Welches davon handelt, was passiert, wenn auf unsere Köpfe eine Belohnung ausgesetzt ist und wir Putopia besuchen
Ich erzähle Gonzo und Balder weder vom Wunschbaum noch vom seltsamen Eisenwarenladen und auch nicht von der Zauberschraube, die ein »notwendiges Teilchen« meines Schicksals sein soll, irgendwie. Ich will nicht, dass sie denken, ich stünde kurz vorm Zusammenbruch. Es reicht schon, wenn ich mir deswegen Sorgen mache.
Dazu kommt, dass mein E-Ticket seine Kraft verliert. Adventureland und Frontierland sind verschwunden und Liberty Square wird zunehmend blasser. Wenn wir nicht bald Dr. X finden, bin ich erledigt.
Als wir uns Florida nähern, halten wir an, um zu tanken. Der Caddy ist ein Benzinfresser, wahrscheinlich braucht er fünfundzwanzig Liter auf hundert Meilen. Wirtschaftlich ist das nicht gerade. Der Typ an der Kasse tippt den Betrag ein. Der Fernseher über seinem Kopf ist auf einen Nachrichtensender eingestellt. Sie zeigen das GESUCHT-Flugblatt mit den Highschoolfotos von Gonzo und mir. Meine Knie werden ein bisschen weich, als die Kirche der Immerwährenden Glückseligkeit und Snack ’n’ Bowl ins Bild kommt. Daniels und Ruths Gesichter füllen den Bildschirm. So viel kann ich sagen: Daniel ist nicht in dieser sanften Füg-deinem-Glück-kein-Leid-zu-Stimmung. Der Reporter hält ihm das Mikro unter die Nase und Daniel vergeudet keine Sekunde.
»Diese Typen sind jedenfalls bewaffnet und gefährlich und haben eine total anarchistische Mission!«, faucht er.
»Sie haben unseren Milchshakemixer kaputt gemacht!«, wirft Ruth dazwischen.
»Sie kamen zu uns in der Absicht, unsere Lebensordnung zu zerstören und den Keim des Widerspruchs und der Unzufriedenheit in unsere Gemeinschaft zu pflanzen.«
Die Kamera schwenkt auf den Parkplatz, wo eine Meute Kids die Fäuste emporstreckt. Sie halten Schilder in die Höhe, auf denen steht: SCHLUSS MIT VANILLE! SHAKESPEARE STATT MILCHSHAKES! und GEDANKEN TUN NIEMANDEM WEH, ABER GEDANKENLOSE MENSCHEN!
Der Reporter nickt grimmig und will sich verabschieden, aber Daniel ergreift das Mikro. Seine angesäuerte Miene füllt den ganzen Bildschirm aus. »Locht sie ein, Mann, und werft den Schlüssel weg!«
Ein Sicherheitsmann, der vor dem verbrannten Loch steht, das mal das Preakfast Pretzel war, liefert ein kurzes Statement: »Sie hamm so getan, als ob sie Wrestler sinn – so hammse uns abgelenkt und dabei die Bombe scharf gemacht …« Seine Frau drückt den Arm ihres Mannes. »Solche Leut sinn Terroristen. Sie hamm absolut kein’ Respekt vorm Menschenleben, vorm Besitz und vorm Gesetz. Kein’ Respekt.«
Dann zeigt das Bild wieder das Nachrichtenstudio. Das Logo der Vereinigten Schneekugel-Großhändler wird eingeblendet zusammen mit einer 1 - 800er-Nummer. Der Studioredakteur liest eine Erklärung ab: »Terrorismus wird nicht toleriert. Deshalb setzen Ihre Freunde von den Vereinigten Schneekugel-Großhändlern eine Belohnung von zehntausend Dollar für denjenigen aus, der diese Elemente, die unsere Sicherheit und unser Glück bedrohen, dingfest macht.«
»War’s das? Nur Benzin?«, fragt der Typ hinterm Schalter und lässt mich hochschrecken.
»Ja, danke«, sage ich, grapsche mir das Wechselgeld und laufe zum Caddy.
»Was is los?«, fragt Gonzo, als ich den Gang einlege und abdüse.
»Bloß, dass uns die gesamte beschissene Welt sucht, sonst nichts«, sage ich und blicke in den Rückspiegel. »Dieses kleine Arschloch Daniel hat seinen Frieden, seine Liebe und seine Milchshakescheiße hinter sich gelassen und will jetzt unsere Köpfe rollen sehn, und das hat er im Fernsehen erzählt.«
»Hab ich dir nicht gleich gesagt, dass er ein Scheißkerl ist?«, sagt Gonzo mit Genugtuung.
