Dornentanz

Die Sängerin bewegte sich mit der Grazie einer Raubkatze über die Bühne. Sie trug einen hautengen, dunklen Overall. Ihr langes, schwarzes Haar wogte und wirbelte wie das Schlangenhaupt der Medusa. Trotz ihrer hohen Absätze sprang und tanzte sie mit einer Eleganz über den Köpfen des Publikums, die vor allem die Mädchen neidisch machte.

Ihre Stimme war hell und klar; sie übertönte mühelos die Instrumente der Musiker, die im Schatten jenseits der Scheinwerfer spielten. Die Männer waren nur als Silhouetten zu sehen, vage Umrisse im Hintergrund der Bühne, auf die sich kein Lichtstrahl verirrte. Allein die geschmeidige Sängerin tobte durch die gleißenden Lichtkegel, rasant und verführerisch, und verwandelte die vorderen Reihen des Publikums in einen Hexenkessel.

Keiner hatte je zuvor von ihr gehört, aber alle waren hellauf begeistert. Für eine Unbekannte war ihr Auftritt erstaunlich professionell, doch auf den Plakaten tauchte nicht einmal ihr Name auf.

Schließlich stimmte sie das letzte Lied des Abends an. Es endete mit einem aufregenden Feuerwerk, das nicht nur die Bühne, sondern auch Teile der Festwiese und des Himmels in Flammen tauchte.

Der Applaus währte minutenlang. Die Sängerin verbeugte sich knapp, dann verschwand sie hinter der Bühne. Es gab keine Zugaben. Oben am Himmel wurde gerade der Mond vom Erdschatten verdunkelt.

Ein Großteil der jugendlichen Zuschauer strömte auseinander und verschwand durch das Stadttor in den Straßen und Gassen Giebelsteins. Einige der älteren blieben auf der Wiese sitzen, in kleinen Gruppen, palaverten, rauchten, tranken Bier und Cola.

Nils schaute auf seine Uhr. »Halb zwölf«, sagte er. »Mama und Papa werden schon am Fenster hocken.«

Lisa, seine Schwester, schüttelte den Kopf und klopfte sich Gras vom Minirock. »Sie wollten früh ins Bett gehen. Die werden gar nicht merken, wann wir nach Hause kommen.«

Seit das Hotel Erkerhof – oder Kerkerhof, wie Nils und Lisa das düstere Gemäuer nannten – umgebaut und renoviert wurde, waren ihre Eltern jeden Abend fix und fertig. Handwerkertrupps hielten sie den ganzen Tag auf Trab, und zudem musste für den einen oder anderen Gast gesorgt werden. Viele waren es noch immer nicht, aber alle hofften, dass es mehr werden würden, wenn die Renovierung erst abgeschlossen war.

»Wo steckt eigentlich Chris?«, fragte Lisa mit einem Mal und schaute sich auf der Festwiese um. Oben auf der Bühne machten sich Helfer an Lautsprechern und Kabelsträngen zu schaffen.

»Keine Ahnung«, entgegnete Nils schulterzuckend. »War plötzlich weg.«

»Glaubst du, er ist zu –«

»Zu Kyra gegangen?«, führte Nils Lisas Satz zu Ende. Er zwinkerte ihr zu. »Eifersüchtig?«

»Ha, ha«, sagte sie giftig.

»Wir könnten hinlaufen. Mal sehen, was die beiden so treiben.«

Lisa schnitt ihm eine Grimasse, nickte aber dann. »Von mir aus.«

Zwei Minuten später eilten sie durchs Stadttor, die gepflasterte Hauptstraße entlang nach Norden. Sie mussten mehrfach abbiegen, durch enge Gässchen und Schneisen laufen, vorbei an uralten Fachwerkhäusern, Türmen aus Bruchstein und kleinen Plätzen, auf denen schmuckvolle Brunnen einsam vor sich hin plätscherten.

