Aber sie warnten Kyra und die anderen nicht nur – sie zogen die Diener der Finsternis auch an wie ein Magnet. Seitdem waren die vier Freunde nirgends mehr sicher. Überall mochten ungeahnte Schrecken auf sie lauern, jederorts verfolgte sie die Furcht vor der Dunkelheit und vor dem, was sie daraus beobachten mochte.

Auch jetzt war Kyra die Schwärze, die sie auf allen Seiten umgab, alles andere als gleichgültig. Trotzdem: Wenn sie auch nur ansatzweise ein Leben führen wollte, wie andere Jugendliche ihres Alters es taten, musste sie gewisse Risiken eingehen. Damit hatte sie sich allmählich abgefunden.

Etwas raschelte in den Büschen. Links von ihr.

Kyra wirbelte herum.

Wenn man vom Teufel spricht, dachte sie …

Aber es war nicht der Teufel. Auch keiner seiner Diener.

Es war Chris.

»Hi!«, meinte er knapp. Wie immer trug er pechschwarze Kleidung und hob sich kaum von der Dunkelheit ab. Auch sein Haar war schwarz. Im Augenblick war es ein wenig zerzaust, so als sei er gerannt.

Kyra atmete erleichtert auf. »Scheiße. Hast mich ganz schön erschreckt.«

»Ich hab geklingelt, aber es hat keiner aufgemacht.«

Natürlich, die Sicherung! »Ich hab den Strom abgeschaltet. Wahrscheinlich hängt die Klingel mit dran.«

Chris schaute sich im dunklen Garten um.

»Wieso läufst du hier draußen rum? So ganz ohne Licht … und ohne Strom?«

Kyra seufzte und deutete zum Himmel. »Die Mondfinsternis. Ich wollte zuschauen.«

Die helle Sichel war jetzt so schmal, dass man sie mit bloßem Auge kaum noch erkennen konnte. Chris suchte einige Sekunden lang mit seinen Blicken den schwarzen Nachthimmel ab, ehe er die kläglichen Überreste des Vollmondes entdeckte.

»Hmhm«, meinte er, was nicht besonders intelligent klang (und das, obwohl Chris ziemlich intelligent war – so schwer es Kyra auch fiel, das zuzugeben). »Find ich nicht so besonders beeindruckend.«

»Aber ich«, gab sie trotzig zurück. Das Letzte, was sie jetzt brauchte, war jemand, der ihr erklärte, dass sie anders war.

Denn normal wollte Kyra mehr als alles andere sein.

Mochte ihre Mutter auch eine berüchtigte Hexenjägerin gewesen sein, die zahllosen Kreaturen der Hölle den Garaus gemacht hatte; und mochte dieses Erbe auch auf Kyra übergegangen sein – alles, was sie wollte, war, so zu sein wie alle anderen.

Insgeheim aber wusste sie, dass das unmöglich war. Sie war nun mal eine Trägerin der Sieben Siegel. Und mehr noch als ihre drei Freunde spürte sie die Verantwortung, die mit den magischen Malen einherging.

»Ist das Konzert schon zu Ende?«, fragte sie.

Chris schüttelte den Kopf. »Es ist nach zehn. Sie mussten die Lautstärke runterdrehen. Danach war’s langweilig.«

Das war noch eines der Ärgernisse, die Kyra heute Abend in Kauf nehmen musste. Einmal im Jahr fand auf der Wiese vor Giebelsteins Südtor ein Rockkonzert statt, mit Bands aus der Gegend. Nichts Besonderes, aber irgendwie doch ganz witzig. Einfach rumhängen, über die Musik meckern und zuschauen, wie sich die älteren Jugendlichen lächerlich machten, wenn sie ein paar Bier zu viel getrunken hatten. Kleinstadtattraktionen eben. Trotzdem hätte Kyra eine Menge dafür gegeben, gerade heute dabei sein zu können. Sie hatte eine ihrer »Phasen«, wie Tante Kassandra es nannte. Sie hätte aus allen möglichen Gründen losheulen können, und wenn es auch nur so was Albernes wie ein verpasstes Konzert war. Ihre Tante verstand das gut, aber sie hatte die Theaterkarten schon vor Monaten gekauft, und der Termin ließ sich nun mal nicht mehr verschieben.

»Dir geht’s nicht gut, oder?«, bemerkte Chris mit leichter Sorge im Blick.

»Ich komm schon klar. Danke.«

»Wenn es nur wegen des blöden Konzerts ist, dann –«

Kyra unterbrach ihn. »Nicht deswegen. Ich bin in Ordnung, wirklich.«

Einen Augenblick lang sah Chris aus, als wollte er tröstend einen Arm um sie legen. Liebe Güte, dachte Kyra, wenn Lisa das sehen könnte …

Lisa war schrecklich verliebt in Chris, und alle schienen das zu bemerken, außer Chris selbst. Er wiederum machte Kyra schöne Augen, und eigentlich fand sie das ganz angenehm. Vor allem heute Abend. Sie konnte ein wenig Trost gut gebrauchen, auch wenn sie das um nichts in der Welt offen zugeben würde.

