Der Fluch des Fremden

Kyra lieferte Tommy bei Ruths Nachbarin ab. Die Frau war alles andere als erfreut, um diese Uhrzeit aus dem Schlaf gerissen zu werden. Von den Ereignissen im Nachbarhaus hatte sie nichts bemerkt, und sie beschimpfte Kyra aufs Übelste, als diese ihr kurzerhand erklärte, sie könne sich heute nicht weiter um den Kleinen kümmern.

Kyra ließ die wetternde Frau mit dem Kind im Arm zurück und lief zurück zu ihren Freunden, die unten an der Straße auf sie warteten. Alle waren angespannt. Lisa kaute an ihren Fingernägeln.

Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zu Kyras Haus.

Der Fachwerkbau grenzte unmittelbar an das nördliche Stadttor. Im Erdgeschoss befand sich Tante Kassandras Teeladen. Der Schein einer einzelnen Straßenlaterne fiel schräg durchs Schaufenster und brach sich auf den lackierten Teedosen in den Regalen.

Kyra führte ihre Freunde durch die schmale Toreinfahrt neben dem Geschäft auf einen winzigen Innenhof. Er war übersät mit Pflanzenkübeln und Blumenkästen. Efeu und wilder Wein rankten an den Mauern empor.

Kyra blieb abrupt stehen.

Die Hintertür zur Küche stand offen.

»Jemand ist hier«, zischte Kyra und hielt die anderen zurück.

Chris löste sich aus der Gruppe und trat vorsichtig an die offene Tür. Dahinter herrschte tiefe Dunkelheit.

»Du stellst nicht zufällig überall den Strom ab, wo du hingehst, oder?«, flachste er, aber niemand lachte.

»Geh nicht so nah ran«, flüsterte Lisa ihm besorgt zu.

Chris streckte eine Hand nach dem Türrahmen aus. Er hob eine Augenbraue, als er an der Innenseite etwas ertastete.

»Was ist da?«, fragte Kyra und eilte zu ihm.

Chris zog die Hand zurück. Zwischen seinen Fingern hielt er ein abgebrochenes Stück Dornenranke. Eine seiner Fingerkuppen blutete leicht. »Baut deine Tante vielleicht verbotene Pflanzen in ihrer Küche an?«

Kyra war bleich geworden. »Er ist hier.«

»Vielleicht haben wir ihn verpasst …«, meinte Chris und fügte hinzu: »Tommy sei Dank.«

Nils setzte sich in Bewegung und wollte zurück zur Hofeinfahrt. »Nix wie weg hier.«

»Jemand muss nach den Büchern sehen«, sagte Chris.

Nils starrte ihn fassungslos an. »Selbstmord wegen ein paar alter Schinken? Wir wissen ja nicht mal, ob irgendwas drinsteht, das uns gegen diesen Mistkerl hilft.«

Kyra drehte sich zu ihm um. »Chris hat Recht. Alles, was wir sonst tun können, ist, vor ihm davonzulaufen. Und am Ende werden ihn die Siegel immer wieder zu uns führen. Wir haben –«

»Keine Wahl, ich weiß«, unterbrach Nils sie. »Dein Lieblingssatz.«

Kyra seufzte und wandte sich zur Tür. »Ihr wartet alle hier. Ich schaue nach den Büchern.«

»Ich komme mit«, sagte Chris.

Kyra schüttelte entschieden den Kopf. »Nein. Ich weiß, wo ich die richtigen Bände finde. Dafür brauche ich nun wirklich kein Kindermädchen.«

Chris wirkte ein wenig beleidigt, gab aber nach. »Wie du meinst.«

Wortlos tauchte Kyra in die Dunkelheit der Küche.

Es war zu finster, um zu erkennen, wo der Mann im Mond seine Spuren hinterlassen hatte. Kyra lief zielstrebig zu einer Schublade, in der ihre Tante eine Taschenlampe aufbewahrte, damit sie und Kyra auch im Dunkeln auf dem unbeleuchteten Hof Kaminholz holen konnten.

