KAPITEL NEUNUNDZWANZIG

In welchem ich erfahre, dass sich zwei sehr kleine Menschen zu einer großen Plage summieren können und wir das Problem im Preakfast Pretzel nahezu in den Griff kriegen

 

Gonzo ist schlecht gelaunt aufgestanden. Er ist nicht glücklich darüber, dass ich ohne ihn zu einer Party gegangen bin. Er ist nicht glücklich darüber, dass ich kein Kleingeld für den Getränkeautomaten habe. Er ist nicht glücklich darüber, dass er seinen faulen Arsch vor der Mittagszeit hochhieven muss. Aber ich habe nicht die Absicht, noch eine Tagesrate zu blechen, und im Gegensatz zu Mister Motels Desinteresse an den Idioten, die seine Zimmer mieten, hat er ein großes Interesse daran, dass diese Idioten pünktlich um elf auschecken. Und als ich ihm Balder vorstelle, den sprechenden Wikingergartenzwerg, ist Gonzo wegen einer ganzen Reihe weiterer Gründe unglücklich.

»Lass mich das noch einmal auf seine Richtigkeit überprüfen, Alter: Ich frühstücke also mit einem Gartenzwerg«, sagt er, als wir uns in einer Sitzecke des Preakfast Pretzel, gleich rechter Hand vom Mister Motel, niedergelassen haben. Gonzo hat sein Frühstück noch nicht angerührt.

»Ich bin Balder, der Gott des Lichtes, der Güte, der Reinheit, der Schönheit und zweiter Sohn des Odin«, erklärt Balder, während er seinen Tee schlürft. Er sitzt eingezwängt in der Ecke, wo ihn außer uns keiner essen sehen kann.

»Okay, du bist ein Gartenzwerg mit Wahnvorstellungen«, sagt Gonzo.

»Reden wir nicht über Wahnvorstellungen«, warne ich und schaue mich um. Ich bin mir sicher, dass uns alle beobachten – den nervösen Teenager, den spleenigen Knirps und den sprechenden Gartenzwerg –, aber nein, die Leute sind einfach nur mit ihren eigenen Dingen beschäftigt und ihrem Corned Beef mit Eiern. Irgendwie ist es lustig und traurig zugleich, dass Menschen nie wirklich bemerken, was um sie herum vorgeht, genau wie Dulcie es einmal gesagt hat. Ich frage mich, ob ich sie jemals wiedersehen werde.

Balders Augen verengen sich zu Schlitzen. »Du glaubst mir nicht.«

Gonzo spießt schließlich ein glibberiges Stück Ei auf die Gabel. »Äh, lass mich mal überlegen. Hmmm … nein. Nenn mich behämmert, wenn du willst, aber nein, ich glaube nicht daran, dass ein Gartenzwerg ein Wikingergott ist.«

»Gonzo«, beginne ich, aber er gibt mir ein Auszeit-Zeichen und wendet sich Balder zu.

»Hören wir auf, Scheiß zu reden, und seien wir ehrlich. Du bist ein Zwerg. Ich weiß das. Du weißt das. Akzeptier das einfach, Mann. Mach Schluss mit deinem Selbsthass.«

»Wie du wünschst. Ich soll also beweisen, dass ich Balder bin.« Er nimmt ein Messer vom Tisch. »Bohr mir dieses kleine, aber ehrenwerte Schwert in den Leib.«

Gonzo hört augenblicklich auf zu kauen. Sein mit Eiertoastbrei gefüllter Mund steht offen. »Du willst, dass ich dich mit einem stumpfen Buttermesser ersteche?«

»Ich möchte, dass du versuchst, mich zu töten«, erklärt Balder. »Mein Blut soll fließen wie der Fluss Leiptr.«

»Mann, ich bin gerade beim Essen«, nörgelt Gonzo.

Balder lächelt. »Keine Sorge, mir kann nichts geschehen. Das ist die Macht von Balder dem Großen.«

»Hör mal –«, beginnt Gonzo. Ohne Warnung stürzt sich Balder in das Messer in Gonzos Hand. Die Klinge verschwindet in seinem drallen Bauch.

»Aaahh!«, schreit Gonzo. Ein paar Köpfe drehen sich in unsere Richtung. Mit meinem Körper schütze ich Balder vor Blicken.

»Würdet ihr euch bitte beruhigen«, zischle ich durch geschlossene Lippen.

Balder zieht das Messer geschickt aus seiner Haut und legt es auf den Tisch. Es ist völlig sauber.

Gonzo ist ganz blass. »Mann, du machst mich total wahnsinnig.«

Ich lege die Hand auf Balders Bauch – keine Wunde. »Wie hast du das gemacht?«

»Ich bin unsterblich.« Balder nimmt einen Schluck Tee. »Wisst ihr, als ich noch jung war, hatte ich einen fürchterlichen Traum: Ich würde ermordet. Also reiste meine Mutter Frigg in die Unterwelt und bat um Schutz für mich. Sie nahm jedem Wesen das Versprechen ab, mich nicht zu töten. Alle schworen einen Eid darauf, außer der winzige Mistelzweig, der zu jung war, um ein solches Versprechen zu geben. Auf diese Weise war ich geschützt.«

Ich erinnere mich schwach daran, dass mir meine Mom diese Geschichte erzählt hat. Wie mir scheint, ging sie ein bisschen anders. Aber Einzelheiten habe ich vergessen – all diese Geschichten sind aus meinem Kopf verschwunden wie Dateien, die ich nicht mehr finden kann. Mom. Wenn sie jetzt hier wäre, würde sie wegen Preakfast Pretzel Zustände kriegen. Vermutlich würde sie der armen Kellnerin sagen, dass man Breakfast nicht mit »P« schreiben sollte und dass sie damit zur »Aushöhlung des Bildungssystems« beitragen. Dinge wie diese sind mir an meiner Mutter immer wieder peinlich. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich sie nicht anrufe. Wahrscheinlich dreht sie gerade durch. Ich schnappe mir einen Werbekuli und kritzle meine Serviette voll.

