Jeanettes Hände
von
Philip Latham
»Es wäre ein Irrtum, zu glauben, daß Hexen unweigerlich alt und häßlich sein müßten. Viele sind schöne junge Frauen; die meisten von ihnen sind verheiratet …«
Es erscheint angebracht, solch scheinbar überflüssige Binsenwahrheiten einer Erzählung voranzustellen, deren Protagonistin offiziell zur Staatshexe von Kalifornien ernannt wird. Philip Latham, ein Pseudonym für den prominenten amerikanischen Astronomen Robert S. Richardson, eröffnet dem Leser eine Zukunftsperspektive, in der das Okkulte wieder in den Rang einer Haupt- und Staatsaktion eingesetzt ist – was sich im privaten Bereich natürlich verheerend auswirkt.
Dagny saß im Bett, als Bob mit dem Frühstückstablett und der Zeitung heraufkam. Er hatte es sich angewöhnt, seiner Frau das Frühstück ans Bett zu servieren, als sie vor fünf Jahren kurz nach ihrer Hochzeit krank gewesen war, und er tat es noch jetzt einmal in der Woche. Es war kurz vor elf, aber die Archers standen sonntags nie früh auf. Dagny rieb sich noch blaß und verschlafen die Augen.
»Willst du gleich eine Tasse Kaffee?« fragte er.
»Ja, bitte.«
Bob hatte wie üblich Mühe, einen Platz für das Tablett zu finden. Er hatte nichts gegen Hautcremes, Lippenstifte, Kosmetiktücher, Nagelfeilen und andere Toilettenartikel einzuwenden, die auf dem Tisch vor dem Spiegel lagen. Solche Dinge erwartete man auf einem Toilettentisch zu sehen. Was ihn wütend machte, waren diese verdammten Hände.
Ursprünglich hatten die ›Hände‹ zu Jeanette gehört – einer Schaufensterpuppe in einer exklusiven Boutique drüben in Beverley Hills. Jeanettes Hände zählten zu Dagnys kostbarsten Besitztümern; sie waren die einzigen Körperteile der Puppe, die bei dem großen kalifornischen Erdbeben nicht beschädigt wurden, und die Besitzerin der Boutique, die mit Dagny gut befreundet war, hatte sie ihr als Andenken geschenkt. Die Hände sahen nicht nur echt aus, sondern fühlten sich auch echt an. Ihre Finger waren beweglich und bestanden aus einer Gummi-Glasfaser-Mischung, deren Zusammensetzung ein ängstlich gehütetes Firmengeheimnis des Herstellers war.
»Du kannst wohl auch keinen anderen Platz für die Hände finden, was?« erkundigte sich Bob, während er versuchte, das Tablett abzustellen.
»Ich verstehe nicht, warum du dich immer wieder über diese Hände aufregst«, murmelte Dagny.
»Sie stören mich eben …«
»Sie erteilen dir ihren symbolischen Segen«, sagte Dagny. »Das bedeutet, daß du dich im Stand der Gnade befindest.«
»Quatsch!«
»Ich verspreche dir, daß ich sie woanders hinstelle«, sagte Dagny lächelnd.
»Nicht mehr nötig«, wehrte Bob ab. »Ich hab’ jetzt schon genug Platz.«
Sie saßen einige Minuten lang schweigend nebeneinander, tranken Kaffee und lasen Zeitung. Den Schlagzeilen war zu entnehmen, daß dringend Sofortmaßnahmen ergriffen werden müßten, um die Welt vor dem Untergang zu bewahren.
Nachdem Bob hastig den Sportteil durchgeblättert hatte, warf er seine Zeitung aufs Fußende des Betts.
»Ende des Haushaltsjahrs. Diese Woche ist die Mitteilung vom Großen Weißen Vater in Washington gekommen. Wieder mal keine Gehaltserhöhung.«
Dagny studierte interessiert die Comics.
»Wir kommen schon irgendwie zurecht«, erklärte sie. »Ich hab’ gestern unser Horoskop gestellt. Unsere Zukunft sieht vielversprechend aus.«
Dagnys Beschäftigung mit Astrologie, Hexerei, Wahrsagerei und ähnlichem Unsinn hatte in der Zeit vor ihrer Ehe häufig zu Streit geführt. Heutzutage wird vieles toleriert: Ehen zwischen Negern und Weißen oder wilde Ehen rufen kaum noch ein Stirnrunzeln hervor. Aber ein Astronom, der eine Astrologin heiratet … nun, das geht doch etwas zu weit. Allmählich hatte Bob sich jedoch daran gewöhnt, Dagnys Interesse für das Okkulte mit jener resignierten Gelassenheit zu akzeptieren, mit der die meisten Ehemänner die kleinen Torheiten ihrer Frauen ertragen. In Bobs Fall war allerdings nur zu leicht einzusehen, warum er es aufgegeben hatte, Dagnys Glauben an das Übernatürliche erschüttern zu wollen. Seine Frau besaß andere Vorzüge, die ihn über solche Kleinigkeiten hinwegsehen ließen.
Dagny gab ihm ein Blatt aus der Times.
»Hier steht wieder etwas über deinen Freund Doktor Thornton.«
»Schon wieder!«
Das Foto zeigte einen Mann Anfang Vierzig mit markanten Zügen, der eine kurze Bruyerepfeife zwischen den Zähnen hielt. Er stand neben einem Meßgerät und betrachtete das Bild irgendeines Himmelskörpers.
»Er sieht gut aus, was?« meinte Dagny.
»Findest du?«
»Sehr!«
Bob schnaubte geringschätzig und las den dazugehörigen Artikel durch.
»Nur ein halbes Dutzend Fehler«, kommentierte er. »Der Fotograf hat ihn absichtlich etwas von unten aufgenommen, damit man nicht sieht, daß er eine kahle Stelle auf dem Kopf hat. Er ist zweiundvierzig, nicht neununddreißig. Und was er da hat, ist M33 in Triangulum, nicht M31 in Andromeda.«
»Doktor Thornton, der bekannte Astronom am weltberühmten Mount-Elsinore-Observatorium, wird im September nach London reisen, um die Goldmedaille der Königlichen Astronomischen Gesellschaft in Empfang zu nehmen. Diese Medaille ist eine der höchsten Auszeichnungen, die …«, las sie laut.
Bob schnaubte wieder.
»Das ist doch wohl auch der einzige Nutzen dieser Gesellschaften – daß sie Goldmedaillen verleihen.«
»Doktor Thornton hat in jahrelanger Forschungsarbeit nachgewiesen, daß das Universum in Wirklichkeit etwa zehnmal älter ist als bisher angenommen …«, fuhr sie fort.
»Manche Kollegen sind da aber ganz anderer Meinung!«
»Auch jemand, den ich kenne?«
»Zum Beispiel dein Mann.«
Dagny betrachtete aufmerksam Thorntons Bild.
