KAPITEL SIEBENUNDDREISSIG

In dem Dulcie unabsichtlich etwas eingesteht

 

Gegen neun Uhr abends sind wir immer noch hundert Meilen von Daytona entfernt. Das Fernlicht ist im Arsch und ich bin hundemüde. Wir fahren also von der Straße runter und finden einen Platz, wo wir unser Lager aufschlagen können. Die Typen haben die letzten zweihundert Meilen damit zugebracht, unser knappes Entkommen nachzuspielen. Jedes Mal erfinden sie etwas Neues dazu, was das Ereignis nicht nur größer macht, sondern auch zu ihrer Geschichte werden lässt. Meine Mom sagte immer, dass auf diese Art Mythen in die Welt gesetzt werden. Aber irgendwie ist es nicht leicht, ihrem gutartigen Gemüt zu widerstehen. Außerdem haben sie uns mit einer leckeren Mahlzeit versorgt, Maischips mit Limettengeschmack, Burritos, Saft – und Bier, erstanden dank dem exzellent gefälschten Ausweis von Typ Links. Selbst Balder kann sich der Partyatmosphäre nicht entziehen. Er kommt aus seinem Versteck heraus und erfreut alle mit Geschichten aus seinem Leben als Wikinger.

»Boah, euer Gartenzwerg … spricht?«, fragt Typ Mitte und kriegt den Mund nicht mehr zu.

»Prototyp«, sagen Gonzo und ich wie aus einem Mund. Zum Glück sind die Typen betrunken genug, um unsere Geschichte vom topaktuellen Roboterspielzeug zu glauben. Aber hoffentlich weiß Balder, was er tut.

Die Jungs leeren unerschütterlich die gesamte Bierkiste. Gonzo hatte gerade mal zwei Flaschen, aber er schwebt. Ich bleibe nüchtern. Irgendjemand muss eben nach Cops und Feuerriesen und Abrechnern Ausschau halten. Außerdem habe ich eine Zeitung zu durchforsten und beginne mit unserer Story.

 

TEENAGERTERROR IN HIGHSCHOOLTOILETTE AUSGEBRÜTET!

 

Darunter ist ein Foto von Kevin, Kyle und Rachel, wie sie stolz die Pissoirs im dritten Stock vorzeigen. Wie hübsch!

 

SHOCKNAWE NEWS – CALHOUN, TEXAS

Wie es scheint, sind die zwei Teenager, die für eine Welle der Zerstörung und Gewalt quer durchs Land verantwortlich sind, allgemein bekannte jugendliche Drogensüchtige, die ihre Terrorpläne in einer Schultoilette im dritten Stock ausbrüteten. Waren Cameron John Smith und Paul Ignacio »Gonzo« Gonzales ganz normale Jugendliche, die auf die schiefe Bahn gerieten? Oder waren sie menschliche Zeitbomben, die darauf warteten zu explodieren?

»Ich habe immer gewusst, dass Pendejo ein problemo war«, sagte Mrs Rector, die Spanischlehrerin der Calhoun Highschool, in einem Exklusivinterview bei einem Krug Margarita.

Die Eltern von Smith geben an, dass ihr Sohn sehr krank sei und für seine Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung, die auch als Bovine Spongiforme Enzephalopathie oder Rinderwahn bekannt ist (siehe Kasten oben), medizinische Behandlung benötige. Paul Ignacio Gonzales’ Mutter macht Videospiele und einen Fleck auf seiner Lunge für den plötzlichen Gewaltausbruch ihres Sohnes verantwortlich. (Verursachen Videospiele Terrorismus oder Rinderwahn? Wie gefährdet sind Sie? Siehe Kasten unten.)

Die Vereinigten Schneekugel-Großhändler haben ihre Belohnung für die Ergreifung des Teen Terror Teams von 10.000 auf 15.000 Dollar erhöht. Hinweise richten Sie bitte an die Hotline 1 - 800 - 555 - 1212.

