KAPITEL VIERUNDVIERZIG

Handelt davon, was mit Gonzo passiert, wenn wir nicht auf ihn aufpassen

 

Als ich aufwache, ist es schon nach Mittag. Die Sonnenstrahlen versuchen sich ihren Weg durch die Vorhänge zu bahnen, also stehe ich auf und lasse das Licht herein. Das grelle Weiß tut meinen Augen weh, aber nur für eine Sekunde. Eigentlich habe ich im Moment nicht wirklich Schmerzen. Keine Ticks. Keine Muskelschwäche oder Kurzatmigkeit. Ich fühle mich großartig. Ich fühle mich rundum vollständig.

»Dulcie?«, rufe ich. Und schon vermisse ich das Gefühl, ihre Haut auf meiner zu spüren. Die Bettlaken sind völlig zerwühlt. Ich habe unruhig geschlafen. Auf dem Kopfkissen liegt eine pinkfarbene Feder. Sie duftet nach Regen, nach Lachen, nach dem Unerwarteten. Sie duftet nach Dulcie. Dieses Mal steht nichts auf der Feder. Keine geheime Botschaft. Die brauche ich auch nicht. Meine Jeans liegt am Boden; ich stecke die Feder in meine Gesäßtasche.

Im Wandschrank rumort es. Balder wird langsam sauer. »Falls ich missachtet und geschmäht werden wollte, hätte ich in der Sackgasse bleiben können oder bei diesen erbärmlichen TV-Heinis«, sagt er, als ich die Türen aufschiebe. Ich hebe ihn hoch und stelle ihn auf den Tisch, ins Sonnenlicht.

»’tschuldigung, Balder.«

»Was kann ich dafür, wenn du deine Freundinnen aufs Zimmer bringst? Und, warst du erfolgreich?«, fragt er und hebt eine Augenbraue.

Ich grinse. »Keine intimen Details.«

»Ah, ein wahrer Gentleman«, merkt er weise an und nickt.

»Ich werd es wiedergutmachen«, sage ich und fülle Leitungswasser in einen der Zahnputzbecher. Es schmeckt streng, aber es löscht meinen Durst.

»Wie?«

»Ich kauf dir einen Fotoapparat. Du kannst von uns Fotos vor Sehenswürdigkeiten machen und sie all deinen Freunden schicken.«

Das gefällt Balder. »Und wo ist unser erhabener Gonzo? Ich hoffe, du warst in der Lage, ihn zu retten?«

Gonzo. Heilige Scheiße. Ich habe ihn total vergessen. Ich habe ihn Parker Day und seinem Wir-tun-alles-für-die-Quote-Team von Arschlöchern ausgeliefert. Keine Ahnung, was sie ihm angetan haben.

»Bleib hier!«, rufe ich, schnappe mir meine Jacke und renne aus der Tür.

 

Ich streife am Strand umher und im Partyhaus, auf der Suche nach irgendeinem Lebenszeichen von Gonzo. Die meisten Leute schlafen ihren Rausch aus. Gerade erwacht die Szene wieder zum Leben. In einer Strandbude verkauft ein Typ T-Shirts. Darauf steht: BRINGT DEN ZWERG ZURÜCK! Der Rücken ist mit einem Foto von Gonzos schreckverzerrtem Gesicht bedruckt.

»Welche Größe, Bruder?«, fragt mich der Typ, als ich mir eins nehme.

»Wann hast du die bedruckt?«

»Vergangene Nacht, direkt nachdem sie Doppeltes Risiko aufgezeichnet hatten. Es war schockierend, Mann. Ein Zwerg auf dem elektrischen Stuhl!«

Ich renne schnell den Strand entlang. Ein elektrischer Stuhl? Ich bin total in Panik. Ich renne, bis ich nicht mehr kann, komme zurück ins Zimmer, zitternd und völlig am Ende.

»Was ist los mit dir? Was ist passiert?«, fragt Balder in dem Moment, in dem ich das Zimmer betrete.

Ich lasse mich in einen Sessel fallen. »Ich hab’s versaut, Balder. Ich hab Gonzo vergangene Nacht völlig vergessen. Ich glaub, ihm ist etwas zugestoßen. Etwas Schlimmes.«

Jemand pocht heftig an die Tür. »Aufmachen! Polizei!«

Jenna hat mir einen Vorsprung versprochen.