»Nehmen wir einmal an, du hättest recht und er unrecht«, sagte sie nachdenklich. »Warum gibt die Königliche Gesellschaft ihre Goldmedaille dann nicht dir?«
»Das ist schwer zu erklären«, antwortete Bob nach einer Pause. »Bei solchen Dingen spielt die Persönlichkeit des Betreffenden eine größere Rolle, als man es für möglich halten würde. Thornton ist der energische, dominierende Typ. Die Leute lesen, was er veröffentlicht. Kein Mensch kümmert sich um mein Zeug. Er hat einfach Glück. Er benimmt sich immer so, als sei ein Mißerfolg ausgeschlossen. Ich fürchte stets Mißerfolge – und habe sie deshalb. Je weiter man sich von Thornton entfernt, desto größer ragt er auf. Man verehrt ihn aus der Ferne und haßt ihn aus der Nähe.«
»In welchem Punkt seid ihr verschiedener Meinung?« wollte Dagny wissen.
»Das ist eine schwierige Frage …«
»Gut, wenn das so streng geheim ist …«
Bob zögerte.
»Versprichst du mir, daß du keinem Menschen ein Wort davon erzählst?«
Dagny zuckte mit den Schultern. »Gut, ich versprech’s dir.«
»Paß auf, ich habe einen Teil von Thorntons Arbeiten überprüft, mit den gleichen Auswertungs- und Rechenmethoden, versteht sich. Und unsere Ergebnisse sind und bleiben unterschiedlich. Ich bringe beim besten Willen keine Übereinstimmung zustande.«
»Ihr Wissenschaftler seid euch doch nie einig.«
»Nicht hundertprozentig«, gab Bob zu. »Ich erwarte auch keine absolute Übereinstimmung. Aber in diesem Fall sind die üblichen Toleranzen weit überschritten.« Er senkte die Stimme. »Ich bin der Meinung, daß Thorntons Resultate frisiert sind – bewußt frisiert.«
»Frisiert?« Dagny runzelte die Stirn.
»Gerade genug verändert, daß sie besser aussehen als die seiner Konkurrenten. Solange er das größte Spiegelteleskop der Welt zur Verfügung hat, kann ihm nichts passieren. Wer sollte ihm etwas nachweisen können?«
Dagny nahm diese erstaunliche Mitteilung verhältnismäßig gefaßt auf.
»Liebster, ich dachte, du würdest mir erzählen, daß Thornton wirklich etwas verbrochen hat. Einen Bankraub oder einen Gemäldediebstahl. Aber was du da erzählst, betrifft schließlich nur das Universum.«
»Bewußte Irreführung ist für einen Wissenschaftler keine Kleinigkeit«, versicherte ihr Bob. »Aber ich kann ihm natürlich nichts nachweisen. Er hat die Ergebnisse so frisiert, daß die Kosmologen ganz aus dem Häuschen sind. Sie reden jetzt schon von ›Thorntons Universum‹ – daher die Goldmedaille.«
Dagny warf ihrem Mann einen nachdenklichen Blick zu. Dann kniff sie ihre blauen Augen zusammen.
»Weißt du, was ich glaube, Liebster?« fragte sie.
»Keine Ahnung, Schatz«, murmelte er.
»Du bist neidisch, glaube ich.«
»Ist es etwa ein Verbrechen, wenn ein Mann seine Arbeit anerkannt sehen möchte?«
»Und du bist gekränkt – zutiefst gekränkt.«
Bob gab keine Antwort.
Dagny ergriff seine Hand.
»Deine Zeit kommt noch, Robert. Ich weiß, daß sie kommt.« Sie lächelte. »Vielleicht schon bald … sehr bald.«
Bob schüttelte allerdings energisch den Kopf.
»Tut mir leid, ich bin eben nicht der Typ, der Goldmedaillen einheimst.«
»Aber ich weiß, daß du …«
Sie wurde unterbrochen, es klingelte unten.
»Siehst du?« rief Dagny aufgeregt aus. »Die gute Nachricht – wie auf ein Stichwort hin!«
»Wahrscheinlich Pfadfinderinnen, die Erdnüsse verkaufen wollen«, murmelte Bob. Er zögerte noch, aber als es zum zweitenmal klingelte, stand er widerwillig auf und schlurfte die Treppe hinunter. Eine Minute später kam er mit einem länglichen Umschlag zurück, der eindrucksvoll versiegelt war.
»Durch Eilboten«, sagte er und überreichte Dagny den Brief. »Für dich.«
Dagny wurde blaß. Sie griff zögernd nach dem Umschlag, fast ängstlich, als sei er eine Reliquie, die sie kaum zu berühren wagte. Dann riß sie ihn entschlossen auf und zog ein Blatt Pergament heraus, auf dem eine einzige handschriftliche Zeile stand. Sie blieb mindestens eine Minute lang unbeweglich liegen und starrte die Nachricht an; nur ihre Augen und Lippen bewegten sich, während sie die Worte immer wieder las, als wollte sie sie ganz auskosten. Dann drückte sie das Pergament mit zitternden Fingern an die Brust.
Bob fand diese emotionelle Reaktion weniger besorgniserregend, als man hätte vermuten können. Seine Frau war eine gute Schauspielerin, eine so gute, daß er nie mit Sicherheit wußte, ob ihr Gefühlsüberschwang nur gespielt oder wirklich echt war.
»Schlechte Nachrichten?« erkundigte er sich.
»Wundervolle Nachrichten«, antwortete Dagny mit kaum hörbarer Stimme.
»Na, die sind längst überfällig!«
»Ich bin ernannt worden.«
Bob starrte seine Frau mit einem unguten Gefühl im Magen an. »Ernannt? Wozu ernannt?«
»Zur Staatshexe von Kalifornien!«
Bob schluckte trocken. »Ich weiß, daß Kalifornien einen offiziellen Poefa laureatus hat. Ich weiß auch, daß es hier mehr Verrückte pro Quadratzentimeter gibt als in jedem anderen Bundesstaat. Aber der Teufel soll mich holen, wenn ich gewußt habe, daß es in Kalifornien eine Staatshexe gibt!«
»Robert, Liebling, es gibt so vieles, was du nicht weißt.«
»Meinst du wirklich offiziell? Wie der Gouverneur oder solche Leute?«
»Nein, eigentlich nicht …«
»Großer Gott!« rief er aus. »So tief sind wir schon gesunken!«
»Unsinn!« widersprach Dagny energisch. »Stell dir vor, was das für eine Ehre ist. Was das bedeutet!«
»Ich kann dir sagen, was das bedeutet«, knurrte Bob, stand auf und ging zwischen Bett und Fenster auf und ab. »Es bedeutet das Ende meiner Karriere. Früher … nun, ein bißchen Astrologie und dergleichen Unsinn hat nicht weiter geschadet. Die Leute haben mit einem Achselzucken darüber hinweggesehen.« Er holte tief Luft. »Aber das hier ist eine Katastrophe! Wer will schon mit einem Astronomen zu tun haben, dessen Frau sich mit Zauberei und Teufelsbeschwörung abgibt?«
Aber er hatte keine Zuhörerschaft mehr. Dagny war in Trance verfallen. Lady Macbeth als Schlafwandlerin in einem Doppelbett.
