Erst als vor ihnen der Wall des Bahndamms emporwuchs, erkannten Lisa und die beiden Jungen, wohin Kyra sie führte.

»Aber wir haben doch eben erst darüber gesprochen, dass wir nicht zum Hügelgrab –«, begann Nils, wurde aber von Kyra unterbrochen:

»Ich weiß, was wir gesagt haben.« Sie hustete, als sie sich im Laufen verschluckte. »Aber manchmal muss man Pläne eben ändern.«

»Die Hexe wird wissen, wohin wir laufen«, gab Chris zu bedenken. Er hatte die beste Kondition, aber selbst ihm machte die Hetzjagd zu schaffen.

Obwohl sie den Mann im Mond nicht hinter sich sehen konnten, war seine Anwesenheit doch deutlich zu spüren. Trotzdem war die Verlockung groß, einfach stehen zu bleiben und auszuruhen. Eine Stimme in ihrem Unterbewusstsein flüsterte Lisa immer wieder zu, dass ein unsichtbarer Feind kein gefährlicher Feind war. Es kostete einige Überwindung, solchen Einflüsterungen keine Beachtung zu schenken.

Laufen. Immer weiterlaufen.

Sie stürmten den Bahndamm hinauf, kratzten sich die Haut an den Brombeerbüschen auf und erreichten schließlich den verrosteten Schienenstrang. Zwischen den Gleisen wuchs kniehohes Unkraut. Ein kleines Tier raschelte durchs Gestrüpp und versteckte sich vor den nächtlichen Störenfrieden.

Lisa blickte nach hinten. Von hier aus, der höchsten Stelle der Umgebung, hätte sie den Mann im Mond sehen müssen. Doch ausgerechnet in diesem Moment legte sich ein Wolkenfetzen über den Vollmond, ein Vorbote des heraufziehenden Gewitters. Von einer Sekunde zur anderen wurde die Landschaft in Finsternis getaucht. Hügel, Wiesen und Weißdornhecken versanken in einem Meer aus Schwärze.

»Weiter!«, kommandierte Kyra in einem Ton, der keinem der anderen gefiel.

Zum Erstaunen aller war es ausgerechnet Chris, der stehen blieb und Kyra an der Schulter festhielt. »Warte«, sagte er. »Würdest du uns wohl erst mal erklären, was du überhaupt vorhast?«

Kyra streifte seine Hand ab. »Dazu ist jetzt keine Zeit. Er ist irgendwo da unten. Er wird uns einholen, wenn wir nicht weiterlaufen!« Sie deutete in den schwarzen Abgrund, in den sich das Land südlich des Bahndamms verwandelt hatte. Sogar die Lichter Giebelsteins waren blass wie ferne Sternbilder.

»Es hat doch keinen Zweck, wenn wir uns im Hügelgrab verstecken«, sagte Lisa mit flehendem Unterton. »Er wird uns so oder so finden.«

Nils nickte. »Er ist vielleicht langsam, aber ganz bestimmt nicht blind.«

Kyras Blick fuhr finster über die Gesichter ihrer Freunde, dann drehte sie sich einfach um und stürmte die nördliche Böschung hinunter.

»Kommt mit, oder bleibt stehen. Ganz wie ihr wollt.«

Lisa starrte ihr fassungslos hinterher. »Sie ist gar nicht mehr sie selbst, wenn sie sich so aufführt.«

Chris stimmte zu. »Sie wird wie ihre Mutter.«

»Zumindest gibt sie sich alle Mühe, wie sie zu sein«, knurrte Nils.

»Trotzdem hat sie Recht«, meinte Lisa schließlich und überwand ihren Schrecken über Kyras Verhalten. »Wir müssen weiter. Früher oder später wird der Mann im Mond hier auftauchen.«

Chris und Nils schlossen sich ihr an, und gemeinsam folgten sie der Schneise, durch die Kyra im Dunkeln verschwunden war. Es blitzte wieder, und der Donner folgte schon nach wenigen Sekunden. Die Wolke vor dem Mond zog weiter, und erneut wurde die Landschaft in weißes Licht getaucht. Die Gewitterfront, die sich von Osten näherte, war jetzt deutlich zu erkennen. Über dem Horizont flimmerte der Nachthimmel in unheilvollen Violetttönen.

Kyra war etwa zehn Meter vor ihnen. Als sie sah, dass die anderen ihr folgten, blieb sie widerwillig stehen und wartete, bis sie aufgeholt hatten. Was immer es war, das Kyra in Augenblicken wie diesen beherrschte – der Geist ihrer Mutter oder ihr eigener, übertriebener Ehrgeiz –, es hatte sie noch nicht vollständig in seiner Gewalt. Immer wieder blitzte die alte, mädchenhafte Kyra hinter der Maske der eiskalten Dämonenjägerin auf. Lisa atmete insgeheim auf, aber ihre Besorgnis über Kyras Benehmen blieb.