 

Unten, in der linken Ecke, ist ein Foto abgedruckt, meine Familie in glücklicheren Tagen. Wie ich erkennen kann, ist es eins der Bilder von unserer Disneyworld-Reise. Wir stehen in der Warteschlange für die Small World-Fahrt. Die Euphorie von vorhin hat sich verflüchtigt. Am liebsten würde ich jetzt in dieses Foto kriechen. Ich knülle die Zeitung zusammen und werfe sie ins Lagerfeuer, dann lege ich den Kopf auf die Knie und schlafe ein.

 

Ein Arzt steht am Fußende meines Krankenhausbettes. Er trommelt mit den Fingern über meine Fußsohlen, aber ich spüre nichts. Mom und Dad sitzen auf Stühlen neben dem Bett. Moms Augen sind rot und geschwollen und ihr Haar ist ein bisschen fettig. Dad müsste sich dringend rasieren. Er verfolgt, wie der Arzt an mir herumpocht. Ich kann meinen Körper überhaupt nicht bewegen.

Der Arzt murmelt etwas von »schwerer Entscheidung«. Zu Glory gewandt spricht er von »Hospiz«. Sie geht aus dem Zimmer und kommt mit einer Visitenkarte zurück, die sie Dad gibt. Der starrt auf die erhabene schwarze Schrift auf dem rauen weißen Karton. Als Glory und der Arzt den Raum verlassen, nuschelt der noch ein paar Worte: »Nehmen Sie sich Zeit, darüber nachzudenken.« Das Beatmungsgerät surrt weiter. Mom und Dad sitzen auf ihren Stühlen, sind zusammen und doch allein.

Dad bewegt die Karte zwischen den Fingern, als ob er sie weglegen wollte, dazu aber nicht fähig ist. Dad fällt immer alle Entscheidungen, aber diese eine schafft er nicht. Schließlich legt Mom ihre Hand auf seine. Sie nimmt die Karte und zieht die Schultern mit einer grimmigen Entschlossenheit hoch, die ich bei ihr noch nie gesehen habe.

»Ist schon gut«, sagt sie. »Ich mach’s.«

 

Als ich aufwache, hat sich Dulcie direkt neben mir niedergelassen und bedient sich aus der Tüte mit Jelly Beans. Ich freue mich wirklich, sie zu sehen, und spüre, wie sich meine Traumgeister verflüchtigen.

»Hey du«, sage ich und reibe mir den Schlaf aus den Augen.

»Hallo, selber du.«

»Hab ich irgendwas verpasst?«, frage ich und schaue mich um. Typ Mitte hat sich bis auf seine Unterhose ausgezogen. Er erzählt Gonzo eine Geschichte oder vielmehr lallt er sie. Gonzo sabbert bei halb geschlossenen Augen vor sich hin. Typ Links liegt rücklings auf dem Boden. Er reibt sich den Bauch und stöhnt.

»Typ Mitte hat Typ Links aufgefordert, eine ganze Packung Hot Dogs zu verdrücken. Und der hat’s getan«, sagt Dulcie.

»Das war schon Wahnsinn, was du heut gemacht hast«, sage ich und strecke mich. »Du hast uns fast umgebracht.«

»Aber ich hab’s nicht.«

»Aber du hättest es können.«

»Aber. Ich. Hab’s. Nicht.«

Der betrunkene Typ Rechts wirft ein Holzscheit ins Feuer. Es zischt und funkt.

»Wie auch immer«, sage ich. »Danke.«

»Wofür?«

»Dass du meinen Arsch gerettet hast.«

»Gern geschehen.«

»Oh Mann, das war ein Höllentrip!«

»Yep.« Sie blickt hinauf zum Nachthimmel und lächelt ihr ganz besonderes Dulcielächeln.

»Wunderschön«, murmle ich.