»Theodoris von Lemnos … Madelaine de Bovan aus Frankreich … Medea von Colchis … Und jetzt Dagny Archer aus Kalifornien! Eines Tages übertreffe ich sie alle!«
Dagnys Ernennung zur Staatshexe wurde am nächsten Dienstag in der Los Angeles Times gemeldet. Bob hatte bis zuletzt gehofft, die Meldung werde irgendwo ganz klein stehen; statt dessen prangte sie auf der ersten Seite des Lokalteils. Als Blickfang diente ein Foto, das Dagny mit ihrer Siamkatze Margarita zeigte. Der junge Reporter, der sie interviewt hatte, wies besonders darauf hin, wie ungewöhnlich die äußere Erscheinung der neuen Staatshexe Kaliforniens sei: eine hübsche blonde Hausfrau, nicht eine häßliche alte Hexe, wie man sie aus Märchen kannte.
Mrs. Archer hatte dem Journalisten erklärt, sie habe sich schon als Kind für das Okkulte interessiert und bedaure, daß die meisten Menschen eine ganz falsche Vorstellung von Hexen hätten. Ob Hexen jemand etwas antun könnten? Im Mittelalter habe man ihnen bekanntlich den bösen Blick nachgesagt, aber die Wissenschaft habe längst nachgewiesen, daß das, was man den Hexen vorwarf, nur der Ausdruck der bösen Triebe ihrer Mitmenschen war. Sie verkörperten die unbewußte Schlechtigkeit ihrer Richter.
Und wie sei das mit den sogenannten ›Liebestränken‹ gewesen?
Mrs. Archer hatte impulsiv gelacht und angedeutet, Frauen hätten doch wirksamere Mittel zur Verfügung, um einen Mann an sich zu fesseln.
Was ihre Hobbys betraf, interessierte sie sich neben dem Okkulten vor allem fürs Theater. Obwohl sie eine geborene Russin war, war sie in Frankreich aufgewachsen und hatte ihr Debüt als Schauspielerin in Paris gegeben.
»Meine beste Rolle war die Laura in Strindbergs Der Vater. Wie Sie wissen, war Laura Strindbergs Surrogat für seine erste Frau.« (Surrogat, dachte Bob. Das muß ich nachschlagen.) »Eine faszinierende Rolle, die mit größter Zurückhaltung gespielt werden muß. Eine bis zuletzt beherrschte Frau, die dann in dämonischer Wut die Vernichtung ihres Feindes betreibt.«
Bob mußte zugeben, daß der Teil des Artikels, der sich mit Dagny befaßte, ziemlich gut war. Aber er ärgerte sich über den, der ihn betraf.
Ja, ihr Mann war Astronom am Mount-Elsinore-Observatorium.
Und was er von Astrologie halte.
Mrs. Archer fürchtete, seine Meinung lasse sich in einem angesehenen Blatt wie der Times leider nicht wiedergeben. Er sei jedenfalls ziemlich skeptisch. Zum Glück stand das ziemlich am Schluß des Artikels, wo es kaum jemand lesen würde.
Als Bob ins Büro kam, wurde ihm jedoch sofort klar, daß alle Kollegen den verdammten Artikel gelesen hatten. Niemand sprach ihn geradewegs darauf an, aber Bob merkte, daß die anderen ihm aus dem Weg gingen.
Bob verschwand in seinem Büro, schloß die Tür und machte sich an einige Berechnungen über die Hyaden. Aber obwohl er sich zu konzentrieren versuchte, blieben seine Gedanken nie lange bei Ambrosia, Eudora, Pedile, Coronis, Polyxo, Phyto und Thyene, sondern wanderten zu einer anderen Nymphe, die ihm etwa 135 Lichtjahre näher war und Dagny Archer hieß. Staatshexe! Er mußte verlangen … nein, darauf bestehen, daß sie auf der Stelle von diesem Amt zurücktrat, das seine eigene berufliche Position innerhalb kürzester Zeit schwer gefährden konnte. Bob überlegte sich auf der Nachhausefahrt, was er alles sagen würde.
Aber als er heimkam, saß Dagny am Telefon, führte ein Ferngespräch mit irgendeinem Zauberer oder Werwolf und durfte auf keinen Fall gestört werden. Bob lungerte eine Weile in der Nähe des Telefons herum, aber als sich zeigte, daß die Okkulten ebensolche Verständigungsschwierigkeiten wie gewöhnliche Sterbliche hatten, verschwand er in der Küche, um Trost bei der Flasche zu suchen. Als erstes nahm er einen langen Zug aus der Whiskyflasche, dann mixte er sich einen Drink und zog sich auf die Veranda zurück, um wie ein Gentleman zu trinken. Margarita, die im Sessel gegenüber döste, warf ihm einen gleichgültigen Blick zu und schlief dann weiter.
Nach einiger Zeit gesellte sich Dagny mit ihrem Glas Tomatensaft zu ihm. Sie rauchte nämlich nicht und trank keinen Alkohol; sie verabscheute alles, was ihre Sinneswahrnehmungen irgendwie hätte beeinflussen können.
»Ich finde dieses wiedererwachte Interesse für das Okkulte einfach begeisternd!« schwärmte sie. »Paß auf, es erfaßt noch ganz Amerika. Und was ihr Astronomen manchmal treibt, unterscheidet sich eigentlich gar nicht so sehr von unserem Okkultismus. Wenn ich an Leptonen, Quasare und diese neuen Dinger, die … die schwarzen Löcher denke …«
»Das ist für mich nichts Neues«, murmelte Bob. »Ich hab’ mein Leben lang in irgendeinem großen schwarzen Loch rumgegrapscht.«
Dagny spürte sofort, wie deprimiert er war.
»Ach, Robert, sei doch nicht so unausstehlich! Gut, ich bin die Staatshexe von Kalifornien. Bedeutet das etwa gleich den Weltuntergang? Was ist Wahrheit? Wer will entscheiden, wer von uns beiden recht hat? Schließlich gibt es auf jede Frage mehrere Antworten.«
»Aber nicht für diese!«
»Das ist unfair«, protestierte Dagny.
»Denk doch selbst nach, Liebling!« forderte Bob sie hitzig auf. »Wie kann irgendeine dämliche Ansammlung von Materie wie Uranus, der über drei Milliarden Kilometer von uns entfernt ist, auch nur den geringsten Einfluß auf unser Leben haben?«
Dagny streichelte Margarita.
»Du hast selbst gesagt, die Entdeckung der Radiowellen habe die Astronomie revolutioniert. Kann es nicht noch andere Wellen geben, die uns ebenfalls erreichen? Bisher unbekannte Wellen?«
»Vielleicht«, gab Bob widerwillig zu.
»Ich weiß, daß es welche gibt. Ich spüre sie.«
Bob spürte ebenfalls gewisse Schwingungen in sich, die allerdings nicht kosmischen Ursprunges waren. Er war angetrunken, und er wußte das. Morgen würde er sich scheußlich fühlen. Aber bis dahin war noch lange Zeit.
Er überquerte die Veranda etwas unsicher und zog Dagny an sich. Sie war eben doch ein Engel – oder eine Hexe. Bob wußte es nicht, aber im Augenblick war es ihm auch gleichgültig.