»Wir müssen uns über andere Dinge Sorgen machen. Wir werden als Terroristen gesucht. Auf unsere Festnahme ist ne Belohnung ausgesetzt. Unsere Fotos sind überall in den Nachrichten zu sehen, mit ner eingeblendeten Hotlinenummer.«
»Scheiße«, sagt Gonzo.
»Du sagst es.«
Auf dem Rücksitz herrscht Stille und dann höre ich das Lächeln in Balders tiefer Stimme. »Cool.«
Wir entscheiden uns, die Highways zu meiden und auf Nebenstraßen auszuweichen. Die Rosinante hat kein Navi, also müssen wir uns ziemlich oft an einer zehn Jahre alten Straßenkarte orientieren, die im Handschuhfach liegt. Das ist in etwa so, als ob man seinen Weg aus einer Spielzeug-Wahrsagekugel lesen würde. Sollten wir diese Straße nehmen? Ich hab solche Kopfschmerzen. Frag mich später.
Wir rumpeln die Straße entlang, vorbei an hohem Sumpfgras, vorüber an verrosteten Verkehrsschildern, an verfallenen, von wildem Wein überwucherten Kirchen mit zerbrochenen Fensterscheiben, vorüber an Eisenbahngleisen, alten Scheunen und Weiden, auf denen ein oder zwei Pferde gelangweilt herumstehen. So geht das weiter, bis ich überhaupt nicht mehr weiß, wo wir uns befinden. Ich flüstere Dulcies Namen wie ein Gebet. Mach schon, Dulcie, sage ich. Wirf uns einen Knochen zu. Ein paar Sekunden später ruckelt und zuckelt der Caddy und der Motor stirbt ab.
»Was isn jetzt los?«, fragt Gonzo.
»Ich weiß nicht.« Ich drehe jeden Schalter und drücke jeden Knopf. Die Tankanzeige steht auf halb voll. Ich klopfe mit dem Finger dagegen und der Zeiger fällt auf leer.
»Verdammt!«
»Was ist?« Gonzos Stimme klingt panisch.
»Sprit ist alle.«
»Du verarschst mich!«
»Ich verarsch dich nicht.«
»Genug gefahren. Zeit für die Jagd.« Balder hat wieder seine Wikingerklamotten angezogen, ist ausgestiegen und läuft die Straße weiter, bevor ich ihn zurückhalten kann.
»Was zum Teufel soll das?«, fragt Gonzo.
Ich laufe hinter Balder her. Von der Beifahrerseite her brüllt Gonzo: »Sollten wir nicht die Pannenhilfe rufen oder so was, Alter?«
»Na klar«, rufe ich zurück. »Erzähl ihnen nur, dass die gesuchten Terroristen – auf die zehntausend Dollar Kopfgeld ausgesetzt sind – Benzin brauchen und vielleicht ne Mitfahrgelegenheit in die nächste Stadt.«
»Jetzt sind wir schon ne gute halbe Stunde gelaufen und haben nix gesehn, was uns helfen könnte, nix als das absolute Nichts«, keucht Gonzo. »Und was noch dazukommt: Ich hab ne Riesenblase an meiner Ferse. Blasen können sich bekanntlich entzünden. Daran kannst du sterben.«
»Schau einfach nur nach ner Tankstelle«, sage ich.
»Ich sag gerade, dass ich nicht an einer infizierten Blase sterben will. Das wäre ein wirklich schwacher Abgang.«
Etwa eine halbe Meile weiter gabelt sich die Straße. Ich wische mir den Schweiß von der Stirn und halte eine Hand über die Augen, um nicht geblendet zu werden. »Hat jemand ne Idee, wo lang?«
Balder befragt seine Runen. »Links.«
»Gut. Gehen wir links«, sage ich.
»Bist du sicher?«, fragt Gonzo.
»Nein«, antworte ich. »Ich bin mir über gar nichts sicher. Deshalb ist eine Straße so gut wie die andere.«
Wir laufen auf einem Weg, der nur ein bisschen mehr ist als festgefahrene Erde und der sich einen Hügel hochschlängelt. Schließlich sind wir oben.
»Boah!«, sagt Gonzo.
Am Fuß des Hügels erstreckt sich ein senffarbenes Weizenfeld wie Pinselstriche auf einem Ölgemälde.
Überall sehe ich Windräder, deren Flügel vor dem klaren, blauen Himmel rotieren, als ob sie außerirdische Vögel sind – bereit zum Abflug oder zum Anflug, was auch immer zuerst kommt. Genau in der Mitte stehen ein altes Farmhaus, eine Scheune und irgendwas, das wie eine futuristische Tankstelle aussieht.