»Aufmachen, sage ich!«

Balder nickt mit ernstem Gesicht. Ich öffne die Tür.

»Du siehst so was von kaputt aus, Alter!« Gonzo stürmt herein und strahlt.

Ich packe ihn mir und umarme ihn in seiner ganzen Pracht. »Gonzo!«

»Aaahh!«, ruft er und zuckt zusammen. »Pass auf meine Schulter auf!«

»Meine Güte«, sagt Balder, »ich sehe einem Krieger ins Antlitz.«

Ich stelle Gonzo wieder auf die Beine und schaue ihn mir genau an.

»Also, wie findest du’s?«, fragt er und strahlt. Seine Kleidung ist zerrissen und schmutzig und von irgendeiner Art Farbe bedeckt. Seine Haare sind blauschwarz gefärbt und er trägt einen Irokesenschnitt.

»Heilige Scheiße«, sage ich, drehe ihn um und schaue mir seinen Rücken an.

»Du magst es? Cool, stimmt’s?«

»Es ist der Irrsinn!«

»Ja, ich weiß. Schau dir das Tattoo an.«

»Du hast ein Tattoo?«

»Ja. Auf der Schulter. Schau’s dir an.« Er zieht sein Shirt runter, um mir seine Schulter zu zeigen, und da steht sie, die Buddhakuh, und darunter die Worte: Was’n nu, kranke Kuh?

»Was, zum Teufel, ist passiert?«

»Alter, es war so was von super! Ich war im Partyhaus, mit Parker und Marisol und diesen anderen beiden Typen, die vor mir drankommen sollten. Ich bin so was von total ausgeflippt. Sie zeigen diese Promotions von Doppeltes Risiko, und das ist einfach das krasseste Zeug, das du dir vorstellen kannst. Leute machen Bungee Jumping in Pferdemist. Typen lassen sich total einwachsen und schreien vor Schmerz. Also, die Erste, die dran ist, ist diese Schnecke. Sie fordern sie auf, einen Mistkäfer zu essen …«

»Einen Mistkäfer? Woher hatten die –«

»Nun halt mal ne Sekunde lang deinen Schnabel. Sie forderten sie auf, aber sie wollte es nicht tun, Mann. Kein Erfolg. Das Gleiche mit dem Typen, der seinen Arsch vor der Kamera rasieren sollte. Überhaupt war der ein totaler cabrón. Die Leute haben ihn ausgebuht. Das Nächste, was ich weiß, ist, dass Drew – erinnerst du dich an Drew? Der Typ, der sich bei der Auktion um mich gekümmert hat?«

»Ja«, sage ich.

»Wie sich herausstellt, arbeitet er für die Show. Jedenfalls sitzt er neben mir und sagt: ›Mach dir keine Gedanken. Du wirst toll sein.‹ Als ob er total überzeugt ist, dass ich es schaffe. Dann sehe ich Parker, wie er mich zu sich winkt, und alle brüllen und verarschen mich, aber ich bin so drauf, dass ich das nicht mal höre. Und genau in diesem Augenblick denk ich mir, was zum Teufel. Was. Zum. Teufel. Ich hab doch nichts getan. Wumm! Diese beiden riesigen Kerle schnappen mich und schnallen mich auf einen alten elektrischen Stuhl, und genau dann, in diesem Moment, hatte ich keine Ahnung, was mit mir passieren wird. Ich dachte, ich scheiß mir in die Hose.«

Schon vom bloßen Zuhören klopft mein Herz heftig. Balder rutscht auf die Sitzkante.

»Und?«, fordert Balder.

»Ich höre dieses rrrrrrnnnnn-nnnn-nnnnn, und ich denke, oh, Scheiße, Mann. Sie drehen dieses Baby ganz schön hoch. Ich beginne über all die Dinge nachzudenken, die ich nie getan hab, wie Wellenreiten oder mich tätowieren zu lassen oder meiner Mom die Meinung zu geigen. Hauptsächlich denke ich dran, dass ich nie ich selbst war. Nie. Ich hörte dieses rrrrrnnnn-nnn-NNNN-nnn nah am Ohr, und ich hab mir geschworen, Alter, hab mir geschworen, wenn du hier lebend rauskommst, wirst du’s tun, egal was. Die großen Kerle legen ihre Pranken um meine Gurgel. Parker zieht nen Rasierapparat hervor, setzt ihn mir an den Kopf. Und dreißig Sekunden später bin ich ’n Irokese.«

Er reißt eine warme Dose Limo auf. »Die Leute sind ausgeflippt. Sie schrien meinen Namen: ›Gon-zo! Gon-zo! Gon-zo!‹ Und sie reichten mich über ihre Köpfe durch die Menge. Es war, ja, irgendwie, der tollste Tag in meinem Leben. Und dann bin ich einfach … verschwunden.«

Gonzo schlürft die Limo und wischt sich mit dem Arm über den Mund.