Er hatte richtig vermutet, daß er einen Kater haben würde. Aber diesmal war es ein besonderer Kater, der die höheren Nervenzentren nicht wie sonst beeinflußte. Bob spürte noch etwas vom Auftrieb des vergangenen Abends. Etwas stand jedenfalls fest: Dagny konnte jeden Mann dazu bringen, alles zu tun, was sie nur wollte – wenn sie sich Mühe gab.
Er stürzte sich mit neuer Energie auf die Hyaden. Beim letztenmal hatte er entmutigt aufgegeben und seine Berechnungen in den Papierkorb geworfen. Diesmal kam er besser voran. Er trieb sich unbarmherzig an. Als seine Kollegen schon längst nach Hause gefahren waren, rechnete er immer noch.
Jemand klopfte an seine Tür.
Bob schrak auf. Hinter der Milchglas-Scheibe zeichnete sich eine dunkle Silhouette ab.
»Herein!«
Zu seiner Erleichterung war der Besucher MacGuire. MacGuire gehörte zu den wenigen Kollegen, die ihm wirklich sympathisch waren.
MacGuire hatte als Sekretär des Observatoriums die undankbare Aufgabe, das Beobachtungsprogramm für die Spiegelteleskope auf dem Mt. Elsinore zusammenzustellen. Astronomen haben leider wenig Ähnlichkeit mit der Vorstellung, die sich viele Leute von ihnen machen: über Kleinigkeiten erhabene große Geister, die sich nur mit den Sternen befassen. In Wirklichkeit sind die meisten unfreundliche Eigenbrötler, die sich nur für ihr Spezialgebiet und sonst nichts interessieren. Das machte es um so schwieriger, ein von allen akzeptiertes Beobachtungsprogramm zu konzipieren. Die Astronomen bekamen selten die Nächte, die sie wollten, zu den Zeiten, die ihnen paßten, oder so viele, wie ihnen ihrer Meinung nach zustanden.
MacGuires Gesichtsausdruck war ernst, wie es einem Mann ansteht, der schwere Verantwortung trägt. Er legte mehrere lange Papierstreifen auf Bobs Schreibtisch. Jeder der Streifen bedeutete ein bestimmtes Teleskop und war in Spalten und Quadrate unterteilt. Über jeder Spalte stand ein Datum.
Etwa die Hälfte aller Quadrate trug bereits Namenszeichen. MacGuire zeigte auf den Streifen mit dem Aufdruck 250 Zoll.
»Ich habe Sie für die drei Nächte vom neunundzwanzigsten bis dreißigsten Juli eingetragen. Okay?«
»Okay«, stimmte Bob zu und notierte sich die Termine in seinem Vormerkkalender. »Und wie steht’s mit den anderen?«
»Das sind alle.«
»Das sind alle?« Bob starrte ihn entgeistert an. »Was soll das heißen, Mac? Sie wissen doch, daß ich mir M110 fotometrisch vornehmen will.«
»Tut mir leid, Bob. Aber diesmal ist das ganze Programm durcheinander.«
»Das ist es jedesmal!«
»Richtig, aber diesmal ist der Wirrwarr noch größer. Weil Thornton nach Hawaii fliegt, wissen Sie.«
»Nein, das hab’ ich nicht gewußt.«
»Ich auch nicht, bis er mich letzte Woche damit überrascht hat.«
»Was will er denn in Hawaii?«
»Jupiter bedeckt am Morgen des Einunddreißigsten einen Stern sechster Größe. Thornton möchte diesen Vorgang durch das neue Teleskop beobachten, das er für Mt. Mauna Kea konstruiert hat. Das ist die beste Gelegenheit seit Jahren, die Dichte der Jupiteratmosphäre zu bestimmen.«
»Der Teufel soll die Jupiteratmosphäre holen! Außerdem kann er die auch hier beobachten.«
»Nein. Die Pazifikküste liegt bei Beginn der Bedeckung bereits in der Morgendämmerung.«
»Und was hat das alles mit mir zu tun?«
MacGuire machte ein unglückliches Gesicht.
»Er braucht weitere Spektralaufnahmen von seinem neuen Sternhaufen. Bisher existiert nur eine einzige gute, aber wenn weitere sie bestätigen, ist der Nachweis für sein Modelluniversum gesichert.«
»Ich verstehe noch immer nicht …«
»Deshalb hat Thornton als Vorsitzender des Programmkomitees gedacht, Sie könnten vielleicht …«
»Ich könnte vielleicht!«
»Bob, daran ist wirklich nur diese verdammte Bedeckung schuld.«
»Soll das heißen, daß ich als … als Thorntons Assistent arbeiten soll?«
MacGuire zuckte unbehaglich mit den Schultern.
»Hören Sie, Bob, wir … wir müßten auch noch über etwas anderes reden«, fuhr er zögernd fort.
Bob starrte finster geradeaus.
»Wie Sie wissen, sind wir hier in mancher Beziehung recht nachsichtig«, sagte MacGuire. »Wir drücken ein Auge zu, wenn sich jemand einen antrinkt oder seine Freundin mit ins Observatorium bringt. Aber es gibt etwas, das man in einer rein wissenschaftlichen Institution auf keinen Fall tun darf: Astronomie und Astrologie vermengen.«
»Meinen Sie damit zufällig meine Frau?«
MacGuire nickte traurig.
»Aber das ist doch nicht meine Schuld, verdammt noch mal!« protestierte Bob. »Mac, ich bin genauso dagegen wie …«
»Klar, Bob, das habe ich dem Komitee auch gesagt. Und wenn Thornton nicht gewesen wäre, hätte es vielleicht gar keine Schwierigkeiten gegeben.«
»Thornton?«
»Sie wissen doch, daß er versucht hat, aus dem Ausschuß für astronomische Projekte ein paar Millionen für einen Schwerkraftwellendetektor herauszulocken. Der AAP will von Jahr zu Jahr weniger Mittel bewilligen, aber Thornton hat natürlich gute Beziehungen. Das Rennen schien bereits gelaufen zu sein, als bekannt wurde, daß Dagny zur Staatshexe von Kalifornien ernannt worden ist.
Nun, damit war alles verloren. Die Abgeordneten haben uns ausgelacht. Sie haben behauptet, wir seien auch nicht besser als diese anderen Spinner.«
Bob runzelte die Stirn.
»Eine Frage, Mac. Hat Thornton Dagny namentlich erwähnt?«
»Hmmm, daran kann man sich nicht ohne weiteres erinnern …«
»Hat er von ihr gesprochen?«
»Das möchte ich nicht ausschließen …«
Bob sprang auf.
»Dieser Schweinehund! Dafür reiße ich ihm den Arsch auf!«
Aber MacGuire stieß ihn in seinen Sessel zurück.
»Nein, erst hören Sie mir ganz ruhig zu«, sagte er streng. »Denken Sie gefälligst erst einmal nach, bevor Sie hier handgreiflich werden.«
Bobs Alkoholkater machte sich plötzlich doch noch bemerkbar. Seine Hände, seine Arme begannen zu zittern. Er konnte dieses Zittern nicht unterdrücken.
»Ich kündige«, sagte er benommen.