Balder kniet andächtig und dankbar nieder. »Die Nornen sind uns gnädig.«
»Großartig. Schauen wir mal, ob sie uns ein bisschen Benzin geben.«
Gonzo ergreift meinen Arm. »Bist du verrückt, Alter? Hast du nicht Das Motel der lebenden Kettensägen gesehen?«
»Falls ich Nein sage, heißt das dann, dass du deine Klappe hältst?«
»Das Motel der lebenden Kettensägen, kurze Zusammenfassung des Plots«, fährt Gonzo fort. »Campingtrip in den Frühlingsferien, ›Oh Mann, der Tank is leer! So ne Scheiße! Hey, schau mal, da is ne gruselige Bed-and-Breakfast-Klitsche mit ner Tankstelle.‹ Knirsch, knirsch durch den Wald zu dem abgelegenen, verknorzten Haus. ›Klopf, klopf – hey, da is niemand zu Hause – oh, woraus is denn dieser seltsame Sessel gemacht? Hey, der is ja mit Menschenhaut überzogen!‹ Rrrrrnnnnnnn! ›Oh mein Gott, er hat ne Kettensäge.‹ – Aaaahhhhhh! Rrrrrnnnnnnn! Blut spritzt gratis. Zerstückelung. Tod. Gefriertruhen voller Gliedmaßen von Collegekids. Noch mehr Schreie. Und eine einzige, blutbefleckte, für immer mit Narben übersäte Überlebende, die den Rest ihres erbärmlichen Lebens in psychiatrischer Obhut verbringen wird. Abspann.« Gonzo verschränkt die Arme über der Brust.
»Wow. Vielleicht haben sie das auf DVD. Wir fragen sie mal.«
Ich marschiere einen Hang voller Klee und Gras hinunter, auf das Haus zu. Gonzo läuft vor mir und versucht, mir den Weg zu versperren.
»Hör auf damit, Gonz«, sage ich und weiche ihm aus. Er streckt seine Hände aus, bewegt sie wie in einem schlechten Karatefilm. »Ich kann dich da nicht reinlassen, Mann.«
»Soll ich vorausgehen, Cameron? Es wäre mir eine Ehre, an deiner Stelle einer Kettensäge ins Auge zu blicken. Tyr verleiht mir Mut«, sagt Balder.
Sofort schiebt Gonzo Balder nach vorn. »Gute Idee. Balder kann gehen. Er ist unsterblich.«
»Genau. Großartige Idee. Wir schicken einen Gartenzwerg, damit er nach Benzin fragt. Ist nicht bös gemeint, Balder.«
Balder nickt. »Schon gut.«
»Gonzo, hör mal. Ich werde an die Tür klopfen und um Hilfe bitten. Du kannst mit mir kommen oder zurückgehen und im Wagen warten. Wie du willst.«
Gonzo zieht sich einen Sprühstoß aus seinem Inhalator rein.
An der Tür miaut eine schwarze Katze zur Begrüßung und schnurrt um meine Beine. »Fang gar nicht erst an«, sage ich zu Gonzo.
»Wahrscheinlich hat sie heute Morgen menschliche Finger verspeist«, flüstert er.
Die Tür öffnet sich und die Katze huscht hinein. Ein kleiner Junge steht da, mit einer Schüssel Cornflakes in der Hand. Er ist vielleicht zehn oder zwölf und trägt eine Brille mit kleinen, runden Gläsern. Sein drahtiges dunkles Haar ist vom Schlafen her noch ganz verstrubbelt.
»Vorsicht, er könnte bewaffnet sein«, sagt Balder mit ausdruckslosem Gesicht.
»Mal sehen, ob du als Wächter über eine Truhe mit Gefrierfleisch endest, Zwergenmann.«
»Hi«, sage ich und ignoriere die beiden. »Unser Wagen ist liegen geblieben, weil der Tank leer ist, und ich wollte fragen, ob deine Eltern uns vielleicht ein bisschen Benzin verkaufen könnten.«
»Ich hab keine Eltern«, sagt der Junge mit hoher, weicher Stimme, und die Milch tröpfelt ihm aus den Mundwinkeln übers Kinn. »Ich bin ein Waisenkind.«
»Ist außer dir noch jemand hier? Ein Erwachsener vielleicht?«, frage ich.
Das Kind lässt die Tür offen stehen und wir folgen ihm ins düstere Haus. Im Wohnzimmer läuft der Fernseher. Der Junge lässt sich, Beine über Kreuz, auf einem Sitzsack mit dem aufgenähten Namen ED nieder und widmet sich wieder seinen Flakes und den Zeichentrickfilmen, die über den Bildschirm flimmern. »Sie sind unten im Keller.«
»Oh verdammt, nein«, flüstert Gonzo.