»Die anderen haben sich einen Sport daraus gemacht zu versuchen, mich umzubringen – sie warfen Steine und Pfeile, sogar Speere«, kichert Balder. »Und ich blieb unverletzt.«

Gonzo schmiert ein Pfund Butter auf seinen Toast. »Und ich dachte, Völkerball wäre sadistisch. Ich würde den Wikingersportunterricht hassen: ›Hey, Timmy, weich dem Speer aus und … oh, ’tschuldigung, Timmy. Hör zu, eigentlich brauchst du nicht mehr als einen Arm.‹«

»Darf ich meinen Gedanken zu Ende führen?«, sagt Balder, offensichtlich verärgert.

Gonzo streckt den Arm über ihn, um sich die Marmelade zu greifen. »Ich dachte, du bist fertig.«

»Wenn ein Wikingerkrieger stirbt, wird auf einem Schiff ein Scheiterhaufen in Brand gesetzt, auf dem der Tote aufgebahrt liegt. So wird er nach Walhall geschickt, in die Halle der Götter im Jenseits. Das ist ein sehr nobles Ende.«

Gonzo verdreht die Augen. »In Brand gesetzt? Ja, das klingt sehr amüsant. Kannst du mir mal das Ketchup geben?«

»Ich erwarte von dir nicht, dass du das verstehst«, sagt Balder. »Du bist nicht nobel.«

»Ich mach diese Reise mit, oder? Aber ich muss mir das nicht antun. Cameron, sag ihm, dass ich mir das nicht antun muss.«

»Du musst dir das nicht antun«, sage ich.

Gonzo zeigt mit der Gabel auf mich, als ob er sagen will: Siehst du, du Arschloch?

Balder mustert Gonzo von Kopf bis Fuß. »Du bist recht klein, oder?«

Gonzo kneift die Augen zusammen und presst seine Hand um den Griff der Gabel. »Ich glaube wirklich nicht, dass du in der Position bist, dich über die Größe von jemandem auszulassen, oder, Mann?«

»Das ist keine Frage der Größe. Es ist eine Frage des Formats. Während meiner Reisen habe ich fünf Sprachen sprechen gelernt und ich bin bewandert in Wissenschaft, Kunst und Musik.«

Gonzo starrt ihn an. »Du bist ein verdammter Gartenzwerg, Mann.«

»Knirps«, grummelt Balder.

»Pisspfosten.«

»Ignorant.«

»Verflucht noch mal, können wir uns nicht einfach vertragen und in Frieden essen?«, seufze ich. Ich fühle mich nicht gerade großartig. Mein Kopf hämmert und mein Bauch tut weh. Ich glaube, dass das nur ein ganz normaler Kater ist und nicht mein Creutzfeldt-Jakob. Ich schaue auf die Serviette, auf der ich das »P« in Preakfast durchgestrichen und durch das korrekte »B« ersetzt habe.

»Ich bin gleich zurück«, sage ich.

»Wohin gehst du?« Gonzos Stimme klingt panisch.

»Ich bin gleich zurück. Ihr Jungs solltet … euch einfach mal kennenlernen. Eine Beziehung aufbauen«, sage ich.

Balder reicht Gonzo das Buttermesser. »Vielleicht möchtest du mich noch einmal erstechen?«

»Cameron, lass mich nicht mit diesem ausgeflippten Gartenzwerg allein!«, fleht Gonzo, aber ich bin schon weg. Am Hintereingang, direkt neben der Herrentoilette, ist ein Münztelefon. Ich werfe mein ganzes Kleingeld rein und wähle. Das Freizeichen ertönt viermal, und dann geht der Anrufbeantworter dran, mit der vertrauten Botschaft meiner Mutter – »Hi, hier spricht Mary Smith. Ich kann gerade nicht ans Telefon, weil ich wahrscheinlich vom Vogel Greif davongetragen wurde. Aber wenn ihr Namen und Telefonnummer hinterlasst, werde ich so schnell zurückrufen wie Hermes.« Es folgt eine Pause und dann sagt sie zu mir: »Cameron, hab ich das richtig gemacht? Oh! Das wird noch aufgenommen! Oh, meine Güte …«, und dann wird ihr Lachen abgeschnitten. Normalerweise bringt mich diese Botschaft zur Weißglut. Aber ihre Stimme jetzt, in diesem Augenblick, zu hören, ist das Beste auf der Welt, wie frühmorgens aufzuwachen und festzustellen, dass keine Schule ist. Ein Piepston ertönt und mein Magen zieht sich zusammen.

»Ähm, hi, Mom. Ich bin’s, Cameron. Das hast du dir wahrscheinlich schon gedacht«, sage ich und klinge wie der größte Trottel. »Jedenfalls bin ich okay. Das wollt ich dir zuerst sagen. Und, weißt du was? Du musst diese schwachsinnigen Englisch-Grundkurs-Arbeiten weiter benoten, sonst werden wir alle unser Benzin an K-W-I-K-S-E-R-V-I-C-E-Stationen kriegen und unsere E-S-P-R-E-S-S-Os im Preakfast Pretzel – mit zwei Ps. Ernsthaft, die Welt braucht dich. Du bist wichtig. Wirklich wichtig. Okay, ich werd jetzt Schluss machen, weil der Vogel Greif schon hier ist, und du weißt, wie sehr er es hasst zu warten. Ich lieb dich«, füge ich schnell hinzu und hänge auf.

Ich drehe mich um und stoße mit jemandem zusammen, der eine Zeitung liest. »’tschuldigung«, murmle ich.