»Was?«

»Oh. Ähm. Die Sterne. Sie sind wunderschön.«

»Ja«, sagt sie. »Für Nachtgespenster.« Sie saugt eine Jelly Bean an ihre Backenzähne. »Dieses Licht braucht Millionen Jahre, bis es uns erreicht. Wenn wir’s sehen, ist der Stern wahrscheinlich schon längst tot und begraben.«

»Wow, du bist’n richtiger Stimmungskiller.«

Sie hebt eine Augenbraue. »Waren wir etwa in Stimmung?«

»Ähm, nein. Nein, ich mein, äh, nicht in stimmungsvoller Stimmung.«

»Hmpf.« Dulcie legt einen Arm um meine Schulter. Das fühlt sich warm und gut an. »Wie wär’s damit? Genau in dieser Minute heizt sich irgendwo draußen in der Galaxie eine große Kugel aus Gas und Schwerkraft auf und formt sich zu etwas Neuem und Wildem und Fantastischem. Bis es schließlich explodiert und alle Energie ausspuckt und dieses Licht einfach hinaus ins Universum schickt.« Sie braust mit dem anderen Arm durch die Luft und schnalzt mit den Fingern. »Kabumm! Sogar Sterne müssen ihr Zuhause verlassen, sich Dinge angucken und fremde Orte besuchen. Klingt das besser?«

»Besser«, sage ich.

»Was wir genau in diesem Augenblick sehen, ist ein glitzerndes Abschiedsfest: Danke – du warst grandios. Und jetzt fahr vorsichtig!«

Ich muss lachen. »Fahr jetzt vorsichtig? Wirklich? Ist es das, was sie zu sagen haben?«

»Mmmm.« Dulcie nickt. »Sterne. Strahlen und glitzern und sind aber trotzdem überraschend fürsorglich.«

Ich kann mich anscheinend nicht davon abhalten, ihre andere Hand zu ergreifen. Ich verflechte meine Finger mit ihren und reibe mit dem Daumen über Dulcies Handfläche. Die Haut dort ist rau und schwielig, als ob sie gegen irgendetwas Hartes geschlagen hätte. »Was ist damit passiert?«

Sie zieht ihre Hand zurück. »Nichts«, sagt sie missbilligend.

Ich weiß nicht, was ich Falsches gesagt habe. Als ich gerade meinen Mund aufmache, um zu fragen, stöhnt Typ Links lauter und rollt auf die Seite, als ob er Schmerzen hätte.

»Ist er okay? Sollten wir was tun?«

Dulcie winkt ab. »Ihm geht’s gut. Er wird in ungefähr zwanzig Minuten reihern, aber er wird nicht sterben.«

»Ich weiß nicht. Er sieht mir nicht gerade gut aus.«

Dulcie schüttelt die Tüte mit Jelly Beans, auf der Suche nach der Bohne ihres Geschmacks. »Glaub mir, in den nächsten zweiundvierzig Jahren stirbt er nicht.«

Mir wird plötzlich flau im Magen. »Stopp mal – du weißt, was mit ihm passiert? Du kannst in die Zukunft sehen?«

Die Schatten, die das Feuer auf Dulcies Gesicht wirft, nehmen ihm etwas von seinem heiteren Glanz. Ihre Gesichtszüge verändern sich seltsam, so als ob Dulcie versehentlich eine Jelly Bean mit Popcorngeschmack erwischt hätte anstatt eine mit dem gewünschten Zitronengeschmack. »Das hab ich nicht gesagt.«

»Doch, irgendwie hast du’s.«

»Bist du sicher, dass du nicht diese Eisskulptur sehen möchtest …?«

»Nein. Lenk nicht ab. Die ganze Zeit hast du mich mit diesem Schwachsinn gefüttert, dass du nichts weißt und du nur ein Botschafter bist. Dabei kannst du die Zukunft – meine Zukunft? – sehen.«

»Ich hab dir gesagt, dass ich das nicht gesagt habe.« Sie schaut gequält. »Cameron, bitte, vertrau mir.«

»Warum? Warum sollte ich dir vertrauen? Oh, mein Gott!« Ich lache. »Ich bin mittendrin in diesem scheiß Nirgendwo, keine Medikamente, keine Ärzte – und das alles wegen dir!«

»Du lebst, Cameron.«

»Wie lange noch?«

»Wie lange lebt jemand?«, fragt sie sanft.

