Aber sie waren nicht allein.

Etwas war ihnen auf den Fersen.

»Was ist das?« Lisa hörte sich reden, aber ihre Stimme klang, als gehöre sie einer Fremden.

Eine dritte Gestalt ging langsam den Hügel hinauf. Aus ihrem Rücken wuchsen lange, dünne Tentakel, die wirbelnd und zuckend durch die Luft fächerten. Die Entfernung der Kreatur zu Kyra und Chris betrug etwa dreißig Meter. Immer wieder stießen einige der schrecklichen Fangarme vor, wurden länger und länger und versuchten, die Flüchtenden zu packen. Die Bewegungen der Tentakel wirkten seltsam eckig und steif, nicht geschmeidig wie die eines Tintenfischs.

»Es sind die Zweige!«, murmelte Nils völlig starr vor Schreck. »Die Dornenzweige kommen aus seinem Rücken!«

Lisa rannte bereits weiter.

»Bist du verrückt?«, rief Nils ihr hinterher. »Was glaubst du, wem du hilfst, wenn du dich mit diesem … diesem Ding anlegst?«

»Sollen wir hier rumstehen und zusehen?«

»Wir können es nicht aufhalten – geschweige denn uns dagegen wehren.«

Kyra und Nils verschwanden jenseits des Hügelkamms. Die Gestalt blieb oben auf der Kuppe stehen. Sie zögerte.

Dann drehte sie sich um.

Obwohl Lisa kein Gesicht erkennen konnte, wusste sie, dass die Augen des Wesens sie über die Entfernung hinweg fixierten. Es war ein Gefühl, als erstarrten ihre Innereien zu Eis. Sie konnte diese unsichtbaren Blicke auf ihrer Haut spüren wie Nadelstiche.

Sie ahnte, welcher Gedanke der Kreatur durch den Kopf ging: Waren Lisa und Nils eine leichtere Beute als die beiden anderen?

Lisa hatte nicht vor, dem Wesen die Chance zu geben, sich Gewissheit zu verschaffen. Sie fuhr herum, gab Nils einen kräftigen Stoß gegen den Arm und rannte zurück zum Haus. Ihr Bruder schien erleichtert, dass sie doch noch zur Vernunft gekommen war. Ohne zu zögern, stürmte er hinterher.

Sie waren bereits mitten in der Dornenschneise, als Lisa plötzlich wie angewurzelt stehen blieb. Das Geäst rauschte leise, bewegte sich wie Gewürm auf dem Grunde einer Schlangengrube.

»Das ist nur der Wind«, beruhigte Nils sie atemlos. »Komm, weiter.«

Aber Lisa zögerte noch immer. Sie wagte sich nicht weiter, aus Angst, jeder weitere Schritt könnte das unheimliche Dornendickicht zum Leben erwecken.

Nils zog ungeduldig an ihrem Arm. »Wir müssen hier weg!«

»Die Zweige … auf seinem Rücken … sie haben gelebt.«

»Ja, natürlich«, entgegnete er entnervt. »Aber die hier sind tot, das siehst du doch!«

Er glaubte nicht wirklich daran – war sich zumindest alles andere als sicher –, aber es würde das Ganze nur noch schlimmer machen, wenn sie ihrer Angst jetzt nachgaben und einfach stehen blieben. Lisa wusste das natürlich genauso gut wie er, aber manchmal lässt einen der Schock einfach Dinge tun, die dem Verstand widersprechen.

Es war schon sonderbar. Eben noch hatte Nils sich vor den Dornenwänden gefürchtet; jetzt aber war Lisa diejenige, die kaum noch Luft bekam vor Furcht. Ihr Bruder musste sie regelrecht hinter sich herzerren, bis sie endlich wieder den Rasen vor der Terrasse erreichten.

Lisas Schockzustand löste sich allmählich.

Mochten ihr und den anderen noch so viele Monster und Kreaturen der Finsternis begegnen, es bewahrte keinen von ihnen davor, hin und wieder solche Aussetzer zu haben – Augenblicke, in denen die Angst sie übermannte wie eine Sturmflut. Es passierte jedem von ihnen, und immer dann, wenn sie es am wenigsten gebrauchen konnten.

Die Geschwister rannten am Haus vorbei. Im Dunkeln stolperte Nils erneut über die Gießkanne, und er wäre gestürzt, hätte Lisa ihn nicht geistesgegenwärtig festgehalten und zurück auf die Beine gezogen.

Als sie endlich die Straße erreichten und in das nächtliche Gassengewirr Giebelsteins eintauchten, wagten sie zum ersten Mal wieder, hinter sich zu blicken. Sie sahen nicht, ob sie verfolgt wurden; sie waren bereits um zu viele Ecken gelaufen, und ihr Gegner konnte hinter jeder einzelnen lauern.

Auch wussten sie nicht, wie schnell er war. Konnte er sich einfach an einem Ort in Luft auflösen und an einem anderen wieder erscheinen? Würde er sie vielleicht aus der Luft angreifen wie ein Falke aus dem pechschwarzen Nachthimmel?

Nicht daran denken!, hämmerte sich Lisa ein. Nur nicht daran denken!

Ein Rascheln war zu hören. Gleich hinter der letzten Biegung.

Lisa ballte beide Hände zu Fäusten. Sie hasste es, so hilflos zu sein.

Aber um die Ecke klapperte lediglich ein leerer Pappbecher, den der Wind über das holprige Pflaster trieb.

Die Geschwister atmeten auf.

»Wohin?«, fragte Nils keuchend. Er hatte Seitenstechen und presste seine Hand in die Taille.

Lisas Gedanken wirbelten umher wie verängstigte Schmetterlinge. Bilder der schrecklichen Gestalt mit den Tentakelzweigen, von Chris und Kyra auf der Flucht und immer wieder von ihr selbst, eingewoben in ein Nest von Dornenranken, geisterten ihr durch den Kopf. Es war schwer, sich dabei auf einen Plan zu konzentrieren.

»Wohin werden Chris und Kyra wohl laufen?«, fragte sie leise, wie in einem Selbstgespräch.

Die Antwort gab sie sich gleich darauf selbst, und sie konnte Nils ansehen, dass er auf Anhieb den gleichen Gedanken fasste.

Sie nickten einander zu, in stummem Einverständnis.

Ein letztes tiefes Durchatmen, dann rannten sie los.