»No problemo«, antwortet eine vertraute Stimme. Dulcie senkt ihre Zeitung. Das pinkfarbene Haar ist zu kurzen Korkenzieherlocken gedreht, die wackeln, wenn sie den Kopf schüttelt. »Nicht zu glauben, was Leute heutzutage alles in die Kontaktanzeigen schreiben.«

»Dulcie! Wo bist du gewesen?«

»Du wolltest allein gelassen werden.«

»Ja.« Mit meinem Fuß spüre ich einem Riss in der Bodenfliese nach. »’tschuldigung. Von jetzt an bin ich kein Arschloch mehr, ich versprech’s dir.«

»Mach keine Versprechungen, die du nicht halten kannst«, sagt Dulcie und lacht. Ihre Flügel werden munter wie zwei junge Hündchen und breiten sich aus, bis sie die Wände des schmalen Ganges berühren. Ich blicke ängstlich Richtung Restaurant. »Vielleicht solltest du jetzt lieber nicht deine Schwingen benützen.«

»Was? Du meinst diese?« Sie schüttelt sie auf, sodass ich das aktuelle Kunstwerk sehen kann, einen Regenbogen. »Mach dir keine Sorgen, die Leute sehen nur das, was sie sehen wollen.«

Genau aufs Stichwort rast eine Dame in den engen Flur und fragt, ob Dulcie vor der Toilette wartet. Dulcie schüttelt den Kopf, und die Dame geht hinein, ohne einen Augenblick zu zögern.

»Ich bin nur neugierig: Was hat sie gesehen?«

Dulcie zuckt mit den Schultern. »Wer weiß? Alles in Butter im Camland? Ist schon ne Weile her, dass wir uns gesehen haben.«

»Ja, das waren schon ein paar merkwürdige Tage.« Ich erzähle ihr davon, wie wir den Bus verpasst haben, von der KIGSNAB, von der Party und von Balder.

»Ich bin was ganz Besonderes, du bist was ganz Besonderes«, singt Dulcie.

»Woher weißt du –?«

»Das muss auf einer Greatest Hits-CD gewesen sein. Großartig und ganz besonders«, sagt sie schnell. »Jedenfalls habe ich nachgedacht – ich weiß, du wolltest allein gelassen werden, aber ich glaube nicht, dass das eine besonders gute Idee ist, Cameron. Du brauchst mich.«

»Ich brauche dich?« Ich denke über eine Retourkutsche nach, aber die Wahrheit ist, dass ich einfach glücklich bin, sie zu sehen.

»Du hast Traubengelee an deiner Backe«, sagt sie und reibt es weg. »Oh, außerdem: Eben kam etwas rein.«

»Kam von wo rein? Von der Engelzentrale?« Dulcie antwortet mir nicht. »Wow, habt ihr einen Arbeitsplatz? Gibt’s ein mittleres Management und einen nervigen Engel, der den ganzen Kaffee wegsäuft, aber nie dran denkt, neuen zu kochen?«

Dulcie verpasst mir einen scherzhaften Boxhieb auf den Arm. »Sehr lustig, Cameron. Du weißt, dass ich dir gern alles darüber erzählen würde, aber leider müsste ich dich danach umbringen. Jedenfalls … das ist gerade aufgetaucht: neues Filmmaterial von Dr. X.«

Sie klappt einen MP7-Player auf und drückt auf Play. Ein unscharfer Videofilm ist zu sehen. Ein Typ im Laborkittel in einem weißen Raum. Die Szene kommt mir irgendwie bekannt vor. »Warte – ich hab diesen Typen schon mal gesehen! In der Nacht, bevor die Feuerriesen auftauchten, war ich im Internet und bin auf seiner Seite gelandet. Er hat mich zu Dr. X geführt.«

»Alles hängt mit allem zusammen«, sagt Dulcie mit sanfter Stimme und dreht den Ton lauter.

Die Tonqualität ist scheiße. Die Worte werden immer wieder von Rauschen unterbrochen. »… So nahe daran, die Antwort zu finden pschschschttt … Der Ablauf der Zeit ist eine Illusion; Zeit pschschschttt … existiert nicht, oder genauer gesagt: Wir leben immer in allen Zeiten gleichzeitig pschschschttt … als ob wir die Hände ausstrecken und berühren können, was vor uns kam und was noch aussteht pschschschttt … und jetzt folgt das Wichtigste von allem pschschschschtttt …«

Plötzlich springt das Bild um, wie wenn man den Kanal wechselt und sich mitten im Ferienfilm von irgendjemandem wiederfindet. Wackelige Aufnahmen von Leuten, die in kurzen Hosen herumlaufen, Gemurmel, muntere Musik, winkende Zeichentrickfiguren. Die Kamera schwenkt hinüber zu einem Tor, das mit farbenfrohen Planeten und solchem Zeugs verziert ist. Auf einem Schild steht: TOMORROWLAND – DIE ZUKUNFT, DIE ES NIE GAB. Der Film stoppt und ein kleines Play-Again-Symbol erscheint.

»Was, zum Teufel, ist da passiert?«

Dulcie seufzt. »’tschuldigung. Ich war schon froh, dass ich wenigstens das bekommen hab.«

»Was soll das ganze ›Zeit existiert nicht‹-Gerede? Ich meine, wie wär’s mit: ›Hey, hier ist das Heilmittel, das du brauchst. Oh, und lass mich dir noch erzählen, wie man das Wurmloch schließt und die Welt rettet. Du musst in Alabama nur links abbiegen und bald wird’s dir besser gehen.‹«

»Es tut mir leid, Cameron. Ich weiß, das ist frustrierend.«

»Was du nicht sagst.«

»Ich will’s dir ja nicht schwerer machen, aber ich glaub, unsere Uhr tickt jetzt ein bisschen schneller. Falls der Abrechner Dr. X vor uns kriegt, werden sie ihn wieder durchs Wurmloch zerren, und dann ist alles aus.«

»Na toll«, sage ich.

Sie beißt sich auf die Unterlippe. »Bist du dir inzwischen über die Bedeutung des Ganzen im Klaren? Bist du dir überhaupt über etwas im Klaren?«

Ich schüttle den Kopf.