Gemeinsam erreichten sie schließlich die Ausläufer des Hügelgrabes. Der Hang stieg seicht an, bewachsen mit hohem Gras. Es gab keinen Trampelpfad zum Eingang, nur eine Spur abgeknickter Halme, wo die Freunde am Nachmittag hergegangen waren. Schon lange kam außer ihnen niemand mehr hierher. Das Grab war ihr eigenes, unangefochtenes Reich.

Und doch: Kyra schaute sich wachsam nach allen Seiten um, so als erwartete sie, hier noch jemanden anzutreffen.

Sie rannten den Hang hinauf, und Nils wollte sich schon durch den Bretterspalt am Eingang zwängen, als Kyra ihn zurückhielt. »Nein, warte. Wir bleiben hier draußen.«

»Aber hier wird er uns sofort sehen«, widersprach Nils.

Kyra achtete nicht auf seine Worte und wandte den Blick zum Himmel. Eine weitere Wolke wanderte vor den Mond. Abermals machte sich Dunkelheit breit.

»So ein Mist!«, fluchte sie mit zusammengebissenen Zähnen.

»Kyra«, versuchte Lisa es noch einmal, »du musst uns sagen, was das soll! Warum sind wir hier?«

»Wir müssen erst ganz nach oben klettern. Dann erzähl ich euch alles.«

Chris und Nils wechselten mürrische Blicke, aber keiner widersprach. Ein Streit war das Letzte, was sie jetzt noch gebrauchen konnten.

Kyra erklomm als Erste die steinerne Kuppe des Hügelgrabes. Die Fläche war gewölbt, aber nicht stark genug, als dass es schwierig gewesen wäre, darauf Halt zu finden. Der Durchmesser des kreisrunden Bauwerks betrug etwa dreißig Meter. Aus Fugen und Spalten wucherten Löwenzahn und wilder Efeu.

Im Zentrum der Grabkuppel angekommen, blickte Kyra sich um. Die Wolke würde gleich am Mond vorüberziehen, doch schon ein Stück dahinter rückte die Wolkenfront des Gewitters heran. Wenn es sie erreichte, würde der Mond endgültig verschwinden und in dieser Nacht wahrscheinlich nicht mehr zum Vorschein kommen. Es blieben ihnen nur wenige Minuten.

Die drei anderen gesellten sich zu ihr. Alle fühlten sich schrecklich schutzlos. Sie mussten schon von weitem zu sehen sein, erst recht, da jeden Augenblick wieder das Mondlicht auf das helle Gestein der Kuppel fallen würde. Sie standen inmitten des berühmten Präsentiertellers.

Wie Schießbudenfiguren, dachte Lisa zitternd. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass sie fror. Ihr Minirock war kaum die geeignete Kleidung für nächtliche Expeditionen wie diese.

Der Wolkenfetzen wanderte weiter, Mondlicht ergoss sich über die Hügel.

Kyra schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. »Könnt ihr es spüren?«, fragte sie leise.

Jetzt spinnt sie völlig!, durchfuhr es Lisa.

Aber Kyra schlug schon nach zwei, drei Sekunden die Augen wieder auf und schaute Lisa direkt an. »Dieses leichte Ziehen … fühlt ihr das nicht?«

»Kyra, bitte!«, sagte Chris. Seine Stimme klang scharf, nur eine Spur weit von einer Drohung entfernt. »Was, zum Teufel, machen wir hier?«

Bevor Kyra eine Antwort geben konnte, rief plötzlich Nils:

»Da kommt er!«

Und tatsächlich, der Mann im Mond erklomm den Bahndamm, blieb stehen und blickte stumm zu ihnen herüber, eine schwarze Silhouette ohne Gesicht, umwirbelt von einem Fächer aus peitschenden Dornenranken. Lisa glaubte, die furchtbaren Stacheln sogar auf diese Entfernung erkennen zu können.

Das Wesen setzte sich wieder in Bewegung, brach unbeeindruckt durch die Brombeerbüsche und hinterließ eine Schneise aus verzahntem Dornengewirr, ähnlich wie im Garten der Villa. In spätestens fünf Minuten würde er hier sein.

»Wir müssen ihn hierher locken«, brach Kyra mit einem Mal ihr Schweigen. »Mit etwas Glück können wir ihn auf diese Weise loswerden.«

Die drei anderen sahen sich verwirrt an.

»Kyra, bist du sicher, dass –«, begann Chris, aber sie fiel ihm ins Wort: »Nein, ich bin nicht sicher«, entgegnete sie schnippisch. »Aber es ist immerhin eine Chance.«

»Und warum gerade hierher?«, fragte Nils. Normalerweise hätte er Kyra für verrückt erklärt. Aber er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie so etwas nicht ohne Grund behaupten würde.

»Was hat die Hexe dir gesagt?«, bohrte auch Lisa.

Kyra schaute zum Mond empor, dann hinüber zu ihrem Gegner, der unaufhaltsam näher kam.

