Das von den Feinheiten der Benimmregeln für Schulflure handelt und von der Tatsache, dass Staci Johnson Sünde ist
Das Gras ist ziemlich dürftig, aber ich bin genügend bekifft, um durch die Zeit zu gleiten, meine Bücher in den Spind zu werfen und auf die Schulglocke zu warten. Mein Pech, dass mein Spind im Parterre-Hauptflur liegt, in der sogenannten Park Avenue, die so heißt, weil sie der Ort ist, an dem alle Schulpromis zusammenkommen, um ihre Weltherrschaftspläne zu schmieden: geheime Partys vorbereiten. Durchsickern lassen, dass es diese Party gibt, für die die meisten Schülertypen einfach zu uncool sind. Entscheiden, wer gerade »in« oder »out« ist oder wer in dieser Woche gedisst werden muss. Ein volles Programm und dafür braucht’s ne Menge Flur. Ich tu mein Bestes, ihnen einen Gefallen zu erweisen, indem ich unbemerkt bleibe.
Meine schlaue und allgemein bewunderte Schwester Jenna ist eine der attraktiven Geheimbündler des Bösen. Sie steht mit ihrem Tanzteam neben dem Brunnen, ihr dunkelblondes Haar hat sie zum unvermeidlichen Pferdeschwanz hochgebunden und mit in Wellen herabfallenden Bändern verziert. Alle tragen heute die Schulfarben, die fesche blaugoldene Kombination unseres furchtlosen Teams, der Calhoun Conquistadors aus Hidalgo, Texas.
Sie hat mich gesehen, tut aber so, als ob nicht. Wenn du dich auf der Vorstufe zur Vollkommenheit bewegst und einen Bruder hast, der als soziales Pantoffeltierchen lebt, ist das ein wirklicher Nachteil. Während unsere angespannte Familiensituation meinen Rückzug ins Schneckenhaus befördert hat, hat sie Jenna zum leuchtenden Beispiel eines perfekten Teenies gemacht. Perfektes Haar, perfekte Noten, perfekter sozialer Status. Mit ihrem unendlichen Streben nach Perfektion versucht sie uns aus ihrem Leben zu streichen – den Vater, der durch seine Arbeit lebt, die Mutter, die durch ihre Kinder lebt, die gelegentliche Verständigung, die unsere Familie mittels Notizen pflegt, die auf dem Kühlschrank liegen oder per SMS versendet werden – ohne wirkliches persönliches Gespräch. Irgendwie bewundere ich meine Schwester für ihre Fähigkeit, gegen den Strom zu schwimmen. Ich hingegen drifte mit dem Rest des Treibholzes geradewegs flussabwärts, auf den Wasserfall zu.
Ich sollte ihn einfach bleiben lassen, diesen Zynismus. Ich sollte einfach nur an dem festhalten, was es auf meinem Niveau gibt, und ich sollte zu Eubie’s Hot Wax in die Innenstadt düsen – aber ich kann mir nicht helfen. Vielleicht bin ich in Football, Basketball, Tennis und in jeder anderen Sportart da draußen ein Versager, aber ich kann total gut die Grausamkeiten des Lebens beschreiben.
»Hey, Jenna. Waren das deine Antibabypillen, die ich heut früh in der Toilette gefunden hab?«, sage ich voller Elan.
Ihren Sportsfreundinnen verschlägt’s den Atem. Einer entfährt ein Kichern. »Oh mein Gott!«
Jenna bleibt trotzdem cool. Sie ist meine brüderlichen Spitzen gewöhnt.
»Nein, ich glaube, das sind die, die Mom nehmen wollte, bevor sie dich zur Welt gebracht hat. Wolltest du nicht ein Vereinstreffen der gesellschaftlichen Außenseiter besuchen? Wenn du dich beeilst, kriegst du noch einen guten Sitzplatz.«
Punkt für das Team Jenna.
Alle lachen, und es wäre granatenmäßig, wenn ich gerade jetzt einfach im Spind verschwinden könnte. Gegen das uniformierte Strahleblond des Tanzteams hab ich keine Chance. Ich sehe aus wie ein bleichgesichtiger arbeitsloser britischer Musiker. Mein struppiges dunkles Haar, die Einsachtzig meines schwerfälligen Körpers sind da so was wie ein Negativ, das mitten auf ein glückliches Gruppenfoto plumpst.
Eine aus der heißen Truppe grinst. Staci Johnson. Ich bin nicht zu stolz, dir zu erzählen, dass ihr Anblick die Frucht meiner Lenden ein bisschen expandieren lässt. Staci Johnson ist eine geistlose Aufsteigerin, die mir nie erlauben würde, mich innerhalb eines Drei-Meter-Radius um ihren ziemlich prachtvollen Körper zu bewegen. Ich weiß das. Aber was soll ich sagen? Mein Schwanz ist ein Verräter.
»Du hast Senf auf deinem Hemd«, bemerkt Staci.