MacGuire klopfte ihm auf die Schulter.
»Unsinn, Bob. Fahren Sie nach Hause. Trinken Sie einen. Ich glaube, daß Sie einen anständigen Drink nötig haben.«
Bob gab keine Antwort.
Dagny und Margarita saßen auf der Veranda, als Bob sich mit einem Drink zu ihnen gesellte. Dagny schlürfte Tomatensaft mit Eiswürfeln. Margarita, die zusammengerollt auf ihrem Schoß lag, nahm Bobs Anwesenheit nur flüchtig zur Kenntnis und schlief dann weiter.
»Du hast also heute Ärger im Büro gehabt?« erkundigte sich Dagny.
Bob wünschte sich, ihren Gesichtsausdruck zu erkennen, aber auf der Veranda war es zu dunkel.
»Ich glaube, du bist tatsächlich eine Hexe«, murmelte er.
Dagny lachte.
»Es gibt Dinge, die man weiß, ohne eine Hexe zu sein. Manchmal genügt es schon, Ehefrau zu sein.«
Bob machte seinem Herzen Luft. Dagny hörte sich die ganze Geschichte schweigend an.
»So sieht’s aus«, schloß er. »Thornton ist zur Jupiterbeobachtung auf Hawaii, während ich hier seine ganze Arbeit mache!«
»Ist das wirklich so schlimm?«
»Schlimm? Das ist eine Schande!«
»Warum sprichst du nicht selbst mit Doktor Thornton? Vielleicht läßt er mit sich reden.«
»Mit einem Kerl wie Thornton kann man nicht vernünftig reden.«
»Ist er so ein Ungeheuer?«
»Nein. In mancher Beziehung ist er gar nicht übel. Nur unmenschlich, das ist alles.«
»Ausgeschlossen!« protestierte Dagny.
»Freilich, er hat auch menschliche Züge. Soviel ich gehört habe, trinkt er manchmal ein bißchen zuviel.« Bob starrte in sein leeres Glas.
Dagny schwieg nachdenklich.
»Hast du dir schon einmal überlegt, daß dein Doktor Thornton vielleicht gar nicht so ist, wie er wirkt?« fragte sie nach einigen Minuten. »Seine Herrschsucht dient vielleicht nur dazu, etwas anderes zu tarnen. Ich glaube, daß er im Grunde seines Wesens sehr unsicher ist.«
Bob zuckte mit den Schultern. Ihm war längst etwas anderes eingefallen.
»Hör zu, du bist doch eine Hexe, nicht wahr?« fragte er.
Dagny gab keine Antwort.
»Und du hast doch noch Thorntons Bild?«
Sie machte eine vage Handbewegung. »Irgendwo.«
»Worauf wartest du dann noch?« fragte Bob. »Komm, ich möchte sehen, was an der Hexerei dran ist.«
»Was schlägst du vor?«
»Das ist deine Sache!« rief Bob ungeduldig. »Du sollst ihn verhexen. Weißt du keinen wirksamen Zauber?«
»Ich verstehe nicht, was du …«
»Ich hab’ schon oft gelesen, wie so was funktioniert. Da ist also ein Kerl, den man nicht leiden kann. Man besorgt sich sein Bild. Man sticht eine Nadel …«
Er sprach begeistert weiter, ohne zu merken, daß seine Frau ihr Gesicht in den Händen begrub. Großer Gott, jetzt hatte er’s wieder geschafft!
Bob eilte zu ihr und ergriff ihre Hände. Dagny schluchzte … sie schluchzte wirklich! Diesmal spielte sie keine Rolle. Er fühlte ihre Tränen, die auf seine Hände tropften.
»Dagny … Liebste … Das war nur Spaß. Ehrlich! Ich dachte, du wüßtest, daß das nicht mein Ernst ist.«
Diese Frau in seinen Armen war nicht die Staatshexe von Kalifornien. Sie war Dagny, seine Frau, der Mensch, den er am meisten liebte.
»Du kannst ruhig mit deiner Hexerei weitermachen«, sagte er grimmig. »Wenn ich’s mir überlege, bist du auf deinem Gebiet viel besser als ich auf meinem.«
Er küßte ihr die Tränen von den Wangen.
»Weißt du, was wir tun?« rief er. »Wir verbringen meine drei Tage auf dem Berg gemeinsam. Ich lasse uns gleich ein Zimmer reservieren. Wenn ich Thorntons Arbeit tun muß, ist es halb so schlimm, wenn du bei mir bist.«
Er sah sie besorgt an. »Einverstanden?«
Dagny nickte.
»Wunderbar!«
Dagny ging früh ins Bett. Bob ging in die Bibliothek, ließ sich in einen Sessel fallen und versuchte, seine aus den Fugen geratene Welt wieder zurechtzurücken. Vielleicht noch ein Drink … nein, lieber nicht. Vielleicht ein Buch.
Er nahm eins von Dagnys Büchern über Zauberei aus dem Regal, blätterte darin herum und las den erstbesten Absatz, der ihm ins Auge fiel. ASTRALFLUG: Das eigenartige am Astralflug ist die Tatsache, daß er von wissenschaftlich geschulten Menschen intuitiv abgelehnt wird, obwohl zahlreiche Beweise für ihn sprechen. Tatsächlich würden die vorhandenen Beweise als überwältigend gelten müssen, wenn dieses Phänomen nicht so unwahrscheinlich wäre. Allgemein läßt sich feststellen, daß …
Wie konnte ein so intelligenter Mensch wie Dagny solchen Blödsinn glauben?
Sein Blick fiel auf die Sonntagsausgabe der Times, die mit Thorntons Bild nach oben auf dem Tisch lag. Quer über Thorntons Gesicht zeichnete sich ein eigenartig gabelförmiger Schatten ab.
Das kam Bob irgendwie bekannt vor. Aber warum?
Jeanettes Hände! Dagny hatte ihm versprochen, einen anderen Platz dafür zu suchen, und hatte Wort gehalten. Jetzt standen sie mit gespreizten Fingern neben der Tischlampe.
Bob schlug das Buch wieder auf und las an einer anderen Stelle weiter:
… die Handhaltung, bei der Zeige- und Mittelfinger gestreckt sind, verkörpert Gott und den vervollkommneten Menschen, die ihren Segen spenden. Aber wie alle Kräfte der physischen Welt kann dieser Segen auch zum Fluch werden. Wird die Hand nämlich so gehoben, daß der Schatten der beiden Finger Kopf und Hörner der Ziege Baphhomet darstellt, ist der Person, auf die dieser Schatten fällt, ein schreckliches Schicksal gewiß.
Für Bob war die Fahrt auf der kurvenreichen Straße zum Observatorium hinauf nur noch ein Teil seiner Arbeit. Der erste Blick auf die weißen Kuppen hoch über ihnen jagte ihm keinen erwartungsvollen Schauer mehr über den Rücken. Aber daß Dagny ihn diesmal begleitete, war etwas Besonderes, denn sie kam selten mit, wenn er zum Mt. Elsinore fuhr. Für sie war Astronomie keine Wissenschaft, sondern ein Geheimnis, obwohl sie sich durch ihr Interesse für Astrologie fundierte astronomische Grundkenntnisse hatte aneignen müssen. Sie wußte nicht nur über Sterne, Planeten und Sternbilder Bescheid, sondern verstand auch Fachausdrücke wie Stundenwinkel, siderische Zeit, Dekliniation oder Spektraltyp.