Aber Chris nahm sie nicht in den Arm. Vielleicht schämte er sich. Kyra redete sich ein, dass es wahrscheinlich ohnehin ziemlich unbeholfen ausgesehen hätte.

Wenn da einen Moment lang ein Knistern zwischen ihnen in der Luft gelegen hatte, so verschwand es jetzt abrupt.

Chris atmete tief durch. »Komm, wir gehen ins Haus.«

Kyra schaute zum Himmel. Keine Spur mehr vom Vollmond, so als hätte ihn ein schwarzes Loch verschluckt, das als Nächstes auch sie selbst, Chris und die ganze Welt verschlingen würde.

Tante Kassandra nahm Johanniskraut, wenn sie solche Launen hatte. Kyra griff stattdessen zu ihrer lauwarmen Cola, die auf dem Wohnzimmertisch stand. Sie schmeckte wie Spülwasser.

Chris schloss hinter sich die Terrassentür. »Wo ist der Sicherungskasten?«

Kyra stellte die Dose ab. Erst jetzt fiel ihr wieder auf, wie dunkel es im Haus war. Die Schwärze schien von allen Seiten einen Satz auf sie zuzumachen wie eine Horde geschmeidiger Panter.

»Ich mach das schon«, sagte Kyra und tastete sich am Sofa und dem erloschenen Kaminfeuer vorüber.

Irgendwo hinter ihr stolperte Chris polternd über Tommys Bauklötze. Fluchend ließ er sich in einen Sessel fallen und schimpfte ausgiebig über sein angeschlagenes Knie.

Kyra erreichte die Wohnzimmertür. Vor dem letzten Schritt durch den Türrahmen zögerte sie plötzlich.

Etwas war anders.

Sie war nicht sicher, was es war. Aber irgendetwas hatte sich verändert.

Das Rechteck der Tür war rabenschwarz. Der Flur lag in völliger Finsternis, so undurchdringlich, als hätte jemand einen Vorhang vorgezogen. Kyra hatte mit einem Mal das Gefühl, die Schwärze berühren zu können, wenn sie die Hand danach ausstreckte.

Aber die Dunkelheit war nicht ungewöhnlich. Nicht ohne Strom. Nicht ohne Licht.

»Bleib ganz ruhig«, sagte sie sich. »Krieg jetzt nur keine Panik. Nicht, wenn Chris dabei ist. Und außerdem: Seit wann fürchtest du dich im Dunkeln?«

Das tat sie nicht, nein, gewiss nicht. Auch wenn sie seit dem ersten Erscheinen der Sieben Siegel allen Grund dazu hatte.

Die Herdbeleuchtung!

Natürlich, das war es! Als sie die Sicherung ausgeschaltet hatte, war das kleine Licht unter der Abzugshaube in der Küche immer noch an gewesen. Der Schein war hinaus in den Flur gefallen und hatte ihr den Weg zurück ins Wohnzimmer gewiesen.

Jetzt aber war es aus.

Oder, nein, nicht aus. Es wurde verdeckt. Von etwas, das den gesamten Flur ausfüllte.

»Kyra!«, rief plötzlich Chris hinter ihrem Rücken. »Die Siegel …!«

Sie musste nicht erst auf ihren Unterarm schauen, um zu wissen, was er meinte. Die Sieben Siegel waren erschienen.

Etwas war hier im Haus. Vor ihr im Flur!

Sie federte einen Schritt zurück, und im gleichen Moment hatten sich ihre Augen endlich an die Finsternis gewöhnt. Sie erkannte, was dort draußen im Gang war.

Kein Mensch. Kein Monster.

Es waren Zweige. Ein dichtes Dickicht aus Dornenzweigen. Sie hatten den gesamten Korridor zugewuchert, so lückenlos, dass nicht einmal das Licht aus der Küche hindurchdrang.

»Chris!« Sie schrie seinen Namen und war noch in der selben Sekunde bei ihm, riss ihn am Arm aus dem Sessel.

Er stellte keine Fragen. Der Anblick der Siegel war Erklärung genug. Es ging wieder los. Schon wieder.

Kyra erreichte die Terrassentür und riss den Hebel herunter. Die riesige Glaswand schob sich zur Seite. Ein kühler Windstoß wehte den beiden Freunden entgegen.

Sie hatten kaum die Terrasse betreten, als vor ihnen ein lautes Knistern und Rasseln ertönte, wie von einem Bulldozer, der durch das Unterholz eines Waldes walzt.

Dornenzweige rasten wie Tentakel eines Oktopus auf sie zu, von irgendwo aus der Finsternis. Chris und Kyra sprangen schreiend zur Seite. Ein ganzes Bündel Zweige schoss an ihnen vorüber. Wie der Gewebestrahl einer Riesenspinne fächerten die Äste auseinander und verschlossen die offene Tür. Das Dornendickicht, das jetzt den ganzen Eingang ausfüllte, sah aus wie hölzerner Stacheldraht.

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