Am Lagerfeuer treiben es die Typen mit Balder wirklich ein bisschen weit. Nach meiner letzten Schätzung ist er zweimal erwürgt, viermal mit verschiedenen Gegenständen aufgespießt und mit Händen voll Steinen beworfen worden. Jeden Angriff hat er mit einem Lachen abgetan: »Ist das alles, was ihr könnt?« Ich wünschte, ich wäre so kugelsicher.

Ich verschränke die Arme und starre Dulcie zornig an. »Sag mir meine Zukunft. Ich will’s wissen.«

»Kann ich nicht. Das ist gegen die Regeln.«

»Die Regeln haben wir lange hinter uns gelassen, Dulcie.«

Sie gibt nicht nach, und ich kann der Art, wie sie ihr Kinn hält, entnehmen, dass sie sich in dieser Angelegenheit keinen Millimeter bewegen wird. Lustig, wie man mit der Zeit Details wie dieses über andere Menschen lernt.

»Okay, gut. Schalten wir einen Gang zurück. Was weißt du über diese Clowns?«, frage ich. »Kannst du mir ihre Zukunft verraten?«

Sie blickt in ihre Richtung. »Ich sag dir, Cameron, das ist keine gute Idee.«

»Und ich denke, das ist die verdammt beste Idee seit Langem. Mach schon, schieß los.«

Dulcie fummelt an den Schnürsenkeln ihrer Springerstiefel. »Nein«, sagt sie ruhig.

»Dann geh zum Teufel!« Im Feuerschein sehe ich, wie Dulcie zusammenzuckt. Es ist nur eine kleine Bewegung, aber ich fühle mich mies, und ich wünschte, ich könnte meine Bemerkung zurücknehmen. Dulcie hält sich den Jelly-Beans-Beutel vors Gesicht, wie eine Wahrsagerin, die aus der Glaskugel liest. »Marty – Typ Links – wird heute Nacht seine Hot Dogs auskotzen.«

Dann greift sie in die Tüte und steckt sich eine grüne Jelly Bean in den Mund.

»Du weißt, dass ich das nicht gemeint hab.«

»Genau genommen ist das die Zukunft.«

»Hör mal, du hast mich auf eine behämmerte Mission geschickt, und ich weiß nie, was von einem Augenblick zum nächsten passieren wird. Ich weiß nicht mal, ob ich weiterleben werde. Das Mindeste, was du für mich tun kannst, ist, mir ein paar bedeutungslose Dinge zu erzählen –«

Dulcie fährt hoch. »Nichts ist bedeutungslos, Cameron.«

»Erzähl mir was über die Zukunft, ihre Zukunft, die großen Dinge, und zwar in der Langzeitfassung.«

»Okay«, sagt Dulcie, aber sie will mich dabei nicht anschauen. »Er – Typ Links – wird als Gastwirt enden, der das Lokal seines Onkels weiterführt. Er kriegt ein ernsthaftes Alkoholproblem und wird zweimal geschieden sein, bevor er vierzig ist. Er wird glauben, er kann mit den jungen Dingern, die für ihn arbeiten, ganz dicke sein, aber hinter seinem Rücken werden sie all ihre Freunde gratis bewirten und ihn Schimpansenhirn nennen.«

Ich muss lachen. »Ha! Unglaublich! Schimpansenhirn. Und was ist mit den anderen?«

»Dave – Typ Rechts – wird heiraten und zwei Kinder haben, als Programmierer sein Geld verdienen und Spielzeugeisenbahnen sammeln. Er wird in seinem Keller dieses Modelleisenbahnset für Fortgeschrittene aufbauen und an den Wochenenden dran basteln.«

Dave, Typ Rechts, isst gerade Bohnen, die er mit den Fingern aus der Büchse pult. Dabei tropft ihm Tomatensoße vom Kinn aufs Hemd.

