kom­men ist! Ich glau­be, sie kommt nie mehr wie­der! Ich hät­te dir die Sa­che nicht er­zäh­len sol­len! – Narr, der ich war, mein Ver­spre­chen nicht zu hal­ten …«

Der Ashi­ga­ru ver­such­te ver­ge­bens, ihn zu trös­ten.

Chu­go­ro leg­te sich nie­der und sprach kein Wort mehr. Er zit­ter­te am gan­zen Lei­be wie von Käl­te durch­schau­ert.

Als die Tem­pel­glo­cken die ers­te Mor­gen­stun­de ver­kün­de­ten, ver­such­te Chu­go­ro auf­zu­ste­hen, fiel aber be­wußt­los zu­rück.

Er war sicht­lich krank – tod­krank.

Ein chi­ne­si­scher Arzt wur­de ge­holt.

»Was ist das? Der Mann hat ja kein Blut mehr …«, rief er aus, als er Chu­go­ro sorg­fäl­tig un­ter­sucht hat­te. »Es ist nichts als Was­ser in sei­nen Adern! Da wird es schwer sein, ihn noch zu ret­ten. – Was für ei­ne bös­ar­ti­ge Sa­che mag das sein?«

Man ließ nichts un­ver­sucht, Chu­go­ro am Le­ben zu er­hal­ten, aber um­sonst.

Er starb, als die Son­ne un­ter­ging.

Da er­zähl­te der al­te Ashi­ga­ru sei­nen Ka­me­ra­den die gan­ze Ge­schich­te.

»Ah, hab’ ich mir’s doch ge­dacht!« rief der chi­ne­si­sche Arzt. »Kei­ne Macht der Welt hät­te ihn ret­ten kön­nen. Er ist nicht der ers­te, den sie um­ge­bracht hat!«

»Wer ist die­se ›sie‹ – oder was ist sie?« frag­te der Ashi­ga­ru. »Ein Fuchs­dä­mon?«

»Nein, sie spukt hier am Flus­se seit al­ters­grau­en Zei­ten. Sie liebt das Blut der jun­gen …«

»Al­so ein Schlan­gen­weib? Ein Dra­chen­weib?«

»Nein, nein! Wenn du sie bei Ta­ges­licht un­ter der Brücke sä­hest, so wür­dest du wohl glau­ben, ein ekel­haf­tes Ge­schöpf ge­se­hen zu ha­ben.«

»Aber was für ein Ge­schöpf?«

»Ganz ein­fach: ein Frosch – ein großer, scheuß­li­cher Frosch!«