»Wir bleiben nicht hier«, erinnere ich ihn. »Wir holen nur Benzin und verschwinden wieder.«
»Hier geht’s lang.« Balder öffnet die Kellertür, wir steigen im Dunkeln hinunter und folgen einem kurzen, schwach beleuchteten Gang zu einer ziemlich massiv wirkenden Tür aus rostfreiem Stahl. Auf einem Schild neben der Tür steht SIE BETRETEN EINE MAGNETISIERTE ZONE. BITTE ALLE METALLGEGENSTÄNDE ABLEGEN.
Gonzo drückt seinen Inhalator fest an die Brust. »Das ist die Szene im Film, wo ich die Beine in die Hände nehmen würde.«
Wir deponieren alles, was irgendwie metallisch sein könnte, in kleinen Plastiktüten, die auf einem Tisch liegen. Den Inhalator muss ich Gonzo praktisch aus der Hand reißen. Ich kann weder eine Klingel noch etwas Ähnliches sehen, also stoße ich die Tür einfach auf.
»Boah«, sage ich.
»Ganz deiner Meinung«, flüstert Gonzo.
Balder schnauft. »Welch fremdartige neue Welt ist das?«
Wir befinden uns in etwas, das der weltgrößte MegaMart sein könnte, nur dass die Regale statt mit T-Shirts aus Fernost und Plastikschrottspielzeug mit langen blauen und roten Röhren gefüllt sind, die so groß sind wie die Tunnels von Wasserrutschen. Die Röhren sind mit einem labyrinthischen Gewirr von Kabeln, Dingsdas, Robotertechnik und Computern verbunden. Der Raum scheint sich zwanzig Meter in die Höhe zu strecken, und es gibt genügend Megawatt an Licht, um das Beleuchtungssystem einer Raumstation neidisch zu machen.
Genau in der Mitte befindet sich ein meilenlanges Tunnelrohr, das von Metallträgern gestützt wird, die sich nach allen Seiten ausbreiten. Und im Zentrum davon ist eine seltsame Tür, die mich an eine Kreuzung aus Muschelschale und Windrädchen erinnert. Zwei Männer und eine Frau in weißen Laborkitteln und mit Schutzbrillen stehen um einen Tisch. Ein dritter Mann ist an einem Stuhl festgeschnallt. Sein Kopf wird von einem Stahlband gehalten.
»Wenn ich die Typen seh, hab ich das Gefühl, die wollen Zwergenweitwurf machen«, flüstert Gonzo.
»Bleib cool«, wispere ich.
»Ich sage nur, dass, wenn hier jemand in die Luft fliegt, ich das sicher nicht sein werde.«
Ich möchte nicht stören – was für ein Experiment die auch immer gerade machen. Also räuspere ich mich und hoffe, dass sie es bemerken. Tun sie nicht. »Äh, hallo«, sage ich dann, »entschuldigen Sie bitte.«
»Bin gleich bei euch«, ruft ein älterer Mann mit einer weißen Haartolle. »Bereit, Dr. A?«
»Wenn Sie es sind, Dr. M«, sagt der festgeschnallte Typ auf dem Stuhl.
»Sehr gut. Calabi Yau!«, brüllt der Weißhaarige.
»Calabi Yau!«, jubeln die anderen in dem Augenblick, als er in hohem Bogen eine Weintraube wirft. Der Typ auf dem Stuhl versucht, sie mit geöffnetem Mund zu fangen, schnappt aber daneben.
»Ah, Heisenberg!«, ruft der Weißhaarige aus. Er dreht sich um und nimmt das erste Mal Notiz von uns. »Oh, hallo. Bringt ihr die Pizza?«
Nachdem wir die Wissenschaftler mit der Botschaft enttäuschen mussten, dass wir nicht vom Pizzaservice sind, bringen sie uns zurück ins Haus. Wir erzählen ihnen, dass wir keinen Sprit mehr haben, wie wichtig es für uns ist, weiterzufahren, weil ich an Rinderwahn erkrankt und unterwegs bin, um geheilt zu werden, und dass wir ewig dankbar sind und bla-bla-bla.
»Ich fürchte, der einzige Kraftstoff, den wir haben, ist Wasserstoff. Ich nehme an, dass euer Wagen nicht dafür ausgerüstet ist?«, sagt der lächelnde Dr. T.
»Offen gesagt sind wir schon froh, dass unsere Karre Sitze und Räder hat«, antworte ich.
»Okay, dann lassen wir Ed einen Umwandler basteln«, erklärt Dr. T und hebt den Daumen in Richtung des Kindes, das uns reingelassen hat. »Dann könnt ihr morgen weiter.«
Ed, das Kind, schaut keinen Augenblick hoch, sondern schreibt weiter Gleichungen an eine Wandtafel.