»Klingt langweilig.«

Dulcie beobachtet ihn. »Er liebt das. Es ist sein Leben.«

»Meinetwegen«, sage ich und halte ihr die Hand hin. Dulcie schüttet ein paar Jelly Beans hinein. Ich stecke mir eine mit Limetten- und eine mit Schokogeschmack in den Mund. Das schmeckt eigentümlich gut, gleichzeitig säuerlich und süß.

»Was ist mit Typ Mitte?«

Typ Mitte singt ein Lied über einen Kerl namens Louie und schlägt dazu inbrünstig die Saiten seiner Luftgitarre. Seine Albernheit hat etwas Gewinnendes. Dulcies Blick streift ihn flüchtig.

»Keith …« Sie zögert.

»Ja?«

»Keith – Typ Mitte – wird nächstes Jahr das College abbrechen, sich bei der Army verpflichten und nach Übersee gehen.« Sie pickt sich die grünen Jelly Beans heraus und sortiert sie auf ihrer Handfläche.

»Und?«, sage ich und versenke das letzte Geleeböhnchen. »Das war’s?«

»Er wird jedem in seiner Truppe über den Tag erzählen, an dem ihn diese Typen zum Partyhaus mitgenommen haben und er Marisol traf, und wie sie ihm einen Kuss gab und dass das die geilste Zeit überhaupt gewesen sei und genau der Tag, an dem er sich entschied, das College zu schmeißen, was dazu führte, dass er zur Armee ging. Er wird diese Geschichte erzählen, wenn er auf eine im Wüstensand versteckte Landmine tritt, die ihn in Stücke reißt.«

Der Boden scheint mir unter den Füßen wegzudriften, und ich muss hochspringen, um mich zu vergewissern, dass die Erde noch da ist. »Boah!«, sage ich und falle dabei fast über einen Stein hinter mir. »Boah. Mein Gott, Dulcie. Zum Teufel, warum hast du mir das erzählt?«

»Du hast gefragt. Ich hab dir gesagt, dass das keine gute Idee ist.«

Typ Mitte, Keith, hopst herum, tanzt seinen albernen Tanz und singt laut dazu. Er ist so was von lebendig, so lebendig, wie man nur sein kann.

»Das ist echt Scheiße, Dulcie. Nachdem ich das weiß: Wie kannst du von mir erwarten, diesen Knaben herumzukutschieren?«

»Willkommen in meinem Leben, Cowboy.«

Ich torkle von ihr weg, komme aber wieder zurück. »Wenn du sehen kannst, was passieren wird, und alles schon im Gang ist … wenn du das alles von uns weißt, warum sollten wir uns dann noch bemühen? Warum sollten wir versuchen, irgendwas zu tun? Wir können’s doch eh nicht ändern.«

Sie hüpft hoch und breitet die Arme aus. »Hab ich gesagt, dass ihr nichts ändern könnt?«

»Nein, aber …«

»Was ich sehe, ist, wie die Dinge jetzt stehen. Heute. Um 22:27:07 Uhr. Morgen kann Keith ein Buch in die Hand nehmen, einen Satz lesen, der den Gang seines Lebens total verändert. Er kann beschließen, Englischlehrer zu werden, und das war’s. Neues Spiel, neues Glück. Die Zukunft ist noch nicht geschrieben, Cameron.«

»Ein Schmetterling flattert in Südamerika mit den Flügeln und es fällt Schnee in Chicago«, sage ich und wiederhole etwas, das mir mein Dad beigebracht hat.