Dulcies Gesichtsausdruck ist unergründlich. »Okay. Nun, ich werd mal sehen, was ich über Dr. X noch herausfinden kann. Du schaust, dass du weiterkommst, und folgst jedem Zeichen, das du findest.«

»Also gehst du wieder?«

»Ich bin hier, wann immer du mich brauchst.« Sie grinst albern, und ich möchte ihr gern sagen, dass sie in der Nähe bleiben, unsere schräge Bande treffen und ein paar Pfannkuchen essen soll. Ich möchte ihr gern was Cooles sagen, etwas, damit sie weiterlächelt, aber mir fällt einfach nichts ein. »Você é vaca do meu contentamento«, zitiere ich einen Song von Great Tremolo.

Dulcie guckt mich komisch an und bricht in Gelächter aus. »Du bist die Kuh, die mich zufrieden macht? Wow. Ich bin sprachlos.«

»Ist das das, was ich gesagt habe?«

»Ich fürchte.«

»Ich hab’s gewusst.«

»’türlich.« Ihr Gelächter erstirbt. Sie schreckt zurück, die Augen weit geöffnet.

»Was ist los?«, frage ich und folge ihrem Blick in den vorderen Bereich des Restaurants, sehe jedoch nichts Ungewöhnliches. Eine Bedienung direkt neben einem Stapel Speisekarten. Leute, die zahlen. Ein Typ im T-Shirt mit dem Aufdruck Vereinigte Schneekugel-Großhändler, der eine Palette mit Kartons hereinfährt. Ein Mann, der mit einem Zahnstocher zwischen seinen Zähnen herumpickt. Kellnerinnen, die mit Tabletts hin und her rennen. Der Typ liefert die Schachteln ab und eine Bedienung öffnet sie. Sie nimmt eine Schneekugel heraus und schüttelt sie kräftig, bevor sie sie auf ein Hochregal über der Kasse stellt.

»Dulcie?«

»Es ist nichts«, sagt sie mit dünner Stimme. »Ich seh dich unterwegs, Cowboy. Hier hast du die Zeitung. Und, Cameron, pass auf dich auf!« Und schon ist sie weg.

»Hey, du hast deinen Player vergessen!«, rufe ich, aber sie hört es nicht mehr.

Ich werfe einen schnellen Blick in Dulcies Zeitung – die üblichen Annoncen, ein Kuddelmuddel aus Unverständlichem und Lächerlichem. Aber mir fällt eine Werbeanzeige für billige Tickets nach Daytona Beach ins Auge. Ich verstehe das als Zeichen, dass wir auf dem richtigen Weg sind, obwohl es, ehrlich gesagt, genauso richtig sein kann wie alles andere, dem ich eine Bedeutung zuschreiben könnte – Comics, Great Tremolo, die Art, wie Staci Johnson mit ihrem Pferdeschwanz wedelt. Ich streiche Junior Websters wegweisenden Zeitungsschnipsel glatt – leben! –, falte ihn ordentlich und verstaue ihn, zusammen mit dem MP7-Player, in meiner Tasche.

Als ich ins Restaurant zurückkehre, ist dort eine Art Kampf ausgebrochen. Die Leute stehen wie Zuschauer herum und feuern jemanden an.

»Was ist da los?«, frage ich den Typen neben mir.

»Ich glaub, irgend ne Art von Werbung für Wrestling, sehr unterhaltsam, so viel kann ich sagen. Diese kleinen Kerle ham ne Menge Feuer im Hintern, das sag ich dir.«

»Kleine Kerle?«, krächze ich. Oh nein, doch nicht die! »’tschuldigung, ’tschuldigung!«, sage ich und drängle mich nach vorn. Balder steht auf dem Tisch, die Leute haben sich in einer Reihe aufgestellt und bewerfen ihn mit allem, was sie in die Finger kriegen – Messer, Gabeln, Kaffeetassen, Münzen. Ein kleines Mädchen schleudert seine Waffel.

»Ein Wurf zwei Dollar! Jedermann kann mitmachen!«, schreit Gonzo. Er saust zwischen den Leuten hin und her und sammelt in Balders Wikingerhelm Geld ein.

»Ich bin unverwundbar, weil ich Balder bin …« Ein Messer steckt in seinem Arm, aber er redet weiter. »Sohn des Odin …« Eine Gabel macht sich’s in seinem Schädel bequem. »Bruder des Thor«, sagt er und zieht beides aus sich heraus. »Unsterblich.«

»Ja? Das werden wir ja gleich sehen.« Ein uniformierter Kerl vom Sicherheitsdienst zieht seine Knarre und schießt Balder in die Brust. Ein Raunen geht durch die Menge. Anstatt in die Knie zu gehen, veranstaltet Balder einen kleinen Tanz.

»Boo-ya!«, sagt er, und ich bin mir ziemlich sicher, dass das original Altnordisch ist.

»Mich tritt ein Pferd«, sagt der Wachmann. Alle applaudieren und jubeln.

»Zwei Dollar!«, beharrt Gonzo und steckt die Scheine des Schützen ein.

»Okay, die Show ist aus!«, rufe ich, laufe hin und ziehe Balder vom Tisch. »Du warst großartig. Kannst Gift drauf nehmen, dass du groß rauskommst und dass unsere Show am Wochenende in der Monster Wrestling Truck Arena zu sehen ist. Ich dank euch. Ich dank euch vielmals. Danke.« Als sich die übrigen Gäste wieder an ihren Tischen niederlassen, schaue ich Gonzo und Balder scharf an. »Das ist genau die Art, wie man unauffällig bleibt, Jungs.«

»Er hat angefangen«, grummelt Gonzo.