»Wow. Das ist … wow. Und das Tattoo?«, frage ich.

»Das war das Erste, was ich getan hab, nachdem ich vom Stuhl runter bin. Ich und Drew.«

Es ärgert mich, dass Gonzo einen neuen Freund hat, einen, der wesentlich cooler zu sein scheint als ich.

»Also, ich schätze, dass du jetzt berühmt bist, stimmt’s?«, sage ich.

»Ja, das nehm ich an.« Er strahlt wieder und trinkt seine Limo.

»Du hast mich gerettet, mein Sohn«, sagt Balder und umarmt Gonzo. »Du hast ehrenvoll gekämpft. Du bist wahrlich Gonzo der Große.«

Gonzo errötet. »Gonzo der Große. Geil. Ich werd mir ein T-Shirt mit dem Spruch besorgen, sobald wir an einem Einkaufszentrum vorbeikommen.«

Balder stößt Gonzo freundschaftlich mit der Faust. »Meine Rede!«

Jemand klopft an die Tür und wieder rast mein Puls in den roten Bereich. Vielleicht sind es dieses Mal die Cops. Gonzo denkt wohl, es ist der Weihnachtsmann, seinem arroganten Grinsen nach zu schließen. Er rennt zur Tür und öffnet sie. Drew steht da, in einem weißen Muskelshirt. Dicke Büschel schmutzig blonder Haare rahmen sein Chorknabengesicht ein. Seine Arme sind vom Handgelenk bis zum Bizeps tätowiert.

»Hey«, sagt Drew. Er schiebt seine Hände in die Hosentaschen und nickt uns misstrauisch zu.

»Is okay. Sie sind cool«, sagt Gonzo. Drew beugt sich hinunter und gibt ihm einen Kuss direkt auf den Mund. Ich habe Gonzo noch nie so glücklich gesehen. Ich schwöre, er sieht so aus, als ob er gerade einen brandneuen Inhalator bekommen hätte, mit Captain Carnage-Abziehbildern drauf. Und jetzt weiß ich: Für unsere Freundschaft ist Drew keine Bedrohung. Er ist etwas völlig anderes.

»Hey, Drew. Ich bin Cameron«, sage ich und schüttle ihm die Hand, damit er weiß, dass ich einverstanden bin mit dem Du-bist-der-ein-bisschen-nach-Jugendknast-aussehende-Frühlingsferienliebste meines besten Freundes.

»Ich hab ihnen gerade von der vergangenen Nacht erzählt«, sagt Gonzo.

»Au, Mann«, sagt Drew mit breitem Südstaatenakzent. »Ihr hättet meinen Jungen hier seh’n soll’n. Nerven wie Drahtseile. Der verputzt schon zum Frühstück die Angst mit links.«

»Ja, das ist unser Gonzo«, sage ich, ohne zu zögern. »Er ist ein ganz ein Wilder.«

»Er hat den Mut eines Kriegers«, stimmt Balder zu.

»Hey, du must Balder sein. Cool. Ich hab dir was mitgebracht, ein Werbegeschenk von der Show«, sagt er und übergibt ihm einen Fotoapparat. In Balders Augen blitzt der Schalk.

Wir treten hinaus vor die Tür und blinzeln in den neuen Tag. Im Partyhaus ist was im Gange. Dort haben bestimmt vierzig Kamerateams Aufstellung genommen und die Menschen strömen in Scharen zur Bühne.

»Was ist denn da los?«, frage ich einen vorübereilenden Typen. Der trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift: MEINE ELTERN WAREN IN SHITHENGE, UND ALLES, WAS ICH DAVON HAB, IST DIESES BESCHISSENE T-SHIRT.

»Habt ihr’s nicht gehört?«, sagt er, ganz aufgeregt.

»Nein, was denn?«

»Die Copenhagen Interpretation!«, ruft er und rennt weiter. »Sie sind zurück!«