Kyra ließ das Licht aufflammen – und wünschte noch im gleichen Moment, sie hätte es nicht getan.

Die Decke der Küche war mit Dornenranken eingesponnen, die sich entlang der beiden Türen bis hinab zum Boden erstreckten. Obwohl von ihnen keine direkte Gefahr ausging – die Zweige bewegten sich nicht und schienen ohne Leben zu sein –, war der Anblick beinahe zu viel für Kyra. Angst legte sich auf ihre Brust wie ein Zentnergewicht.

Egal – sie musste weiter!

Es kostete sie einige Überwindung, durch die Küchentür hinaus in den Flur zu treten. Sie fand den Lichtschalter und drückte darauf. Die Strahler an der Decke warfen grellen Schein in alle Winkel des Flurs und des Treppenhauses.

Auch hier zogen sich vereinzelte Dornenranken über Wände und Decke, aber es war nicht so schlimm wie in der Küche. Vielleicht hatte der Mann im Mond sich hier nicht so lange aufgehalten.

Kyra atmete tief durch, dann hastete sie, ohne nachzudenken, die Treppe hinauf, hoch in den ersten Stock, in Tante Kassandras Bücherzimmer.

Der Raum machte seinem Namen alle Ehre. Vom Boden bis zur Decke wuchsen eng bestückte Bücherregale empor. Auch auf dem Teppich türmten sich hohe Stapel von Bänden allen Alters, vom zerfledderten Taschenbuch bis zum uralten Folianten. Die meisten Bücher beschäftigten sich mit Esoterik, Okkultismus und der Zubereitung exotischer Teesorten. Auf der Innenseite der Tür hing ein vergilbtes Woodstock-Plakat. Über dem durchgesessenen Lesesessel baumelte ein Fächer von der Decke, der mit Hilfe einer Schnur bedient werden konnte – er hatte die Form eines überdimensionalen Hanfblattes.

Dornenzweige waren nirgends zu sehen, sie endeten unten auf der Treppe. Der Mann im Mond musste sich zurückgezogen haben, als er bemerkt hatte, dass sich niemand im Haus aufhielt. Kyra schauderte bei dem Gedanken, was geschehen wäre, wenn ihre Tante heute nicht mit Ruth ins Theater gefahren wäre.

Zielstrebig trat sie an das Regal, in dem Kassandra ihre Bücher über Aberglauben und Naturreligionen aufbewahrte. Wenn überhaupt, würde Kyra nur hier fündig werden.

Vergeblich suchte sie nach einem Band, der sich schon im Titel auf den Mond bezog, bis sie dann wahllos ein Buch in englischer Sprache hervorzog. Curious Myths of the Middle Ages, stand als Titel darauf – Sonderbare Mythen des Mittelalters. Der Name des Autors war S. Baring-Gould, was nicht einmal Aufschluss darüber gab, ob es sich um einen Mann oder um eine Frau handelte. Der Band stammte aus dem Jahr 1867, und entsprechend zerlesen und brüchig waren seine Seiten.

Sie hatte Glück: Eine der Legenden, die das Buch behandelte, war die vom Mann im Mond.

Kyra schob sich das Buch unter den Arm, suchte noch eine Weile weiter, fand aber nichts Erfolg Versprechendes. Chris würde sich den Band vornehmen müssen. Sein Vater war Diplomat gewesen, ehe er sich in Giebelstein zur Ruhe gesetzt hatte, und Chris hatte seine Kindheit in einem halben Dutzend verschiedener Länder verbracht. Er beherrschte sechs Sprachen, vier davon fließend. Das Buch würde ihm keine Probleme bereiten.

Sie verließ das Bücherzimmer und trat ins Treppenhaus, als ihr von unten schon die anderen entgegenkamen. Polternd stürmten sie die Stufen herauf, atemlos, blanke Panik in den Augen.

»Er … kommt!«, keuchte Chris, der vorneweg lief.