Balder verbeugt sich wieder mal vornehm. »Ich wollte keinen Ärger verursachen, edler Cameron.«

»Mit ›Beziehung aufbauen‹ meinte ich solche Sachen wie Geschichten erzählen, ein paar Idiotenwitze austauschen oder ein Bild von der Kellnerin mit Schnurrbart malen. Nicht einen Aufstand provozieren.«

»Schau trotzdem mal, wie viel wir kassiert haben.« Gonzo zeigt mir Balders mit grünen Scheinen gefüllten Helm. Beide sind so aufgeregt, dass es unmöglich ist, noch wütend auf sie zu sein.

»In Ordnung. Okay. Aber macht das nicht noch mal. Zahlen wir einfach und –« Ich rieche einen ätzenden Gestank, der mir die Tränen in die Augen treibt. Irgendetwas daran kommt mir bekannt vor. »Riecht ihr das?«, frage ich und kriege Gänsehaut an meinen Armen.

»Was riechen?«, fragt Gonzo.

Feiner schwarzer Rauch breitet sich über den Boden und schlängelt sich um meine Beine. Sie fangen an zu zittern. Mein Körper fühlt sich an, als ob er brennen würde. Irgendetwas schnürt meine Kehle zu.

»Jungs …«, krächze ich.

»Cameron?«, fragt Gonzo mit sorgenvollen Augen.

»Sie sind es.« Mehr bringe ich nicht raus. In diesem Augenblick werden die Küchentüren explosionsartig aus den Angeln gerissen. Die Feuerriesen haben uns gefunden.

»Gehört das zur Wrestlingshow?«, fragt ein Mann am Nachbartisch seine Freunde.

Eine zweite Explosion erschüttert das Preakfast Pretzel. Als Trümmer von der Decke fallen und Flammen aus den Wänden schießen, beginnen die Menschen zu kreischen. Ich aber erkenne, dass das nicht einfach Flammen sind, es sind gigantische brennende Männer. Ihre Augen sind schwarze Löcher und die Mäuler bestehen aus spitzen, flackernden Zähnen. Die Giganten sind schnell und zielgerichtet und gnadenlos, und sie hinterlassen Spuren der Verwüstung. Sie springen voller Freude von den Wänden und landen, wo immer sie wollen. Sie zertrümmern Tische, werfen Stühle um, zerfetzen den Bodenbelag. Alles, was sie anfassen, verbrennt zu Asche. Zwei der Kreaturen kriechen an der Decke entlang, beißen sich mit ihren Zähnen fest und reißen gewaltige Löcher in die billigen weißen Deckenplatten. Der Raum füllt sich mit stechendem Rauch. Mütter packen ihre Kinder, Fernfahrer lassen ihre Pfannkuchentürme stehen und liegen; Kellnerinnen verlassen panisch die Küche und rennen schreiend auf die Ausgänge zu.

»Cameron! Alter! Wir müssen hier raus!« Gonzo reicht mir die Hand, aber ich kann mich nicht vom Fleck rühren. Meine Beine bewegen sich nicht.

Der Rauch teilt sich und der Große Abrechner strahlt im Feuerschein wie ein Cyborgritter. Ein schwarzer Umhang flattert hinter ihm. Er hat sich einen Umhang zugelegt, dieser unverschämte Bastard. Er scheint größer und stärker als bei unserem letzten Zusammentreffen. Mein Hirn befiehlt mir loszurennen, aber mein Körper will den Befehl nicht übersetzen. Der Abrechner deutet direkt auf mich und mein Herz rutscht mir in die Hose. Die Beinmuskeln zucken und verkrampfen sich total, und ich sacke in mich zusammen.

»Cameron! Los, hoch, Alter!«, schreit Gonzo.

Mit den Händen ziehe ich mich unter den Tisch, presse meine Knie an die Brust und ringe um Atem. Auf der anderen Seite des Restaurants schält sich der Große Abrechner aus dem Raumanzug. Mitten auf seiner Brust öffnet sich ein schwarzes Loch, und mir ist, als würde ich hineingezogen.

»Nein«, krächze ich, »nicht jetzt.« Ich schließe die Augen und versuche dem Sog zu widerstehen.

Und dann fühle ich nichts mehr.

Als ich die Augen öffne, liege ich im Gras und blinzle gegen das helle Sonnenlicht. Der beißende Rauch ist verschwunden. Tatsächlich riecht die Luft süßlich, wirklich süßlich. Wie nach Blumen. Ich atme tief durch die Nase ein.

»Das, was du riechst, sind Maiglöckchen. Sehr angenehm, stimmt’s?«

»Ahhhhh!«, kreische ich, fahre hoch und krabble rückwärts wie eine Spinne. Meine Augen verschaffen sich einen kurzen Überblick: Blumen, Gras, Papierlaternen und darüber heller Sonnenschein. Ein paar Schritte entfernt steht die alte Lady aus dem Krankenhaus. Sie trägt noch ihren Bademantel und ihr Namensschildchen am Handgelenk, hat sich jetzt aber eine gemusterte Rindslederschürze umgebunden und einen breitkrempigen Sonnenhut aufgesetzt. Mit einer langen, dünnen Schere schnipselt sie an ihren Gartenpflanzen herum.

»Was geht hier vor? Wo bin ich?«, keuche ich.

Die alte Dame lächelt und breitet ihre Arme weit aus. »Das ist der Ort, von dem ich dir erzählt habe – mein Haus am Meer.«

»Was? Das ist Wahnsinn – vor zwei Sekunden war ich noch in einem Restaurant und es brannte und …« Ich höre es. Das Meer. Ich sehe mich um. Hinter mir steht ein zweistöckiges Farmhaus, von dem aus man über das ruhige Meer blicken kann. Die Wellen schlagen sanft an den felsigen Strand, vor und zurück, vor und zurück. Das macht mich ganz schläfrig. Alles ist so friedlich.