Die Außentemperatur nahm rasch ab, je höher sie kamen. In 1500 Meter Höhe erschienen die ersten Nebelstreifen, und bei 2000 Meter war der Nebel so dicht geworden, daß Bob nur noch Schrittempo fahren konnte.
Dagny war begeistert. Hier im Nebel schienen sie von der realen Welt isoliert zu sein. Einmal sahen sie ein weißes Eichhörnchen auf einem Ast am Straßenrand sitzen.
Nach dem Mittagessen im Berghotel erklärte Bob seiner Frau, er müsse jetzt ins Observatorium, wo seine Kollegen, die für diese Beobachtungsperiode eingeteilt waren, sich aufhielten. Auch die Techniker und Assistenten, die ständig hier arbeiteten, wohnten im Observatorium.
»Warum gehst du überhaupt hin?« fragte Dagny, während sie auspackte. »Der Nebel ist so dicht, daß man vom Fenster aus kaum unseren Wagen sieht.«
»Das ist eine Frage des Prinzips«, erklärte Bob und zog sich um, weil er im Observatorium lieber bequeme alte Sachen anhatte. »Astronomen treffen ihre Vorbereitungen unabhängig vom Wetter. Der Nebel könnte in einer Viertelstunde aufreißen. Wo wäre ich dann, wenn ich nichts vorbereitet hätte?«
»Peinlich«, murmelte Dagny.
Bob lachte, als ihm etwas einfiel.
»Ich weiß noch, wie ich zur Beobachtung einer Sonnenfinsternis in Neuguinea war«, sagte er. »Damals war ich allerdings noch Student. Am Morgen des entscheidenden Tages war die Wolkendecke so dicht, daß nicht einmal die Sonne zu sehen war. Ich hätte am liebsten zusammengepackt. Der Expeditionsleiter aber hat uns angefahren, wir sollten gefälligst weitermachen. Wir haben uns also an den ausgearbeiteten Zeitplan gehalten – und wenige Minuten vor Eintritt der totalen Sonnenfinsternis ist die Wolkendecke wie durch ein Wunder aufgerissen. Damit war das ganze Beobachtungsprogramm gerettet.«
Bob machte eine Pause. Als Dagny sich nicht dazu äußerte, ging er verlegen zur Tür.
Dagny runzelte die Stirn, während sie die auf dem Bett verstreuten Toilettenartikel und Kleidungsstücke betrachtete.
»Ich hab’ die Zahncreme vergessen!« rief sie.
Bob fühlte sich gedemütigt und herabgesetzt, wenn er daran dachte, daß er an Thorntons Programm mitarbeiten sollte. Aber sobald er eingewilligt hatte, spielten die Personen der Beteiligten keine Rolle mehr. Bob nahm sich vor, die Beobachtungen so gut wie irgend möglich durchzuführen – genau wie ein Chirurg, der einen Feind so gut wie einen Freund operierte. Sollte das Wetter jedoch die Beobachtungen verhindern, war das nicht seine Schuld.
Bei Sonnenuntergang löste sich der Nebel auf, und der Abendhimmel wurde kristallklar. Bob wartete noch eine Weile, bevor er seinen Nachtassistenten im Observatorium anrief und ihn anwies, die Kuppel des großen Spiegelteleskops zu öffnen. Aber er hatte kaum die halbe Meile zum Observatorium zurückgelegt, als wieder Nebel aufstieg. Und so ging es die ganze Nacht weiter: Nebel, klarer Himmel, wieder Nebel, es gelang ihm keine einzige gut belichtete Aufnahme. Im Morgengrauen kam er müder und frustrierter ins Hotel zurück, als wenn er die ganze Nacht angestrengt gearbeitet hätte.
Er schlich sich so leise wie möglich ins Zimmer, um Dagny nicht zu wecken. Seit Mitternacht hatte er sich auf den Augenblick gefreut, in dem er in seiner Hälfte des Doppelbetts unter die Decke kriechen und die Sterne vergessen konnte. Aber wie schon so oft nach anstrengenden Beobachtungsnächten war er in dem Moment hellwach, in dem sein Kopf das Kissen berührte. Manchmal kam er sich geradezu schizophren vor: Sein waches Ich lag neben dem anderen, das friedlich träumte. Schließlich verfiel er doch in unruhigen Schlaf, aus dem er gegen Mittag erwachte. Dagny war fort, und die Landschaft sah so trostlos aus wie zuvor.
Dagny kam zurück, als er sich rasierte. Sie war munter und fröhlich und brachte Tannenduft von draußen mit.
Sie hatte unten am Empfang Ansichtskarten gekauft.
»Lauter Tierfotos«, sagte sie und breitete die Karten aus. »Füchse, Rehe, Eichhörnchen – und Blumen.«
»Ja, das sehe ich.«
»War’s schlimm heute nacht?«
Bob nickte.
»Eine schreckliche Nacht. Überhaupt kein Glück.«
Die zweite Nacht war eine Wiederholung der ersten. Bob setzte ein entsprechend trübseliges Gesicht auf und bedauerte seine Kollegen, die an den anderen Teleskopen arbeiten wollten. Aber in Wirklichkeit mußte er sich beherrschen, um nicht lauthals zu lachen. Noch eine Nacht dieser Art, dann war Thorntons Auftrag erledigt, und er selbst konnte mit reinem Gewissen abfahren. Außerdem schlief er in dieser Nacht gut und war beim Essen bester Laune. (Frühstück für Bob; Mittagessen für Dagny.)
Nach dem Abendessen am 31. rief er im Observatorium an. »Wir bleiben bis zwei Uhr auf«, erklärte er seinem Nachtassistenten. »Wenn es dann nicht besser aussieht, machen wir für diese Nacht Schluß.«
Dagny und er setzten sich vor den alten Fernseher, den die Hoteldirektion ihnen ins Zimmer gestellt hatte. Zu ihrem Entzücken entdeckten sie in einem Programm einen alten Film aus ihrer Flitterwochenzeit. Sie hielten bald Händchen und wechselten wehmütige Blicke. Selbst die Werbespots waren ihnen willkommen, weil sie Bob Gelegenheit gaben, nach dem Wetter zu sehen. Zu seinem Vergnügen sah er sich jedesmal einer Nebelwand vor dem Fenster konfrontiert.
Nach dem Happy-End gegen elf Uhr fand er die Welt jedoch verwandelt: Die Lichter im Tal waren bis zum Horizont sichtbar, und über ihnen die Sternbilder Schwan und Leier.
»Jupiter«, flüsterte Dagny und starrte den riesigen gelben Stern im Osten ehrfürchtig an.