»Sie hat gesagt, es gibt eine Verbindung zwischen dem Mond und einem Ort in der Nähe von Giebelstein. Die Mondmagie funktioniert wie ein Fahrstuhl, der den Mann im Mond herunterholt, aber auch wieder dort hinaufbringen kann.«

»Ja, und?«, fragte Nils ungeduldig.

»Lass sie doch ausreden!«, fuhr Lisa ihren Bruder an.

»Um die Verbindung herzustellen, braucht man einen Sender und einen Empfänger, hat die Hexe gesagt. Genau das waren ihre Worte: Sender und Empfänger. Zwei Pole, zwischen denen eine Art … ich weiß nicht, so was wie ein Kraftfeld entsteht.« Wieder spähte sie angestrengt den Hügel hinunter. Zum ersten Mal sah sie aus, als bekäme sie es allmählich mit der Angst zu tun. Ihr Plan näherte sich der entscheidenden Phase. »Der Mond ist der Sender, das steht fest. Bleibt also die Frage, was der Empfänger ist. Und mir fiel nur ein Ort in der Umgebung ein, der etwas mit Mondmagie zu tun hat.«

Lisas Blick wanderte langsam zum Dach des Hügelgrabes hinunter, auf dem sie standen. »Du glaubst –«

»Die Kelten haben all ihre Bauwerke nach den Himmelskörpern ausgerichtet«, erklärte Kyra hastig. »Ihre Steinkreise und Opferplätze liegen alle auf irgendwelchen Linien, die zu bestimmten Sternbildern weisen … oder zum Mond.«

Kyra hatte Recht. Sie alle hatten das schon in der Schule besprochen, gerade weil es in der Gegend rund um Giebelstein so viele keltische Kultstätten gab. Das Hügelgrab war nur der größte und spektakulärste dieser Orte, aber es gab noch weitere: moosüberwucherte Findlinge, die sich in Flussniederungen in den Wäldern befanden; Fürstengräber, die schon im neunzehnten Jahrhundert von Forschern geöffnet oder geplündert worden waren; sogar die Überreste eines Steinkreises, der irgendwo in den Wäldern im Norden stehen sollte.

Schon vor zweitausend oder noch mehr Jahren hatten keltische Stämme in diesem Gebiet ihre Mond- und Sonnengötter angebetet, hatten primitive Kalender nach den Sternbildern ausgerichtet und ihre Toten in geweihter Erde bestattet.

Lisa konnte nicht umhin, Kyra zu bewundern. Der Rückschluss von der Mondmagie des Arkanums auf das Hügelgrab mochte im Nachhinein vielleicht nahe liegend sein, doch erst einmal darauf zu kommen, war ein Geniestreich. Und vielleicht sogar ihrer aller Rettung.

»Du meinst also«, begann Chris und behielt dabei nervös den Schatten im Auge, der sich mit wirbelnden Tentakeln dem Hügel näherte, »wir stehen quasi auf der Bodenstation dieser Verbindung zum Mond?«

»Genau«, bestätigte Kyra. »Hier muss er heute Abend erschienen sein, nachdem die Mondfinsternis vorbei war. Und von hier aus wird er wieder in seine Verbannung zurückkehren.«

»Nachdem er seinen Auftrag erfüllt hat«, bemerkte Nils griesgrämig.

Kyra schüttelte eilig den Kopf. »Wir müssen ihn nur hier herauflocken – na ja, wenigstens hoffe ich das.«

»Du glaubst, die Mondmagie wird ihn von ganz allein wieder nach dort oben ziehen?«, fragte Lisa, die als Erste begriffen hatte, auf was Kyra hinauswollte.

Kyra nickte.

Nils aber zog ein langes Gesicht. »Ihr habt zwei Dinge vergessen. Erstens: Er wird wissen, was ihn erwartet, deshalb wird er gar nicht erst hier raufkommen. Und zweitens: Seine Fangarme sind lang genug, um uns zu packen, ohne dass er das Grab betritt.«

»Sie reichen vielleicht bis zur Mitte«, verbesserte ihn Kyra, »aber nicht von einer Seite zur anderen. Wir müssen nur immer an den Rändern bleiben, dann kommt er nicht an uns heran.«

»Das wird ’ne ziemliche Rennerei werden«, meinte Lisa. Die Furcht schnürte ihr fast den Atem ab. Es war beruhigend, sich über Dinge wie die Länge von Tentakeln Gedanken machen zu müssen – das lenkte sie von dem ab, was dort unten unbarmherzig auf sie zukam.

»Klingt alles wunderbar … in der Theorie«, sagte Chris zweifelnd.

Lisa stieß ihn mit dem Ellbogen an und deutete den Hügel hinab. Der Mann im Mond begann gerade mit dem Aufstieg.

»Vergiss die Theorie«, zischte sie tonlos. »Da vorne kommt die Praxis.«