»Und sehet, der Winter ist vergangen, der Regen ist weitergezogen; und auf der Erde blühen wieder die Blumen.« Die alte Dame mustert mich. »Du hast einen Marmeladenfleck an deiner Wange, Schätzchen.«

Ich wische mir übers Gesicht. »Wirklich? Ich glaub, ich werd langsam verrückt.«

»Dafür gibt’s keinen Grund«, sagt sie und summt vor sich hin. »Die Copenhagen Interpretation. Ich liebe sie einfach! Hab gehört, sie sind Inuits?«

»Ich … ich hab meine Freunde im Diner zurückgelassen, mit den Feuerriesen und dem verdammten Abrechner.«

»Die Gehilfen des Chaos«, bellt sie. »Oh ja, wir leben in schlimmen Zeiten. Bist du sicher, dass es dir gut geht, Schätzchen?«

»Ich bin so müde. Ich will einfach nur schlafen.«

Die alte Dame presst die Lippen aufeinander, als sie den langen Stängel eines Unkrauts ergreift und überlegt, wo sie ihn abschneiden soll. »Tu das doch einfach. Gleich die Treppe hoch steht ein Bett neben einem Fenster, von dem aus du direkt aufs Meer schauen kannst. Zum Schlafen tut das sehr gut. Aber ich denke, du suchst diesen Doktor, den, der dich von deinem Leiden heilt?«

»Dr. X?«, murmle ich. Schlafen, das wäre im Augenblick genau das Richtige. »Ja, eigentlich sollte ich ihn finden. Jedenfalls hat mir das Dulcie gesagt.«

Die alte Dame schneidet den Stängel ab und das Unkraut geht ein. Sofort sprießt an der Stelle etwas anderes, eine blaue Blume. »Also, du kannst hierbleiben, wenn du magst. Komm von der Straße runter und geh zum Strand. Oder wir können zusammen Waffeln backen. Ich bin verrückt nach Waffeln, du auch?«

»Waffeln sind gut«, sage ich.

»In diesem erbärmlichen Krankenhaus hatten sie keine Waffeln, nur diesen verdammt klebrigen Haferbrei«, knurrt sie.

»Die Sache ist die, dass ich eigentlich die Welt retten sollte, weil sie … sie gerettet werden muss«, sage ich, aber ich bin furchtbar ausgepowert. »Vielleicht nur ein kurzes Nickerchen.«

Ich lege den Kopf ins weiche Gras und schlafe ein. Einmal öffne ich die Augen – ich liege wieder in meinem Bett im St. Jude’s und im Fernsehen jagt der Kojote den Roadrunner. Das einschläfernde Summen des Beatmungsgerätes und die Schritte auf dem Flur dringen an mein Ohr. Ich schlummere wieder ein. In meinem Traum jedoch sehe ich Gonzo und Balder im Café, wie sie versuchen, die Feuerriesen und den Großen Abrechner zurückzuschlagen, und ich denke mir: Ich bin derjenige, der sie in dieses Schlamassel gebracht hat. Ich darf nicht schlafen; ich muss zurück zu ihnen.

Ich schrecke aus dem Schlaf hoch. Die alte Dame hegt und pflegt immer noch ihren Garten. »Fühlst du dich besser, Schätzchen?«

»Ja«, sage ich.

»Hast du dich wegen der Waffeln entschieden?«, fragt sie, überprüft eine weitere Kletterpflanze und hält mit der Schere einen Augenblick direkt über ihr inne.

»Ich kann nicht«, sage ich. »Ich muss zu meinen Freunden zurück.«

Die alte Lady lässt die Pflanze wieder los und widmet sich der nächsten. »Na schön. Dann ein andermal. Oh, Schätzchen, ich hab meine Gießkanne da drüben vergessen. Könntest du sie mir bringen?«

»Wo?«

Sie winkt in Richtung der grünen Felder. »Dort draußen. Du findest sie.«

Ich stapfe durch das hohe Gras und stoppe abrupt, als ich einen Roadrunner sehe. Er steht einfach seelenruhig da und beobachtet mich.

»Hey«, sage ich und nähere mich Zentimeter für Zentimeter. »Hallo, kleiner Kerl!«

In dem Augenblick, in dem ich nahe genug bin, um ihn zu berühren, haut der Roadrunner ab. Vielleicht hundert Meter entfernt hält er an und dreht sich zu mir um, als ob er darauf wartet, dass ich ihm folge.

»Ich komm gleich mit der Kanne zurück!«, rufe ich.

Die alte Dame singt weiter ihr Lied, irgendetwas über Sandburgen und Ninjas. Ich jage dem Roadrunner hinterher, werde schneller und schneller und strecke die Hand nach seinem Gefieder aus. Meine Finger greifen ins Leere und ich falle hin. Ich bekomme Erde in den Mund, und ich huste, als hätte ich Rauch geschluckt.

 

»Cameron! Cameron!« Gonzo hält mit einer Hand eine nasse Serviette über seinen Mund und versucht mich mit der anderen unter dem Tisch vorzuziehen. »Los, komm schon, cabrón, beweg deinen faulen Arsch!«

Ich huste ordentlich. Schließlich gehorchen meine Beine wieder, und ich stoße mit so viel Kraft unter dem Tisch hervor, dass ich Gonzo gleich mitreiße.

»Wo ist Balder?«, schreie ich.

»Ich weiß nicht!«

»Ich bin hier!« Der härteste Wikingergartenzwerg der Welt steht auf dem Tresen neben der Kasse und benutzt einen Teller als Schild und ein Steakmesser als Schwert. »Zweifellos hat mir Loki diesen heimtückischen Hexenmeister und seine Drachen auf den Hals gehetzt, um mich zu prüfen«, ruft er. »Keine Angst! Ich würde sie alle töten und ihre Knochen zur Zierde meiner Tafel auf Breidablik verwenden, bevor ich ihnen erlauben würde, dir etwas anzutun, edler Cameron!«

»Leb weiter für den nächsten Kampf, mein Freund«, sage ich, packe ihn und schiebe ihn durch die Tür auf den rauchgeschwängerten Parkplatz. Menschen flüchten und suchen in all dem Chaos einen sicheren Unterschlupf. Der Himmel ist unnatürlich dunkel. Blitze schlagen auf die Wolken ein wie elektrische Kinnhaken. Die Feuerriesen strecken sich über das Dach des Restaurants und klopfen sich mit Triumphgeheul auf die Brust.