»Richtig«, stimmte Bob zu, »Jupiter steht im Steinbock. Er ist aufgegangen.«
»Was Doktor Thornton jetzt wohl in Hawaii tut?«
»Wahrscheinlich nicht viel. Die Sternbedeckung tritt erst ein, wenn es hier schon hell ist.«
Dann verschwanden die Lichter im Tal plötzlich. Auch Jupiter war nicht mehr zu sehen. Innerhalb weniger Sekunden war die Welt wieder so grau und undurchsichtig wie zuvor.
Bob sah auf die Uhr. Noch drei Stunden, dann war er wieder frei. Er mixte sich einen Drink; Dagny blieb bei Tomatensaft. Als Bob ihr das Glas brachte, zog sie ihn zu sich herab und küßte ihn.
Eine schöne Nacht, dachte Bob, als er Dagny lachend zum Bett trug. Ob Nebel oder nicht …
Bob wachte mühsam auf und kämpfte sich durch eine zähe Masse voran, die ihn festhalten wollte. Irgendwo klingelte etwas.
Er bildete sich zunächst ein, das schrille Klingeln gehöre zu einem Traum, dann begriff er, worum es sich handelte: das Telefon.
Er tastete nach dem Telefonhörer.
»Soll ich aufmachen, Doktor Archer?« fragte der Nachtassistent des 250-Zoll-Teleskops.
»Ich dachte, wir hätten wieder Nebel.«
»Der ist seit mehr als einer Stunde weg.«
»Gut, fangen Sie bitte mit der Einstellung an. Ich bin gleich drüben.«
Das war eine leichte Übertreibung. Bob hatte nicht damit gerechnet, sich in aller Eile anziehen zu müssen, und seine Kleidungsstücke waren im ganzen Zimmer verstreut. Außerdem mußte er leise sein, weil er Dagny nicht wecken wollte. Ihr Haar bedeckte fast ihr ganzes Gesicht, so daß Bob nur das Profil auf dem Kissen sah. Wie still sie dalag! Ihre langen dunklen Wimpern so unbeweglich wie die einer Puppe. Die Bettdecke hob und senkte sich nicht im geringsten, als ob Dagny überhaupt nicht atmete.
Er beschloß zu Fuß zu gehen, anstatt mit dem Auto zu fahren. Ihr alter Wagen war ohnehin viel zu laut. Und auf dem Fußweg zum Observatorium brauchte er bestimmt nicht viel länger.
Aber er hatte nicht mit der dünnen Höhenluft gerechnet. Bis er die Kuppel erreichte und die lange Treppe zum Kontrollpult hinter sich brachte, keuchte er und rang nach Atem. Er hing über dem Eisengeländer, von dem das Spiegelteleskop umgeben war, und kam sich wie ein Boxer vor, der groggy in den Seilen hängt.
Die Kuppel war offen, aber das Teleskop stand wie üblich senkrecht.
»Warum haben Sie’s nicht eingestellt?« fragte Bob, als er wieder sprechen konnte.
Der Nachtassistent klopfte seine Pfeife aus. »Ich hatte die Position nicht.«
»Ich habe sie hier auf den Schreibtisch gelegt!«
»Tut mir leid, ich habe sie nirgends gesehen.«
Dann folgten aufregende zehn Minuten, in denen sie den ganzen Schreibtisch, den Fußboden um den Schreibtisch herum, die Schubladen, das Beobachtungsbuch und dann auch noch die Dunkelkammer und das WC durchsuchten. Aber die wichtigen Informationen, ohne die man den winzigen Lichtpunkt weit außerhalb der Wahrnehmungsfähigkeit des menschlichen Auges nicht anvisieren konnte, blieben verschwunden. Das ließ nur einen Schluß zu: Bei seinem hastigen Aufbruch hatte Bob die Einstellung und die Identifikationskarte im Hotelzimmer liegenlassen.
Was sollten sie tun?
Mindestens eine Stunde würde vergehen, wenn er die Unterlagen aus dem Hotel holen, das Spiegelteleskop einstellen und die Aufnahme beginnen wollte – vielleicht sogar länger, weil er das betreffende Sternfeld nicht kannte und sein Objekt unter Umständen nicht sofort würde identifizieren können. Im Juli wird es früh hell. Er konnte natürlich anrufen und Dagny bitten, ihm die Werte durchzugeben, aber die Position des Sternfeldes war praktisch wertlos, solange die dazugehörige Identifikationskarte fehlte. Das gesuchte Objekt konnte irgendeiner von einem Dutzend Sterne sein.
Bob suchte eben zum drittenmal seine Taschen durch, als er die Eisentür am Fuß der Treppe ins Schloß fallen hörte. Einen Augenblick lang herrschte Stille, dann kamen langsame Schritte die Treppe herauf. Er und der Nachtassistent wechselten einen fragenden Blick.
»Jemand von den beiden anderen Teleskopen?« fragte Bob.
Der Assistent schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Bestimmt nicht. Die haben schon Schluß gemacht.«
»Es muß aber jemand von hier sein. Wer hätte sonst einen Schlüssel?«
»Keine Ahnung«, murmelte der Assistent. »Aber das wird sich gleich herausstellen.«
Er schaltete die Kuppelbeleuchtung aus, so daß nur noch die Instrumente schwachrötlich leuchteten. Bob hörte ihn die eiserne Wendeltreppe bis zum Absatz auf halber Höhe hinuntereilen. Dort waren halblaute Stimmen zu hören, dann entfernten sich Schritte treppab, während der Assistent zurückkehrte. Er gab Bob einen Umschlag.
»Sind das die Unterlagen, die Sie brauchen?«
Bob warf einen Blick in den Umschlag.
»Alles da!« rief er. »Aber wer …«
»Keine Ahnung. Eine blonde Dame hat ihn mir gegeben.«
Das muß Dagny gewesen sein. Sie war vermutlich aufgewacht, hatte den Umschlag auf der Kommode gesehen, Bobs Notlage erkannt und war mit dem Auto herübergekommen. Sie wußte, daß im Handschuhfach ein Schlüssel zur Kuppel lag.
Bob warf einen Blick auf die Standuhr. Fast 23 Uhr. Sie würden rasch arbeiten müssen.
»Gut, hier ist sie also«, erklärte er dem Assistenten und gab ihm die genaue Position.
»Stephans Quintett, was?« fragte der andere.
»Stephans Quintett? – Nein! Unser Objekt liegt viel weiter nördlich im Pegasus.«
»Die Koordinaten sehen aber wie die von Stephans Quintett aus«, stellte der Assistent fest. »Ich habe sie schon oft genug eingestellt.«
Bob runzelte die Stirn, während er die Zahlen auf dem Papierstreifen betrachtete. »Das ist doch Thorntons Schrift, oder?«
Der Assistent blätterte im Beobachtungsbuch.
»Das wird sich gleich herausstellen.«
Er zeigte auf eine von Thornton abgezeichnete Eintragung.
»Ja, das ist seine Schrift«, sagte er. »Die Zahlen sind typisch für ihn – die geschlossene Vier schreibt nur er. Alle anderen lassen sie oben offen.«
»Ich habe die Einstellung direkt von MacGuire bekommen«, erklärte ihm Bob, »und MacGuire hatte sie direkt von Thornton. Folglich bleibt uns nichts anderes übrig, als Stephans Quintett einzustellen.«
Danach kamen sie schnell voran. Wenige Minuten später verglich Bob die Sterne im Blickfeld des Spiegelteleskops mit denen auf seinem Negativabzug. Zum Glück war das Objekt leicht zu identifizieren. Er manövrierte das Abbild in den Spektrografen, suchte sich einen Leitstern und schaffte kurz vor Tagesanbruch noch zwei Aufnahmen.