Ruths Haus lag im Westen Giebelsteins, an einer Stelle, wo ein Stück der Stadtmauer eingestürzt war, was eine Erweiterung der Grundstücke nach außen hin erlaubt hatte. Alle Häuser, die hier lagen, besaßen riesige Gärten, manche regelrechte Parkanlagen.

Das Haus, in dem Ruth lebte, war keine Ausnahme. Sie hatte es von ihren Eltern geerbt und mit dem Geld, das sie bis zu Tommys Geburt als Immobilienmaklerin verdient hatte, rundum erneuert. Allein stehend hin oder her – Ruth wohnte in einer der schönsten Villen Giebelsteins.

Lisa und Nils passierten die Toreinfahrt.

Durchs Küchenfenster fiel schwacher Lichtschein. Hinter allen übrigen Scheiben herrschte Dunkelheit. Hohe, alte Bäume beugten sich über die Auffahrt und flankierten das Gebäude wie schweigsame Wachsoldaten.

»Sieht aus, als wäre keiner da«, meinte Nils, als sie die Treppe zur Haustür hinaufstiegen.

»Das Wohnzimmer liegt nach hinten raus«, erwiderte Lisa. »Kyra wird fernsehen.«

»Vergiss Chris nicht«, stichelte ihr Bruder.

Lisa strafte ihn mit Missachtung. Sie wollte gerade auf den Klingelknopf drücken, als ihr etwas einfiel. »Wir können nicht klingeln. Davon wird der kleine Schreihals wach.«

Nils hob die Schultern. »Gehen wir halt hintenrum.«

Sie liefen an der Seite der Villa vorbei. Bäume und Büsche wucherten hier fast bis zur Hauswand.

Nils stolperte prompt über eine leere Gießkanne. Der hohle Laut hallte dröhnend durch den Garten.

»Komisch, dass die Lampen nicht angehen«, wunderte er sich. »Beim letzten Mal waren hier überall Bewegungsmelder.«

»Kyra wird vergessen haben, sie einzuschalten«, vermutete Lisa.

Sie bogen um die Ecke. Vor ihnen lag die dunkle Terrasse und der vordere Teil des Gartens. Im Licht des Vollmondes sahen die Tannen und Büsche aus, als wären sie mit Eis überzogen.

Die Fensterfront des Wohnzimmers war dunkel.

»Was ist denn das?« Nils deutete auf die Schiebetür. Der Durchgang war mit irgendetwas ausgefüllt, das aussah wie … Dornenranken!

Lisa blieb wie angewurzelt stehen. Ihr Blick raste instinktiv auf ihren Unterarm.

»Oh nein!«, entfuhr es ihr leise.

Nils schaute ebenfalls hin. Ein Zittern durchlief seinen Körper, als er die Sieben Siegel erkannte: vorzeitliche Schriftzeichen, die aussahen, als hätte ein mittelalterlicher Folterknecht sie mit heißem Eisen in die Haut gebrannt. Sie erschienen nur dann, wenn Gefahr drohte. Während der übrigen Zeit blieben sie unsichtbar.

Die Geschwister rückten enger zueinander. Ihre Blicke rasten nervös durch den dunklen Garten. Falls irgendwo Gegner lauerten – und die Siegel hatten noch nie getrogen –, bot sich ihnen eine Unzahl von Verstecken. Die Schatten waren schwarz wie das Innere eines Tintenfasses.

»Chris?«, fragte Lisa unsicher. »Kyra?«

Niemand gab Antwort. Nur die Bäume rauschten leise im Nachtwind.

Nils trat ans Wohnzimmerfenster und versuchte, einen Blick hineinzuwerfen. »Zu dunkel«, meinte er schließlich.

»Glaubst du, die sind noch da drinnen?«

»Keine Ahnung.«

Lisa trat vor das Gewirr aus Dornenzweigen, das den Eingang versperrte. Vorsichtig streckte sie eine Hand danach aus.