»Morgen?« Ich kann die Enttäuschung in meiner Stimme nicht unterdrücken.
»Das Beste, was wir tun können. Ihr seid herzlich eingeladen, bei uns zu übernachten.«
»Das Motel der lebenden Kettensägen«, murmelt Gonzo im Singsang.
»Natürlich gibt’s eine Tankstelle im Ort, falls ihr lieber laufen wollt«, fügt Dr. T an.
»Wie weit ist es?«, frage ich.
Die einzige Frau, Dr. O, zuckt mit den Schultern. »In Meilen oder in Kilometern oder in Zentimetern oder was?«
»Meilen wären nicht schlecht.«
»Oh, etwa vierzig, plus/minus«, sagt Dr. T.
Dr. O starrt ihn zornig an. »Sie haben mich gefragt, Brian.«
Vierzig Meilen – da würden wir ewig laufen, und wir sind bereits hundemüde. Und dann ist da noch die kleine Affäre mit der Polizei und dem Kopfgeld der Vereinigten Schneekugel-Großhändler. »Prima. Das wäre toll, danke schön.«
»Oh, hallo«, sagt Dr. M und schüttelt Balders Hand. »Wundervolles Kostüm. An den Wochenenden mache ich auch ein bisschen Rollenspiel. Sagen Sie, woher haben Sie den Helm?«
»Er wurde im Norden geschmiedet, von Odin persönlich gesegnet und mir von meiner Mutter Frigg geschenkt«, antwortet Balder.
»Toll. Ich habe meinen aus dem Internet.«
Gonzo hebt ein Spielzeug auf, das mich an die skurrile Makkaroniskulptur eines Kindes erinnert: eine Art Kugel, die aus diesen spiralförmigen Röhrchen zusammengebaut ist.
»Wo sind wir hier?«, fragt Gonzo.
»Das? Das ist Putopia«, sagt Dr. A, der große Mann mit dem gelockten Haar, der versucht hat, die Weintraube mit dem Mund aufzufangen. Er trägt ein T-Shirt unter seinem Laborkittel, auf dem steht MEIN URKNALL IST GRÖSSER ALS DEINER.
»Putopia?«, wiederhole ich.
»Ja. Putopia. Das steht für Parallel Universe Travel Office … pia.«
Dr. O platzt dazwischen. »Bis jetzt haben wir die komplette Bedeutung der Abkürzung noch nicht rausgefunden, aber wir möchten den Domainnamen schützen lassen, bevor das jemand anderer tut.«
»Wir glauben, dass unser Universum ein kleiner Teil von etwas Unermesslichem ist – wir sind nichts weiter als ein Gebäude in einer kosmischen Wohnsiedlung, in der ein Haus direkt neben dem anderen steht. Es wäre herrlich, wenn wir einfach nur mal auf einen Sprung zu unseren Nachbarn reinschauen könnten«, erklärt Dr. T.
»Sie machen Witze, stimmt’s?« Gonzo hebt eine Augenbraue.
»Überhaupt nicht«, fährt Dr. T fort. »Warum sollte unsere Welt die einzige sein? Kommt dir das nicht seltsam vor?«
»Und, ehrlich gesagt, auch ein bisschen selbstverliebt?«, fügt Dr. M an.
»Sicher. Es muss viele Welten geben, viele Möglichkeiten. Das ist ungefähr so wie bei diesen Seifenblasen.« Dr. T taucht ein Plastikröhrchen in Seifenlauge, pustet hinein und zahllose Bläschen bilden sich und schweben mit dem nächsten Lufthauch davon. »Seht ihr? Ein paar Blasen platzen sofort oder kommen nicht weit – das sind die am wenigstens wahrscheinlichen Möglichkeiten. Aber einige halten durch und schweben weiter.«
»Nichts verschwindet. Aus Zeit entfaltet sich Zeit«, fährt Dr. M fort. Er hebt das kugelförmige Makkaronispielzeug auf und verschiebt eine der Röhren. Lichter blitzen auf und jetzt kann ich unterhalb der Formen an der Oberfläche eine Reihe kleinerer Formen sehen. »Elf verschiedene Dimensionen. Die meisten davon sind zu klein für unser Auge.«
»Andere sind viel größer als unsere Welt, ungefähr so groß wie ein riesiges Zeitschiff, auf dem unser Universum nur eine blinde Passagiermaus ist«, behauptet Dr. O.
»Boah!«, sagt Gonzo, und recht hat er.