Genau in diesem Augenblick erfüllt ein gewaltiges Dröhnen den gesamten Parkplatz, und alles – das Preakfast Pretzel, das Mister Motel, die Pkws und Lastwagen – wird in das wirbelnde schwarze Loch über uns gesogen. Der Himmel verschließt sich. Nichts bleibt zurück als Flammen und Rauch und Menschen und – merkwürdigerweise – die Restaurantkollektion von Schneekugeln.

Drüben am Freeway schreien die völlig verschreckten Gäste des Preakfast Pretzel um Hilfe und halten Wagen an. Wir rennen, so schnell und so weit wir können, die Straße entlang, bis wir etwa eine Meile geschafft haben. Von Weitem hört man das Geheul einer Flotte von Löschfahrzeugen, die sich dem großen orangefarbenen Feuerball nähert, der einmal ein Restaurant war.

Gonzo kommt mit wildem Blick auf mich zugerannt. Mit den Händen zeigt er eine Auszeit an. »Okay. Spielpause. Was, zum Teufel, ist gerade passiert?«, keucht er. »Dieser Typ war derselbe wie der in New Orleans. Was macht er hier mit diesen gruseligen Feuerspeiern? Und erzähl mir nicht, dass das was mit den Spielschulden eines toten alten Jazzmusikers zu tun hat, weil ich dir diese mierda nicht länger abkaufe.«

»Ich – ich denke, sie verfolgen uns.« Eigentlich möchte ich weinen, aber der Schreck sitzt mir in allen Gliedern.

Gonzo steckt seinen Inhalator so tief in den Mund, dass ich glaube, er will ihn verschlingen. »Heiliges Shithenge«, sagt er, als er wieder sprechen kann. »Warum? Wie hast du’s geschafft, sie so wütend zu machen? Was auch immer es war, sag ihnen, dass es dir leidtut!«

Balder streicht sich über den Bart. »Das ist etwas Heimtückisches, das uns zweifellos Loki beschert hat. Der Gott der Halunken hat immer seine Hand im Spiel, wenn es darum geht, die Götterwelt ins Zwielicht zu rücken.«

»Du machst mich total verrückt, Zwergenmann!«, kreischt Gonzo.

»Beruhigt euch, beide.« Ein weiteres Sirenengeheul zieht an uns vorüber. Ich atme tief durch und versuche, mich selbst wieder einzukriegen. »Er wird der Große Abrechner genannt, und die Typen, die ihn begleiten, sind die Feuerriesen. Sie kommen nicht aus dieser Welt. Sie sind durchs Wurmloch, das Dr. X geöffnet hat, zu uns vorgedrungen. Sie sind die dunkle Energie, die unsere Welt zerstören will. Ich glaube, sie folgen uns zu Dr. X’ geheimem Aufenthaltsort, weil er der Einzige ist, der das Wurmloch wieder schließen kann. Wenn sie ihn töten, ist das Spiel aus – für alle.«

Gonzo nimmt noch einen Sprühstoß aus seinem Inhalator.

»Deshalb müssen wir Dr. X so bald wie möglich aufspüren«, erkläre ich.

»Und dieser Dr. X wird, wie du sagst, das Loch schließen und alles besser machen?«, fragt Balder.

»Unbedingt«, verspreche ich.

Gonzo greift in seinen Rucksack, zieht eine Flasche Sonnenpowerlotion mit hundertfachem Lichtschutzfaktor hervor und verreibt einen großen Klecks davon auf seinem Gesicht. Das hinterlässt unter seinen Augen breite weiße Streifen. »Halt mal – woher willst du wissen, dass das alles wahr ist?«

»Dulcie hat’s mir erzählt.«

Gonzo lacht. »Oh ja, sicher. Es muss wahr sein, weil du es von der heißen Engelsbraut gehört hast, die in deinem Kopf lebt! Nach allem, was wir wissen, ist sie diejenige, die uns das Ende der Welt beschert«, sagt Gonzo.

»Ist sie nicht.«

»Ha!« Gonzo beginnt Sachen in seinen Rucksack zu werfen. »Weißt du was? Vergiss es, hey! Ich werd meine Mom anrufen, sobald ich ein Telefon in die Hände kriege, das funktioniert.«

»Sie lebt nicht in meinem Kopf. Es gibt sie wirklich«, sage ich, aber ich weiß nicht genau, ob ich damit Gonzo zu überzeugen versuche oder mich selbst.

»Ja? Und wie kommt es, dass sie jetzt nicht vorbeischaut?« Gonzo legt die Hände an den Mund und ruft lauthals: »Funkruf an alle übernatürlichen Weiber mit Flügeln! Am Straßenrand findet eine Versammlung statt, ganz in der Nähe des brennenden Pfannkuchenpalastes!«

»Fick dich!«

»Meinetwegen«, kontert Gonzo. »Ich sag ja nur, ohne irgendeinen Beweis fällt es schwer, an diesen ganzen Wahnsinn zu glauben.«

Beweis. Der MP7-Player in meiner Tasche.

»Du willst einen Beweis? Du kriegst ihn.« Ich ziehe den Player hervor, finde die Datei und drücke Play. Aber wo einst Dr. X auftauchte, ist jetzt nur weißes Rauschen zu sehen, gefolgt von dem Urlaubsvideo aus Disney World. Der Tiefe von Gonzos Kehle entweicht ein entrüstetes Gelächter. Selbst Balder schaut mich halb skeptisch, halb mitleidig an.

»Das Video war hier, ich schwör’s!« Ich drücke immer und immer wieder auf Play, aber es ist verschwunden.