»Autsch!« Hastig zog sie den Arm zurück und machte zwei Schritte nach hinten. Ein Blutstropfen glänzte auf ihrem Zeigefinger.

»He, pass auf«, rief Nils und schaute besorgt auf die Wunde. »Was, wenn das Zeug giftig ist?«

Lisa sah einen Augenblick lang zutiefst erschrocken aus, beruhigte sich dann aber schnell wieder. »Mach mir nur Mut. Vielen Dank!«

»Ich mein ja nur.«

»Ich hab die Dornen eigentlich gar nicht angefasst«, sagte Lisa und steckte sich den blutenden Finger in den Mund.

Als Nils sie verwundert ansah, fügte sie nuschelnd hinzu: »Die Schweige haben sisch bewegt. Schie schind auf misch schugekommen.«

Nils stöhnte. »Wir müssen die anderen finden. Und wenn ich die Scheibe einschlagen muss.«

»Tolle Idee. Die Alarmanlage wird losgehen.«

Lisa schaute sich suchend auf der Terrasse um. Plötzlich entdeckte sie etwas.

»Schau mal! Da drüben!«

Sie deutete auf eine Schneise zwischen den Bäumen. Es sah aus, als sei der Einschnitt mit Gewalt durch Äste und Buschwerk getrieben worden, so, als hätte ein Amok laufender Riese das Laub und die Tannenwedel mit bloßen Händen auseinander gerissen.

Lisa straffte sich und ging voraus, ohne auf Nils’ Reaktion zu warten.

»He«, rief er ihr gepresst hinterher, »sollten wir nicht erst mal überlegen, ob –«

Sie unterbrach ihren Bruder, ohne sich umzusehen. »Chris und Kyra sind irgendwo dahinten. Und sie brauchen unsere Hilfe. Das weißt du so gut wie ich.«

Nils seufzte ergeben und folgte ihr. Noch während sie den Rasen überquerten, holte er auf und ging neben seiner Schwester.

Der Mond hatte jetzt wieder seine volle Größe. Im Näherkommen konnten sie die Schneise ein wenig besser erkennen.

Keiner von beiden hatte jemals etwas Vergleichbares gesehen.

Der Einschnitt war etwa drei Meter breit. Er zog sich durch die gesamte Baumgruppe, ein langer Korridor inmitten des Geästs. Zu beiden Seiten wuchsen Mauern aus Dornenzweigen empor, die die Zweige und Baumkronen hinter sich zurückdrängten. Das wild wuchernde Gestrüpp voller Dornen, scharf wie Rasiermesser, wirkte feindselig und bedrohlich. Es kostete einige Überwindung, dazwischen hindurchzugehen.

»Wo kommt das Zeug her?«, fragte Nils kleinlaut. Er schien zu befürchten, die gefährlichen Dornenwände rechts und links von ihnen könnten plötzlich zusammenrücken und sie zerquetschen.

»Frag mich was Leichteres.« Lisa eilte die Schneise entlang und bemühte sich, die Seiten des bizarren Durchgangs nicht zu beachten.

»Ich hab keine Lust, darüber nachzudenken.«

Nach etwa zehn Metern erreichten sie die andere Seite der Baumgruppe. Das Dornengeäst blieb zurück.

Vor ihnen öffnete sich eine weitere Rasenfläche, die in einiger Entfernung an einen Zaun grenzte. Dahinter lagen die grünen Hügel und Wiesen des Giebelsteiner Umlands.

Der Zaun war auf einer Länge von gut fünf Metern zerstört. Dornenranken wucherten um die zerfetzten Ränder, als wären sie wie ein Keil dazwischengetrieben worden und hätten das Maschengeflecht gesprengt.

»Dahinten!«, rief Lisa.

In einiger Entfernung hetzten zwei winzige Gestalten eine Hügelflanke hinauf. Weißes Mondlicht lag über den Wiesen und Hecken. Es fiel nicht schwer, Kyra und Chris zu erkennen.

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