»Was ich von euch will?«, sagte sie leise. »Euch töten. Dich töten. Genau wie deine Mutter.« Sie hatte eine schöne Stimme, und Kyra konnte sich vorstellen, wie herrlich es klingen musste, wenn sie sang. Kein Wunder, dass das Publikum begeistert gewesen war.

»Wer schickt dich?«, fragte Kyra. »Die Drei Mütter?«

Die Drei Mütter waren die Herrscherinnen des Arkanums, die schwarzen Göttinnen des Hexenzirkels. Niemand kannte sie, keiner hatte sie je mit eigenen Augen gesehen. Ihre Macht jedoch war allgegenwärtig. Es gab keine Hexe auf der ganzen Welt, die bei ihren Namen nicht vor Ehrfurcht erzitterte.

Mater Tenebrarum. Mater Suspiriorum. Mater Lacrimarum.

Die Mutter der Finsternis. Die Mutter der Seufzer. Die Mutter der Tränen.

»Die Mütter wissen, dass ich hier bin«, sagte die Hexe. »So, wie sie alles wissen. Aber sie haben mich nicht gesandt. Mach nicht den Fehler, deine Bedeutung zu überschätzen, Kyra Rabenson. Du bist nichts. Nur ein Kind.«

»Ich bin eine Trägerin der Sieben Siegel.«

Die Hexe nickte bedächtig. »Genau wie deine Freunde. Vier Kinder, jedes mit sieben Siegeln. Macht insgesamt achtundzwanzig Siegel. Und genauso viele Tode werdet ihr sterben, wenn ihr nicht ewigen Gehorsam schwört.«

Gehorsam?, durchfuhr es Kyra erstaunt. Dann wollte das Arkanum sie gar nicht um jeden Preis töten? Aber welchen Vorteil versprachen sich die Hexen davon, die Träger der Siegel auf ihrer Seite zu wissen?

Verbarg sich hinter den magischen Malen vielleicht eine größere Macht, als Kyra bisher angenommen hatte?

Hatten die Hexen gar einen Grund, sie und die anderen zu fürchten?

»Ihr wollt, dass wir uns euch anschließen?«, fragte Kyra zweifelnd.

Die Hexe lächelte noch immer. »Nur du, Kyra Rabenson. Deine Freunde sind unwichtig.« Und dabei hob sie lässig die rechte Hand, als wollte sie damit ein unsichtbares Wurfgeschoss auf die drei anderen schleudern.

»Nein!«, brüllte Kyra und machte einen hastigen Schritt nach vorne.

Die Hexe stieß ein helles Kichern aus und ließ die Hand wieder sinken. »Hast du Angst um sie? Sollten wir da vielleicht einen Schwachpunkt entdeckt haben?«

Schwachpunkt? Wovon redete dieses Miststück nur? Kyra war ein Teenager. Schwachpunkte hatte sie weiß Gott genug.

Oder aber – obwohl das doch völlig unmöglich war, nicht wahr? – verfügte sie vielleicht über Kräfte, von denen sie gar nichts wusste? Konnte sie den Hexen des Arkanums tatsächlich gefährlich werden?

Falls ja, dann wünschte sie sich schleunigst eine Art Gebrauchsanleitung: Folgen Sie den Anweisungen der Zeichnungen eins bis vier, und schon lösen sich alle Hexen in gelben Schwefelwolken auf …

»Wenn du meinen Freunden etwas antust, werde ich niemals eine von euch werden«, sagte Kyra mit fester Stimme.

Die Hexe zuckte mit den Schultern. »Dann stirbst du. Für mich macht das keinen Unterschied.«

»Was werden die Drei Mütter davon halten, wenn du versagst?«

»Versagen? Mein Auftrag ist es, dich zu überzeugen oder zu beseitigen. Rate, was mir mehr Spaß machen würde!«

»Der Mann im Mond hat längst schon versucht, uns zu töten.«

»Vielleicht wollte er euch nur Angst einjagen?«

»Um mich hierher zu locken?«

»Schlaues Kind. Ich habe auf dich gewartet. Es hat länger gedauert, als ich dachte.«

Kyra starrte sie durchdringend an. »Hast du meine Mutter getötet?«

Einen Augenblick lang war Schweigen zwischen ihnen wie eine fühlbare, greifbare Mauer. Dann sagte die Hexe: »Ich habe deine Mutter gekannt, Kyra Rabenson. Ich sah sie sterben. Aber ich bin nicht diejenige, die für ihren Tod verantwortlich ist. Ich hätte sie nicht töten können, selbst wenn ich es gewollt hätte. Deine Mutter war eine mächtige Frau.« Die Hexe sagte dies mit einer Ehrfurcht in der Stimme, die Kyra überraschte. Die Frau schien es zu bemerken, denn sie fügte hastig hinzu: »Sie war mächtig, Kyra Rabenson – du bist es nicht. Du wirst hier und jetzt sterben, wenn ich es will.«

Kyra wusste nicht, wie ihre Mutter ums Leben gekommen war. Früher, als sie noch ein kleines Kind gewesen war, hatten Tante Kassandra und Kyras Vater stets von einem Unfall gesprochen. Dass in Wahrheit das Arkanum dahinter steckte, war etwas, das Kyra geahnt hatte, seit sie zum ersten Mal von der Existenz des Hexenbundes erfahren hatte. Allerdings waren die Worte der Hexe die erste Bestätigung, die sie für ihre Vermutungen erhielt.