Gonzos Blick ist eiskalt. »Ich hätte nicht mitgehen müssen, aber ich hab’s getan. Aber du hast mir erzählt, es würde auch was für mich rausspringen, und bis jetzt, Amigo, hatte ich ne Menge Ärger und keine Rendite. Sag mir, warum ich dafür meinen Kopf riskieren sollte.«

»Weil Cameron unser Bruder ist, unser Freund, und wir lassen unsere Freunde nicht im Stich«, tadelt Balder.

»Danke, Mann«, sage ich.

»Es ist egal, ob er seinen Verstand völlig verloren hat«, fährt Balder fort. »Wir streben nach etwas. Ich habe Cameron Treue geschworen, damals in der Sackgasse, und ich werde ihm beistehen, bis zum Ende.«

Die Art, wie er »Ende« sagt, lässt mich innerlich erschauern.

Gonzo steht einfach da, starrt auf das brennende Café in der Ferne. Er hat jedes Recht, seine Mom anzurufen und zurück nach Texas zu gehen, aber ich hoffe, er wird es nicht tun. Die Wahrheit ist, dass ich mich irgendwie an seine neurotischen Eigenarten gewöhnt habe und sie vermissen werde, wenn er geht. Vielleicht ist es das, was wahre Freundschaft ausmacht – sich so an Leute zu gewöhnen, dass du den Zoff mit ihnen brauchst.

»Ich sag dir was, pendejo«, sagt Gonzo, »besser, wir investieren in Windeln für Erwachsene, weil, wenn sich diese Freaks noch mal sehen lassen, werd ich sie brauchen.«

Ich könnte ihn fast umarmen.

»Ja, also, wisst ihr was: Lasst uns ’n paar dunklen Typen aus dem Paralleluniversum so richtig in den Arsch treten«, fügt er hinzu und versucht dabei, nicht ängstlich zu gucken.

»Eine weise Entscheidung. Aber wir brauchen etwas Schutz aus Muspelheim und Niflheim. Ich werde die Runen werfen und herauslesen, was sie uns prophezeien.« Balder greift unter seinen Kittel und zieht den Lederbeutel hervor.

Gonzo zieht ein Gesicht. »Du hast doch nicht, äh, das Zeugs die ganze Zeit in deiner Hose getragen, Alter, oder etwa doch?«

Balder schüttelt den Beutel, bis er klappert. Mit geschlossenen Augen ergreift er eine Rune und legt sie auf den unebenen Boden. Es ist nur ein Stück Stein, in das ein Symbol eingraviert ist, das mich an ein »M« erinnert, das einen BH trägt.

»Hmmmm.« Balder streicht sich durch den Bart. »Mannaz.«

»Was’n das?«, sagt Gonzo und führt den Inhalator wieder in die Nähe des Mundes. »Ist das irgendein böses Juju? Sind wir vom Tod gezeichnet? Sei ehrlich, Zwergenmann!«

»Der Mensch ist die Vervollkommnung des Staubes«, intoniert Balder. »So spricht die Rune.«

»Was, zum Teufel, heißt das?«, fragt Gonzo.

»Das kann ich nicht wissen, aber ich werde die Götter um Schutz für unsere Reise bitten. Das ist alles, was ich tun kann.«

Balder singt etwas in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Der Wind ändert die Richtung und bringt den Geruch von verbrannter Erde und den Duft von Frühlingsblumen mit sich. Fetzen von Rauch streifen über den blauen Himmel wie die Kratzspuren eines riesigen Untiers. Ich habe keine Ahnung, wie wir uns gegen so etwas total Willkürliches schützen können. Dafür gibt es keinen Plan. »So ist das Leben« ist mehr als nur ein Spruch auf T-Shirts.

»Also … glaubst du, dass uns das helfen wird?«, frage ich voller Hoffnung.

Balder sammelt seine Runen ein und steckt den Beutel wieder weg. »Ich glaube so fest daran, wie ich daran glaube, dass die Ringhorn auf mich wartet und dass ich in mein Heim zurückkehren werde und in die Halle der Götter.«

Ich seufze. »Haben deine Runen irgendetwas darüber gesagt, wie wir von hier wegkommen?«

»Ich kann nicht noch mal einen Bus nehmen. Mir wird schon schlecht, wenn ich nur dran denke«, sagt Gonzo.

»Ja nun, da wir jetzt gesuchte Männer sind, denke ich, dass Busfahren ne schlechte Idee ist.« Ich schaue mich um, aber es gibt nicht viele Anhaltspunkte – Highways, gesichtslose Industrieparks, Tankstellen –, an denen man sich orientieren könnte. Ein grün-weißes Schild weist den Weg zur Bifrost Road, durch die Unterführung.

»Gonzo, wie viel Geld hast du?«

Er zieht ein Bündel zerknüllter Geldscheine hervor, die er von den Gästen des Preakfast Pretzel eingesammelt hat, und fügt sie dem hinzu, was er in der Tasche hat. »Achtundvierzig Dollar und … fünfundzwanzig« – er lässt einen Penny fallen –, »vierundzwanzig Cent.«

Das zu meinen übrig gebliebenen zweitausendneunhundertundneunzig Dollar gestohlenem Drogengeld addiert, gibt ganz bestimmt genug Knete für Flugtickets. Aber Gonzo hat keinen Führerschein. Kein Ausweis, kein Flug. Und da Balder zu dick ist, um ins Handgepäckfach zu passen, müssten wir ihn als Gepäckstück aufgeben. Scheiße.

Hoch über dem Highway schimmert ein trüber Regenbogen durch die Rauchfahnen und färbt den Himmel wie einen Ölteppich ein. Er endet in der Ferne, nahe den im Wind flatternden Wimpeln eines Autohauses. Und da erinnere ich mich an den orangefarbenen Luftballon in unserem Zimmer.

»Los, kommt!«, sage ich und schultere meinen Rucksack. »Scheiß öffentliche Verkehrsmittel. Es wird Zeit, dass wir selbst ’n paar Räder untern Arsch kriegen!«