»Fertig!« rief Bob dem Assistenten triumphierend zu. »Sie können zumachen und nach Hause gehen!«
Bob blieb in der Dunkelkammer, um die Platten zu entwickeln und zu trocknen. Auf diese Weise waren sie gegen Mittag trocken, so daß Dagny und er gleich nach dem Mittagessen zurückfahren konnten. Ein Blick auf die dunklen Streifen auf den Gläsern zeigte ihm, daß er Belichtung und Tiefenschärfe genau richtig eingestellt hatte.
Bob setzte Dagny zu Hause ab, zog sich um und fuhr ins Büro.
»Ich komme bestimmt erst spät nach Hause«, erklärte er ihr. »Ich will mir diese Aufnahmen genau ansehen.«
Es war gut, daß er Dagny gewarnt hatte, denn er kam erst zurück, als es schon dunkel wurde. Nach der Kühle auf Mt. Elsinore kam ihm das Tal wie ein Backofen vor. Bobs Hemd war völlig durchgeschwitzt. Dagny, die ein leichtes Kleid im Empirestil trug, wirkte kühl und heiter wie eine antike Göttin.
Sie saßen einige Minuten schweigend auf der Veranda. Bob trank einen Scotch mit Soda, Dagny blieb wie üblich bei Tomatensaft.
Bob sprach als erster.
»In den vergangenen drei Tagen ist eine Menge passiert«, sagte er.
»So?« fragte Dagny und streichelte Margaritas seidiges Fell.
»Hast du schon von Thornton gehört?«
Dagny schüttelte den Kopf.
»Thornton hat die Bedeckung nicht beobachten können.«
»Nein? War der Himmel über Hawaii auch bewölkt?«
»Thornton ist tot.«
Dagny streichelte Margaritas Fell.
»Tot? – Aber wie …«
Bob zögerte.
»Das steht noch nicht fest. Thornton scheint eine kleine Pause in der Bibliothek des Observatoriums gemacht zu haben. Seine Vorbereitungen waren jedenfalls abgeschlossen, und er hatte noch ein paar Stunden Zeit. Der Nachtassistent glaubt, Stimmen gehört zu haben – dann ist ein Schuß gefallen. Er ist sofort in die Bibliothek geeilt. Thornton war tot. Neben ihm lag ein Revolver.«
Bob wünschte sich, er könnte Dagnys Gesicht sehen, aber dazu war es schon zu dunkel.
»Thornton ist offensichtlich nicht allein gewesen«, fuhr Bob fort. »Auf dem Tisch standen zwei Gläser. An beiden wurden Fingerabdrücke gefunden. Die am ersten Glas stammten von Thornton. Am zweiten waren ebenfalls Abdrücke von Fingern festzustellen.«
»Diese Fingerabdrücke … sind sie identifiziert worden?« erkundigte sich Dagny.
Bob schüttelte den Kopf.
»Ich habe nicht Fingerabdrücke gesagt. Ich habe Abdrücke von Fingern gesagt. Keine typischen Schleifen, glatte Abdrücke, kein Muster.«
»Wahrscheinlich Handschuhe.«
»Die Polizei ist anderer Meinung. Anscheinend läßt sich das überprüfen. Im Augenblick weiß die Polizei noch nicht, was sie davon halten soll. Es kann fast alles sein: Unfall … Selbstmord … Mord.«
»Ich glaube, daß er Selbstmord begangen hat«, sagte Dagny. »Erinnerst du dich daran, daß ich dir erklärt habe, Thornton sei im Grunde seines Wesens unsicher?«
»Richtig, das hast du getan.«
Es folgte eine längere Pause.
»Vielleicht ist ihm dadurch einiges erspart geblieben«, meinte Bob schließlich. »Die Aufnahmen, die ich gemacht habe, waren … nun, recht merkwürdig. MacGuire und ich sind uns in diesem Punkt einig. Sie haben Thorntons Theorie mit ziemlicher Sicherheit widerlegt. Wahrscheinlich hat er irgend etwas in dieser Richtung vermutet. Jedenfalls hätte er die Goldmedaille der Königlichen Astronomischen Gesellschaft nicht mehr annehmen können, wenn er diese Aufnahmen gesehen hätte. Sie ändern unsere ganze bisherige Vorstellung vom Universum.«
Dagny sah zu den Sternen auf. »Für mich sehen sie noch immer gleich aus.«
Bob wischte die sichtbaren Sterne mit einer verächtlichen Handbewegung beiseite.
»Ach, die dort oben zählen doch gar nicht! Ich spreche von weiter entfernten Objekten. Von dem nicht mehr sichtbaren Universum.«
»Welches nicht mehr sichtbare Universum meinst du?« fragte Dagny. »Zeit und Raum – für mich existieren sie nicht …«
Sie lachte.
»Die Hexen früherer Zeiten!« fuhr sie fort. »Ihre Fähigkeiten waren sehr beschränkt, weißt du. Medea – sie war kaum imstande, das ägäische Meer zu überwinden. Aber Dagnys Macht erstreckt sich bis zum entferntesten Stern! Sie reicht bis zu den Grenzen des Alls!«
Bob blieb bis lange nach Mitternacht in der Bibliothek sitzen. Die Ereignisse der vergangenen 24 Stunden hatten ihn nervös gemacht. Er fand keine Ruhe.
Wieder griff er nach Dagnys Buch über Zauberei und blätterte darin herum.
Es wäre ein Irrtum, zu glauben, daß Hexen unweigerlich alt und häßlich sein müßten. Viele sind schöne junge Frauen; die meisten von ihnen sind verheiratet. Um das Haus heimlich verlassen zu können, verzaubern sie ihre Ehemänner und verhindern eine zufällige Entdeckung mit Hilfe eines Surrogats.
»Surrogat«, murmelte Bob vor sich hin. Da war das Wort wieder. Er schlug hinten bei den Worterklärungen nach.
SURROGAT: Im gewöhnlichen Sprachgebrauch ein Ersatzmittel oder Behelf, aber auch ein Agent oder Stellvertreter, der für jemanden auftritt. In der Zauberei ein Phantombild, das zurückgelassen wird, um andere zu täuschen.
Die Times mit Thorntons Bild nach oben lag noch immer auf dem Schreibtisch. Aber es hatte sich etwas verändert. Wo waren die Schatten von Jeanettes Zeige- und Ringfinger, die über das Bild gefallen waren? Jeanettes Hände mit den glatten, samtweichen Fingern – ohne Muster –. Fort … fort? –
Bob spürte, wie Angst in ihm aufstieg, eine unbestimmte Angst, die sich bisher unter einer dünnen Schicht wissenschaftlicher Überzeugung und Gewißheit verborgen hatte.
Aber jetzt drang sie unaufhaltsam an die Oberfläche.