Kyra nahm all ihren Mut zusammen. »Ich glaube nicht, dass es mir bei euch gefallen würde. Arkanum … das klingt genauso langweilig wie Lateinstunden.« Sie gab sich Mühe, möglichst naiv zu klingen.

Die Hexe schmunzelte, aber ihre Augen verrieten, dass sich Zorn in ihr breit machte wie ein tückisches Gift. »Es gibt keine Langeweile in den Reihen des Arkanums. Nichts ist ermüdender, als immer nur gut zu sein. Dieses Problem kennen wir nicht. Wir sind niemals gut. Deshalb ist uns auch niemals langweilig.«

Natürlich ging es Kyra in Wahrheit nicht um Langeweile oder Spaß. Auch erwog sie nicht einmal im Traum, dem Arkanum beizutreten, egal, was ihr dafür geboten wurde. Alles, was sie wollte, war Zeit zu schinden. Zeit, bis ihr endlich eine rettende Idee kam.

»Verrate mir eines«, verlangte sie.

»Was willst du wissen?«

»Wie wird man so mächtig, dass einem sogar der Mann im Mond gehorcht?«

Die Hexe lächelte und konnte nicht verbergen, dass sie sich geschmeichelt fühlte. »Ich bin eine Mondhexe. Es gibt andere: Himmelhexen, Wasserhexen, Erdhexen, Nachthexen, Taghexen, Jenseitshexen … unendlich ist unsere Zahl. Niemand ist mörderischer als die Todeshexen, keine lieblicher als die Liebeshexen. Und niemand versteht mehr von der Macht der Gestirne als wir Mondhexen.«

Kyra gab vor, den Verlockungen des Arkanums allmählich zu erliegen. »Könnte ich auch so etwas sein … eine Jenseitshexe oder eine Mondhexe wie du?«

»Unser Gesang ist es, der uns Mondhexen Macht verleiht. Wenn du singen kannst, könntest du vielleicht eine von uns werden. Ja, ich denke, das könntest du tatsächlich.« Der Blick der Hexe wurde prüfend. »Würde dir das gefallen?«

»Schon möglich.« Kyra tat jetzt ungemein beeindruckt. »Wirst du mir dann die Lieder beibringen, um den Mann im Mond zu beherrschen?«

»Ich oder eine der anderen Mondhexen, ja, das würden wir.«

»Was für eine Hexe war meine Mutter?«

»Eine Verräterin«, erwiderte die Frau auf der Bühne eisig. »Sie hat dem Arkanum den Rücken gekehrt und uns bekämpft. Im Inneren war sie keine von uns und ist es nie gewesen.«

»Könnte ich mächtiger sein als sie?«

»Das wissen nur die Drei Mütter«, erwiderte die Hexe. Kyra war nicht sicher, ob das eine Floskel war, so wie gewöhnliche Menschen »Weiß der Himmel« sagen, oder ob die Hexe meinte, dass dieses Wissen tatsächlich nur die Drei Mütter besaßen.

»Dein Gesang, wie funktioniert er?«, fragte Kyra und versuchte, dabei möglichst harmlos dreinzuschauen.

Einen Moment lang sah es aus, als hätte sie den Bogen überspannt, denn Misstrauen geisterte wie ein Schatten über die Züge der Hexe.

»Ich meine«, fügte Kyra hastig hinzu, »wenn ich eine von euch werden soll, hätte ich ganz gerne so eine Art Vorgeschmack.«

Die Hexe musterte sie, immer noch voller Argwohn. Kyra fragte sich, ob sie wohl versuchte, ihre Gedanken zu lesen. Deshalb bemühte sie sich, an nichts zu denken, das ihre wahren Gefühle verriet.

Offenbar hatte sie Erfolg, denn die Züge der Hexe entspannten sich, und sie nickte. »Der Gesang schafft eine Verbindung«, sagte die Hexe nach einem Augenblick des Nachdenkens. »Ja, so könnte man es wohl nennen. Ein Gespinst aus Zauberei, das sich vom Mond zur Erde spannt. Man könnte es mit Radiowellen vergleichen. Es gibt einen Sender und einen Empfänger, zwei Punkte, an denen die Mondmagie besonders stark ist – einer ist der Mond selbst, der andere ist hier in der Nähe. Auf den Mann im Mond wirkt diese Verbindung wie … sagen wir, wie ein Fahrstuhl.«

»Wird er jetzt für immer hier bleiben müssen?«

Die Hexe schüttelte den Kopf. »Nicht einmal das Arkanum ist so verderbt, einen solchen Schrecken heraufzubeschwören, ohne einen Weg zu kennen, ihn wieder loszuwerden. Nein, Kyra Rabenson, auch ein Fahrstuhl befördert seine Passagiere in beide Richtungen. Der Mann im Mond wird auf demselben Weg in seine Verbannung zurückkehren, auf dem er hierher gelangt ist.«