»Ja. Genau. In Chicago fällt Schnee, und eine Mutter sagt ihrem siebzehnjährigen Jungen, er soll den Gehsteig freischippen. Er ist gerade im Vorgarten, als dieses neue Mädchen vorbeigeht. Sie rutscht aus, aber er fängt sie auf, und so kommen sie sich näher. Undsoweiterundsofort, ein Drehtüreffekt aus Aktion und Reaktion, aus Längs- und Querverbindungen. Dinge können sich ändern, Cameron. Das ist die einzige Konstante in diesem Universum.«

»Also hab ich jetzt, nur dadurch, dass ich Keith am Straßenrand aufgelesen hab, seinen Lebenslauf verändert?«

»Und er hat deinen verändert.«

»Aber in welcher Weise?«

Sie schüttelt den Kopf. »Das weiß ich nun wirklich nicht.«

»Und wenn ich Keith sage, er soll sich nicht bei der Army verpflichten? Dass er stirbt, wenn er’s tut?«

»Du kannst es versuchen, aber wahrscheinlich wird er denken, dass du verrückt bist. Hast du nie eine Sci-Fi-TV-Serie geguckt? Wo Leute glauben, sie könnten andere Menschen warnen, und es jedes Mal nach hinten losgeht.«

»Also soll ich diese Information die nächsten hundert Meilen auf dem Weg zur Party für mich behalten?«

»Fühlst du dich für seine Lebensentscheidungen verantwortlich?«

»Na ja, bis vor einer Minute nicht, bis du mich mit deiner kleinen Neuigkeit überrumpelt hast.«

»’tschuldigung, dass ich dich aus der Fassung gebracht habe.«

»Vergiss es. Ich werd’s ihm erzählen«, sage ich.

»Tu, was du tun musst«, sagt sie und lässt sich auf den Boden plumpsen. Sie öffnet noch einmal die Jelly-Beans-Tüte und nimmt sich zwei pinkfarbene Böhnchen heraus.

Ich gehe rüber, dorthin, wo Keith mit Balder zusammensitzt.

»Hey, ähm, Keith, stimmt’s?«

»Ja, das bin ich.« Er singt wieder sein Lied und Balder stimmt in den Refrain ein. Balder ist, wie sich herausstellt, ein sehr fröhlicher Trunkenbold.

Ich weiß nicht genau, wie ich das Gespräch beginnen soll. Wie erzählt man einem Typen, dass man weiß, wie er sterben wird? »Also, ähm, was glaubst du, was du nach dem College und so machen wirst?«

»Weiß nicht. So weit kann ich nicht vorausdenken.«

»Vielleicht lernst du jemanden im Partyhaus kennen.«

»Ich hab ein Haus!«, lallt Balder. »Es heißt Breidab … Bradeblack … Braeder … es heißt Balders Haus und es is sehr, sehr hübsch. Ihr solltet mal vorbeikommen und versuchen, mich noch mal zu killen.«

»Geil, Alter.« Keith stößt Balder freundschaftlich mit der Faust.

»Im Partyhaus, da kannst du echt jemanden kennenlernen«, sage ich und versuche, Keith wieder auf Kurs zu bringen. »Und, weißt du, vielleicht lebt sie in Daytona und du willst bei ihr bleiben.«

Keith kratzt sich am Kinn. »Ja. Vielleicht. Hab gehört, dass Daytona ganz nett ist. Ich könnt für den Rest meines Lebens ein Beachboy sein. Immer am Meer bleiben.«

»Das klingt fantastisch, Mann. Das solltest du tun.« Ha! Da hast du’s, Dulcie, du Engel des Untergangs.

»Ich weiß nicht«, sagt Keith. »Daytona ist teuer und mein Schulgeld wird knapp. Aber ich hab nen Cousin bei der Army. Er sagt, dass die sich wirklich um dich kümmern. Ich hab schon dran gedacht, mich diesen Sommer zu verpflichten.«

Balder nickt. »Der Mensch ist die Vervollkommnung des Staubs. Groß ist die Klaue des Falken.«

»Okay, Balder? Könnten du und deine nordischen Weisheiten mir mal nen Gefallen tun und verschwinden? Ich brauch hier ne Minute.«

Balder verbeugt sich. »Wie du wünschst, Cameron der Edle. Dieses Bier schmeckt beachtlich. Ich sollte noch eins nehmen.«

»Tu das.«

Balder hält inne und schlingt seinen fleischigen Arm um meinen Hals. Man glaubt nicht, welche Kraft so ein Gartenzwerg hat. Ich kann kaum atmen. »Wie lautet noch mal dein Schlachtruf?«, fragt Balder Keith. »Ach ja. Ich liebe dich, Mann!«

»Ich dich auch, B«, quieke ich.