Kyras Magen krampfte sich zusammen. »Wo ist er?«

»Auf dem Hof … Er hat … die Einfahrt versperrt … mit den Zweigen.«

»Er kam plötzlich von der Straße«, rief Lisa. »So als hätte er nur darauf gewartet, bis wir in der Falle saßen.«

Kyra überlegte nicht lange. »Los, weiter nach oben.«

Auf dem Dachboden hatte Kyra ihr Zimmer eingerichtet. Durch eine Dachluke konnte man ins Freie gelangen. Das war besser als nichts – besser zumindest, als hier im Treppenhaus abzuwarten, bis die ersten Dornenranken einem die Luft abschnürten.

In Kyras Zimmer herrschte das übliche Chaos. Die vier sprangen über umherliegende Wäschestücke, aufgeschlagene Bücher und Comics, offene CD-Hüllen und die Sporttasche, die seit der letzten Turnstunde ungeöffnet auf dem Boden lag. Kyra war als Erste an der Dachluke und riss sie auf. Kühle Nachtluft schlug ihr entgegen.

Über das Dach konnte man einigermaßen gefahrlos zu einem der Türme des Stadttors klettern. Unten am Eingang war der Turm mit Brettern verrammelt, aber hier oben konnte man durch eine der alten Schießscharten einsteigen. Die Freunde waren schon mehr als einmal dort gewesen. Als Versteck war der Turm fast so gut wie das Hügelgrab.

Der Weg der vier verlief parallel zur Regenrinne, dahinter klaffte der Abgrund des Innenhofs. Irgendwo dort unten war der Mann im Mond mit seinen Dornententakeln – wenn er nicht schon unterwegs war und ihrer Spur durchs Haus folgte.

»Scheiße, Scheiße, Scheiße!«, fluchte Nils, als er als Letzter hinaus aufs Dach kletterte. Die Schräge war ungemein steil, die Schindeln mit Moos bewachsen. Es hatte schon seit Tagen nicht mehr geregnet; solange das Dach nicht feucht wurde, war das Risiko, abzurutschen, überschaubar.

Was freilich nichts daran änderte, dass Angst unvorsichtig macht. Chris wäre fast in die Tiefe geschlittert, als er sekundenlang seinen sicheren Halt verlor. Kyra und Lisa gelang es im letzten Moment, ihn festzuhalten und weiterzuziehen. Hinter ihnen schimpfte Nils fortwährend wie ein Rohrspatz.

Kyra, die an der Spitze kletterte, erreichte die Schießscharte des Torturms. Sie wollte sich gerade hindurchziehen, als hinter ihrem Rücken etwas aus der Tiefe emporschoss.

Eine regelrechte Explosion aus Dornenzweigen peitschte aus dem Abgrund herauf, ein verästelter Strang, der an seiner Spitze auseinander faserte. Die einzelnen Enden tasteten suchend durch die Luft, auf der Suche nach Beute, nach Opfern.

Einer der stachligen Fangarme krachte unmittelbar hinter Nils auf die Dachschindeln. Schiefersplitter spritzten in alle Richtungen. Das Geräusch, das die Dornen auf dem rauen Stein verursachten, klang wie das Kreischen von Kreide auf einer Schultafel.

Kyra hechtete ins Innere des Turms, Chris und Lisa folgten ihr mit hektischen Bewegungen. Zuletzt packten sie Nils an den ausgestreckten Armen und zogen ihn herein.

Wie lange sie hier vor dem Mann im Mond in Sicherheit waren, wusste keiner zu sagen. Ein paar Minuten, Maximum. Wenn er ihnen über das Dach folgte, war ihr Schicksal besiegelt. Vorausgesetzt natürlich, er traf sie dann noch immer hier an.

»Wir müssen nach unten«, rief Chris aus und wollte die brüchigen Stufen hinabspringen.

»Und dann?«, erkundigte Nils sich keuchend. »Der Eingang ist verbarrikadiert. Da kommt keiner durch.«

»Nicht von außen«, bestätigte Kyra. »Aber von innen müsste es gehen, wenn wir uns nur fest genug gegen die Bretter werfen.«

Lisa fuhr sich aufgeregt durchs schweißnasse Haar. »Egal, was wir tun – wir sollten es, verdammt noch mal, schnell tun.«

 

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