»Im Moment versuchen wir, in jene unendlichen Welten vorzudringen. Und dieses kleine Baby …«, sagt Dr. A und deutet auf den mysteriösen Tunnel, »dieses kleine Baby ist unsere Brechstange, um in andere Realitäten vorzustoßen.«
»Was ist das?« Gonzo tritt einen Schritt zurück und legt eine Hand auf den Türgriff.
»Siebzehn Meilen magnetisierte Tunnelröhren zu einem einzigen Zweck: ein Fenster im Nachbarhaus zu öffnen und dann eins im Nachbarhaus des Nachbarhauses und so weiter«, erklärt uns Dr. M mit breitem Lächeln. »Ich kann schon fast den Kaffeeduft riechen!«
»Also ist das ein Super-Teilchenbeschleuniger«, sage ich.
»Der verdammte Stephen Hawking!«, schnaubt Dr. M. »Super nennt man ein Sonderangebot. Super ist die Größe eines Riesensandwichs, wenn du einen Dollar mehr zahlst. Das …« Er gestikuliert in Richtung der seltsam geformten Tür, »das ist ein Unendlich-Beschleuniger.«
»Ist übrigens ein eingetragenes Warenzeichen«, warnt Dr. A.
»Die Partikelchen prallen mit der Unendlichkeit in unendlich verschiedenen Arten und Weisen zusammen – von hinten, von vorne, von oben, von unten, von der Seite, von innen nach außen und von außen nach innen –, sodass keins der quantenmechanischen Gesetze anwendbar ist.«
Balders Augenbraue hebt sich. »Zeitreisen?«
»Parallelweltreisen«, frohlockt Dr. T.
Gonzo verlässt seinen Posten am Ausgang und setzt sich neben Dr. T. »Mann! Sie sind also in so was wie anderen Welten gewesen? Wie sieht’s denn dort aus? Gibt’s da, zum Beispiel, Teddyvamps, die Androiden und so’n Scheiß kaltmachen? Augenblick – Sie waren doch dort, stimmt’s?«
Der Wissenschaftler windet sich etwas pikiert. »In diesem Sinne eigentlich nicht«, sagt Dr. A.
»Ein paar Knoten sind da noch zu lösen«, sagt Dr. T und sein Lächeln wirkt angespannt.
»Knoten wie bei Schnürsenkeln oder anderer Mist, über den ich wirklich nichts wissen will?«, fragt Gonzo.
»Wir haben noch nie einen Menschen auf Reisen geschickt«, erzählt uns Dr. T.
»Außer einmal«, meldet sich Ed von der Wandtafel zu Wort.
»Na ja. Gut. Das vergessen wir lieber, Ed«, warnt Dr. M.
»Kommt schon, wir stellen euch unsere Arbeit vor. Es ist jetzt sowieso Zeit für ne Stärkung«, sagt Dr. O. Sie führt uns treppauf zu einem hübschen und gemütlichen Zimmer, das mit einem monstergroßen Fernseher und einer Couchgarnitur ausgestattet ist.
»Was wir euch jetzt zeigen, ist die Summe all unserer Arbeiten hier in Putopia«, erklärt Dr. T. »Der Unendlich-Beschleuniger, die Stringtheorie, die Superstringtheorie, die M-Theorie …«
»Y-Theorie, Z-Theorie, Doppel-Z-Theorie …«, fügt Dr. M hinzu.
Dr. O klinkt sich ein. »Subatomare Teilchen, Partnerteilchen, die Theorie von Allem …«
»Die Theorie vom Nichts …«
»Die Theorie vom Irgendwo Dazwischen …«
»Wir arbeiten im Augenblick an einem Nachtrag zur Theorie von Allem«, erklärt Dr. T, »an der Theorie von Allem und einem kleinen bisschen Mehr.«
»Weil – wer möchte nicht ein bisschen mehr haben?«, fragt Dr. O. »Okay, Ed, leg los.«
Der Raum wird dunkel und ein Video startet. Ein jünger aussehender Dr. M winkt nervös in die Kamera und platziert eine orangefarben getigerte Katze mit einem lila Halsband in der Kammer eines früheren Modells des Unendlich-Beschleunigers, der halb so groß und nicht annähernd so ausgeklügelt ist wie der jetzige. »Rein mit dir, Schrödinger«, sagt er zum Kater. »Auf dass du eine Dimension findest, in der es reichlich Mäuse gibt und der Thunfisch noch frisch ist.«
Schrödingers Protestmiauen wird durch das Schließen der Tür abgeschnitten. Dann folgt ein Brummen, dann ein Blitz, und als die Tür wieder geöffnet wird, liegt Schrödinger bewegungslos in der Kammer.
»Er war ein gutes Kätzchen«, sagt Dr. T und schnieft.