»Und das weiß er auch?«

Die Stirn der Hexe legte sich in Falten. »Du spielst doch nicht etwa mit der Idee, es ihm zu sagen?« Sie stieß ein hohes Lachen aus. »Kyra, Kyra, Kyra … Er versteht dich nicht. Er versteht niemanden. Sein Exil in den Schattentälern des Mondes hat ihm den Verstand geraubt. Nur meine Mondmagie zwingt ihn zum Gehorsam. Rede auf ihn ein, so viel du magst … vielleicht macht das den Schmerz erträglicher, wenn er dich in seine Dornenarme schließt.«

Kyra wich einen Schritt zurück, dann einen zweiten.

Die Hexe erhob sich in einer fließenden, ganz und gar nicht menschlichen Bewegung. Sie sah jetzt sehr beeindruckend aus, wie sie dort oben am Rand der Bühne stand, majestätisch wie eine Königin im Trauerflor.

»Fast hättest du mich hereingelegt.« Die Hexe lächelte bösartig. »Leider steht auf den Versuch die Todesstrafe.«

Ihre ausgestreckten Arme zeichneten ein glühendes Muster in die Luft, das für einige Sekunden in der Dunkelheit schwebte wie brennende Nebelschwaden. Die Hexe schloss ihre Augen, legte mit ausgebreiteten Armen den Kopf in den Nacken und stimmte einen leisen Gesang an. Sehr ruhig, sehr melodiös.

Aber die vermeintliche Schönheit dieser Klänge täuschte. Dahinter verbarg sich ein schrecklicher Befehl.

Hinter der Bühne, jenseits der schwarzen Stoffbahnen, rührte sich etwas. Ein Rasseln und Knistern und Bersten ertönte.

Und Kyra begriff. Der Mann im Mond war die ganze Zeit hier gewesen. Hinter der Bühne. Nur wenige Meter von ihr entfernt.

Er hatte gewartet. Darauf, dass die Hexe ihn rief. Bisher hatte er mit seinen Opfern nur gespielt. Jetzt aber machte er ernst.

Wie eine Explosion schossen Dornenranken durch die Vorhänge in die Nacht hinaus, ein Sturm aus tödlichen Zweigen, der über die Bühne hinausfegte und sich dann zusammenballte wie eine Faust. Schnell wie ein hungriger Piranhaschwarm rasten die zuckenden Enden auf Kyra herab und warfen sich dabei wie ein stachliges Netz über die Bühne und die Hexe, die immer noch in ihrem Zentrum stand.

Kyra fuhr herum und rannte.

Hinter ihr wühlten die Dornententakel den Boden auf, als sie sich dort ins Gras bohrten, wo Kyra noch vor einem Augenblick gestanden hatte.

»Lauft!«, schrie sie ihren drei Freunden zu, die voller Entsetzen vom anderen Ende der Wiese zusahen, wie Kyra vor den Fangarmen ihres Feindes davonrannte.

Sie hörte, wie die Dornenranken hinter ihr das Erdreich durchpflügten, hundertmal machtvoller und kräftiger als bei den ersten Attacken im Garten der Villa.

Der wahre Kampf nahm gerade erst seinen Anfang.

Kyra blickte nicht mehr nach hinten. Sie wusste, was sie dort sehen würde, wusste auch, dass das Grauen darüber sie lähmen würde. Stattdessen stürmte sie weiter. Rannte, so schnell sie nur konnte, rannte, bis sie glaubte, ihre Beine seien selbstständige Lebewesen, die sie ohne ihr Zutun davontrugen, fort von der Gefahr, schneller, immer schneller in Sicherheit.

Doch auch das war nur eine Täuschung. Es gab keine Sicherheit – das erkannte sie mit aller Deutlichkeit, als sie im Näherkommen den Schrecken auf den Gesichtern ihrer Freunde sah. Keine Sicherheit, keine Rettung.

Der Mann im Mond war ihnen wieder auf den Fersen, mörderischer als jemals zuvor.

Irgendwo in der Ferne ertönte der melodische Gesang der Hexe.

Kyra starrte ihre Freunde an. Sie standen da wie angewurzelt. Aber welchen Sinn hatte es, wenn sie warteten, bis Kyra sie erreichte?

»Nun lauft schon!«, brüllte Kyra erneut. »Verdammt noch mal, lauft endlich!«

Die drei erwachten wie aus einem Traum, Schlafwandler, die man auf dem höchsten Dachgiebel aus ihrem Schlummer reißt, verwirrt genug, um in den Tod zu stürzen.

Doch sie stürzten nicht. Im Gegenteil: Sie fassten sich erstaunlich schnell. Und endlich setzten sie sich in Bewegung. Hetzten los.

Kyra blieb keine Zeit, um aufzuatmen. Sie spürte den Feind in ihrem Rücken.

Keuchend schloss sie zu den anderen auf, und zu viert liefen sie um ihr Leben.