»Heut war Cheeseburgertag.«
»Oh mein Gott, du isst doch nicht etwa jeden Tag in der Cafeteria?«
»Ich hab da ein Ding laufen mit einer der Küchenladys. Bernice. Das ist die mit dem Haarnetz und dem Damenbärtchen. Aber kein Wort darüber! Ich möchte ungern die große Enthüllung verderben!«
Irgendjemand flüstert: »Gott, ist dein Bruder schräg!«
»Ignorier ihn einfach«, sagt Jenna mit einem Seufzer, »wie wir.«
Chet tritt auf und legt seine Arme um meine Schwester wie ein großer Gorilladaddy. Eine klare Botschaft an die Flursociety: Sie gehört mir. Chet nickt mir zu, mit diesem jahrhundertealten Machogruß: Ich weiß über dich Bescheid, du Prolet. Keine weiteren Fragen.
»Was plant ihr denn für die Frühlingsferien?«, fragt Staci und dehnt dabei den Rücken. Dabei setzen sich ihre Pobäckchen bemerkenswert in Szene.
»Ich mach einen Skiausflug mit meiner Gemeinde, ein paar Missionstage«, sagt Chet. »Hoffe doch, dass Jenna dabei ist.«
Jenna strahlt. Es wäre gerade jetzt so verlockend, etwas zu sagen wie »Moment, Jen, hast du nicht in der Ferienwoche nen Termin für nen Schwangerschaftsabbruch?« Aber dann würde mir Chet wahrscheinlich einen Arschtritt verpassen.
Staci zwirbelt ihr Haar um einen Finger. »Also, ich und Lisa und Carmen fahren nach Daytona zur YA! TV-Party.«
»Ohmeingott, nein!«, kreischt eins der Möchtegernmodels. »Wenn ihr da an Parker Day rankommt – da wär ich ja so was von eifersüchtig!«
YA! TV – Youth America! Fernsehen – das ist der Gradmesser für Coolness von Teens – überall, und Parker Day, mit seinen Haarsträhnchen, seinem Vintage-Rockeroutfit, den aufpolierten Sneakers und dem routinierten Lächeln, ist der telegenste Moderator. Die Hälfte aller Jugendlichen spuckt seine eingetragene Markenphrase aus: »Du ziehst das durch!«
»Eigentlich bräuchten wir eine Vierte, damit’s klappt«, sagt Staci. »Jenna, du solltest mitkommen.«
»Nach Florida?«
»Das wär’s doch!«
»Ja«, sagt Jenna, »aber teuer.«
Staci gibt ihrem Po noch ein bisschen mehr Format – was ich eigentlich für unmöglich hielt –, und mein Schwanz, dieser aufmüpfige Lümmel, begeistert sich schon wieder.
»Denk drüber nach«, sagt Staci. »Das wird bestimmt der Wahnsinn.«
»Yo, Cam«, sagt Chet. »Nette Nummer, das mit der Kakerlake.«
»Was für ne Kakerlake?«, fragt Jenna.
»Cammer hier hat’s drauf. Er hat gesagt, dass er eine Kakerlake gesehen hätte, damit er aus dem Englischunterricht rauskommt.«
Jenna sieht mich an. Der Blick sagt »Du enttäuschst Mom und Dad«.
»Hast nichts verpasst. Don Quijote bis zum Abwinken. Unser Pfarrer ist der Meinung, wir sollten so ein Zeugs nicht lesen. Er sagt, dass es Kids nur Flausen in den Kopf setzt. Sie wollen dann alles hinterfragen und spinnen nur noch rum. Er kennt einen Jungen, dem so was passiert ist, und seine Eltern mussten ihn wieder geraderücken.«
»Oh mein Gott«, sagt Staci, als ob dieser Bullshit, den ihr Chet erzählt, so betrauernswert ist wie das Schicksal eines kleinen Kindes, das an Krebs stirbt.
»Nur von Büchern? Das glaub ich nicht«, sagt Jenna, und ich spüre ein Fünkchen Hoffnung, dass sie doch nicht der Macht des Bösen verfällt.
»Und ob!«, beharrt Chet. »Aber egal, es ging gut aus. Seine Alten haben ihn zu dieser Kirche geschickt, die alles hat – von der Schule bis zum Restaurant. Da muss man nicht mehr so oft raus, und der Junge ist fast die ganze Zeit dort, weg von negativen Einflüssen. So ungefähr ging’s mir auch nach meiner Verletzung.«
Da haben wir’s. Die Girls geraten förmlich in Verzückung.
»Ich hätte Zweifel haben können. Hätte verzweifeln können. Aber ich hab mich nicht verändert.« Er grinst. »Man muss positiv denken, stimmt’s, Cam?«
Oh ja, hundertpro. Ich bin ein Meister des Daumenhochs.
»Genau«, sage ich.
»Kommst du zum Spiel, Bruder?«
»Kann nicht. Ist gegen meine Religion.«
Chet grinst. Ich bin mir ziemlich sicher, dass in der Bibel steht: »Du sollst nicht grinsen«, aber vielleicht ist das auch nur ein Gerücht. »Echt, was’n das für ne Religion?«
»Apathie.«
Jenna sieht aus, als ob sie mich gleich liebend gern erwürgen wollte. Staci Johnson wendet sich ihrer Bande zu und kichert. »Jedem das Seine!«
»Seht ihr, genau das sag ich auch«, sagt Chet zu den anderen, als ob ich gar nicht hier wäre.
Und in gewisser Weise bin ich vermutlich auch gar nicht hier.