Die Szenen springen in einer ziemlich unzusammenhängenden Geschichte Putopias hin und her – Wissenschaftler in ihren jüngeren Tagen, die an einer Wandtafel Gleichungen entwerfen. Ein Foto von ihnen als Band bei einer Tanzveranstaltung. Ein Fußballspiel in vollem Gang. Eine Reihe dieser seltsamen Makkaronispielzeuge, von denen keines dem anderen gleicht.
»Was sind das für Dinger?«, frage ich.
»Calabi-Yau-Krümmer«, sagt Dr. O, als ob es etwas Selbstverständliches wäre, wie Toast oder Socken.
»Klar. Wusste ich«, sagt Gonzo. Er schaut mich an und rollt mit den Augen.
Dr. M lässt das Modell von Hand zu Hand gehen. »Das sind geometrische Modelle, die die vielen gekrümmten Dimensionen des Raums darstellen, von denen wir bisher nicht mal etwas ahnen.« Er zuckt mit der Schulter. »Ist’n mathematisches Problem.«
Der Film läuft weiter. Mir fällt auf, dass am Anfang eine ganze Menge Wissenschaftler zu sehen waren, in den späteren Szenen aber deutlich weniger.
»Was ist mit all den anderen passiert?«
Dr. Ts Gesicht wird ausdruckslos. »Uns wurden Fördermittel gestrichen. Für Panzer und Raketen gab’s mehr Geld, um Gottesteilchen aufzuspüren weniger.«
»Ah – hier, die Ewigkeit in einem Kuss!«
Ich richte meine Augen wieder auf den Bildschirm. »Warten Sie! Anhalten!«, schreie ich. Das Standbild zeigt einen Mann asiatischer Herkunft, der erstaunt in die Kamera blickt. Aufgeregt deute ich auf den Schirm. »Das ist Dr. X! Kennen Sie ihn? Ist er hier?«
Die Frage kommt den Wissenschaftlern ungelegen.
»Er war mal hier«, sagt Dr. O leise.
Mein Herz rutscht mir in die Hose. Ich hatte gehofft, wir hätten ihn schließlich gefunden. »Und haben Sie ne Ahnung, wo er hin ist? Bitte. Es ist für mich superwichtig, ihn zu finden.«
»Niemand hat von ihm was gesehen oder gehört, seit …« Dr. A verstummt.
»Seit?«, beharre ich.
Die Wissenschaftler tauschen Blicke aus. Dr. T zieht ein abgegriffenes Foto aus einem Bücherregal – Dr. X neben einer lächelnden, sommersprossigen Frau. Es ist das Bild, das ich auf seinem Schreibtisch gesehen habe, als ich im Internet nach den Feuerriesen suchte und stattdessen zufällig Dr. X fand.
»Dr. X’ Ehefrau, Mrs X«, erklärt Dr. T. »Er hat sie sehr geliebt. Sie hat seine Arbeit inspiriert. Er pflegte immer zu sagen: ›Nichts hat Bedeutung, außer dem, dem wir Bedeutung verleihen, und sie bedeutet mir alles.‹« Dr. T legt das Foto ins Regal zurück. »Eine liebenswerte Frau.«
Die Wissenschaftler nicken.
»Was ist passiert?«
»Jedes Jahr hat sie Dr. X zu Weihnachten eine neue Schneekugel für seine Sammlung geschenkt. Er liebte Schneekugeln, meinte, sie seien wie kleine, in sich geschlossene Welten. Wie auch immer, es war die Woche vor Weihnachten und es schneite das erste Mal in jenem Winter. Sie war in der Stadt unterwegs, um sein Geschenk abzuholen und die Rechnung zu begleichen. Aber …« Dr. T schüttelt traurig den Kopf.
Dr. O fährt fort. »Eine Bombe explodierte. Man fand nie heraus, wer es getan hat oder warum – ein völlig willkürlicher, sinnloser Anschlag. Mrs X wurde getötet. Als man sie fand, hielt sie immer noch die Weihnachtsschneekugel für ihren Mann in der Hand.«
Balder nimmt den Helm ab. »Das ist in der Tat eine traurige Geschichte.«
»Nach dem Tod seiner Frau war Dr. X ein anderer Mensch«, erzählt Dr. M mit einem schweren Seufzer. »Er fragte sich, was es nütze, wenn wir die Theorie von Allem und einem kleinen bisschen Mehr untermauern, Gravitronen messen oder die Existenz anderer Welten beweisen könnten, was das alles nütze, wenn wir nicht in der Lage seien, unsere eigenen Leiden in den Griff zu bekommen – die Plagen des Unvorhersehbaren, das Schreckliche, das Sinnlose.«
»Also« – ich hole erst einmal tief Luft –, »also, was geschah mit ihm?«
»Dr. X stellte die Hypothese auf, bestimmte musikalische Frequenzen könnten Portale in Raum und Zeit öffnen. Das hat was mit Schwingungen zu tun. Er glaubte, Musik sei in Wirklichkeit eine eigene Dimension«, erklärt Dr. T mit Lehrerstimme.
»Mein Freund Eubie würde dem wahrscheinlich zustimmen«, sage ich.
»Eines Nachts manipulierte er heimlich den Unendlich-Beschleuniger. Nur Ed war bei ihm.« Dr. T schaut Ed an, der gerade verfolgt, wie sich eine Tüte Popcorn in der Mikrowelle ausdehnt – als sei das mindestens genauso faszinierend wie der Unendlich-Beschleuniger.
»Ed zufolge rekonfigurierte Dr. X Calabi Yau zu einer Art Superlautsprecher, den er dann an sein Radiogerät anschloss, um Musik zu verstärken –«
»Es war die Copenhagen Interpretation!«, brüllt Ed aus der Küche, wo er das frische Popcorn gerade in eine Schüssel schüttet.
»– und mit den Schwingungen ein Loch ins Raum-Zeit-Kontinuum zu bohren und einen Zugang zu öffnen. Es funktionierte. Innerhalb weniger Minuten war er verschwunden. Und mit ihm der Unendlich-Beschleuniger. Diesen hier mussten wir von Grund auf neu bauen.«
Dr. M seufzt. »Wir haben seither von Dr. X nichts mehr gesehen oder gehört. Soviel wir wissen, sitzt er in einem anderen Universum fest.«
»Wann war das?«, frage ich.
»Vor elf Jahren«, sagt Dr. A. »Ich kann mich daran erinnern, weil es dieselbe Nacht war, in der die Copenhagen Interpretation ihr großes Benefizkonzert für Frieden und gegen Krieg und Barbarei gab. Das war eine Wahnsinnsshow. Ich glaube, damals war ein Nordlicht zu sehen. Hat mir jedenfalls meine Freundin erzählt.«
»Das war auch die Nacht, in der die Musiker verschwunden sind«, sage ich.
Dr. X’ trauriges Gesicht füllt den Bildschirm. »Warum müssen wir sterben, wenn sich jede Faser in uns nach dem Leben verzehrt?« Er schüttelt die Schneekugel mit dem Engel und sie trübt sich mit falschem Schnee.
Zusammenhänge. Dulcie hat gesagt, das alles mit allem zusammenhängt. Finde ich diesen Zusammenhang vielleicht, wenn ich Dr. X’ Experiment wiederhole?
»Wohin auch immer Dr. X gegangen ist, können Sie mich dorthin schicken?«
»Das hängt davon ab, ob du deterministisch bist oder prohabilistisch.« Außer Dr. O lacht niemand. »Das ist ein Witz«, sagt sie und rollt mit den Augen. »Wie auch immer: Es sollte möglich sein.«
»Sicher sind wir uns nicht«, sagt Dr. A. »Wir waren nie in der Lage, Dr. X’ Experiment zu kopieren. Es könnte sein, dass du in einem schwarzen Loch landest. Oder in einer anderen Welt, ohne die Möglichkeit zurückzukehren. Du könntest endlos durch die Welten segeln wie der Fliegende Holländer.«
»Aber falls er ein XL-Gravitron hinterlassen könnte – eine Art ›Fußabdruck der Parallelwelt‹ –, wäre das der Beweis«, sagt Dr. M und schreitet nervös auf und ab. Er senkt seine Stimme. »Das könnte die Finanzierung sichern.«
»Hmmm«, stimmen die Wissenschaftler ein.
Gonzo flüstert mir ins Ohr. »Was ist, wenn dich das Ding in eine andere Realität schießt, in der du ein Superstreber bist, aber keine Freundin hast? Halt, warte! Das wäre ja unsere Realität. Vergiss es!«
»Leck mich«, wispere ich und Gonzos Lächeln wird breiter.
»Wie bitte?«, fragt Dr. A.
»Nichts«, sage ich.
Dr. T hält einen Finger in die Höhe und grinst. »Es gibt nicht Nichts. In jedem Nichts steckt etwas drin. Genau genommen alles!«
»Der neue Werbeslogan«, erklärt Dr. O. »Unsere Forschungsarbeit wird auch von der Streben nach Glückseligkeit GmbH gefördert. Strebe nach Glück um jeden Preis.«
»Wir waren dort«, murmelt Gonzo. »Extrem viel Glückseligkeit. Nicht alle sind dafür geschaffen.«
Ich starre das Foto von Dr. X und seiner Frau an.
»Wann geht’s los?«