Balder gibt meinen dankbaren Hals frei. Als er davontaumelt, zerdrückt er eine Bierdose an seinem Schädel und sie bleibt dort haften. Eines der Holzscheite sinkt tiefer ins Lagerfeuer und löst einen Funkenregen aus, der schnell verlöscht. Es wird ein bisschen kühl. Ich stecke meine Hände in die Hosentaschen, um sie zu wärmen. Irgendetwas Spitzes sticht mich. Ich ziehe die Schraube hervor.

»Was ist das?«, fragt Keith.

»Das? Das ist ne komische Geschichte. Ein alter Mann in einem Eisenwarenladen hat sie mir gegeben. Sie soll wichtig sein. Genau genommen hat er gesagt, dass es eine Zauberschraube ist.« Während ich das sage, rolle ich mit den Augen, damit er nicht glaubt, ich würde diese Scheiße ernst nehmen.

»Eine Zauberschraube?«, wiederholt Keith und grapscht sie sich.

»Ja. Ich weiß. Wie ich schon sagte, ich hab dem Kerl nicht geglaubt …«

Keith lacht so laut, dass ich fürchten muss, es könnte was zerbersten.

»Hey, Kumpels, ratet mal, was unser Holzkopf hier hat! Eine Zauberschraube!«

Jetzt lachen alle. Gonzo erwacht geräuschvoll aus seinem Dämmerzustand.

»Hey, ich hab nicht gesagt, dass sie magisch ist«, wende ich ein. »Nur, dass sie … ein notwendiges Teilchen ist. Das hat mir der Alte erzählt. Sie ist ein notwendiges Teilchen.«

»Notwendiges Teilchen von was?«, würgt Keith hervor.

»Ich … weiß nicht. Der Mann war alt. Ein bisschen senil.«

»Du hast ihm total geglaubt, Mann, gib’s doch zu.« Das sagt Gonzo. Er hat vergessen, dass ihm diese Typen entwürdigende Spitznamen geben wollten, und nun hat er sich praktisch mit ihnen verbrüdert.

»Sehr witzig, Stumpy«, sage ich.

Gonzo kann nicht aufhören zu lachen und kommt so gar nicht dazu, beleidigt zu sein. Alles, was ich von ihm höre, ist dieses schrille »Zauberschraube!«.

Keith patscht Typ Links auf den Rücken. »Hey, Baby, willste mal schrauben? Das wird magisch, ich schwör’s dir!« Er bricht in ein Glucksen aus, das seiner Nase wie ein Gemisch aus Schnauben und Hupen entweicht. Es ist die Art von ansteckendem Lachen, die sich wellenartig ausbreitet und jeden erwischt.

»Ja, ja, okay. Ich hab ja nur Spaß gemacht …«

»Nein, nein, tut mir leid, Mann. Hier, lass es mich wiedergutmachen«, sagt Keith, legt den Arm um mich und versucht, seine Atmung unter Kontrolle zu bringen. Tränen fließen über sein Gesicht. »Willste deine Schraube mal wo reinstecken?«

Mehr braucht es nicht, um die ganze Mannschaft wie ein Rudel geistesgestörter Hyänen erneut in Gelächter verfallen zu lassen. Ich konstatiere, dass dies der Spaß sein wird, den man während der nächsten hundert Meilen auf meine Kosten zum Besten gibt.

»Ich hol noch etwas Feuerholz.«

Dulcie folgt mir, während ich mich vom Lagerplatz entferne. »Du darfst ruhig sauer sein. Völlig okay. Es wird dich schon nicht umbringen, das auszusprechen, Cameron.«

»Ich bin nicht –« Ich druckse herum. »Gut. Okay. Ja. Ich bin sauer auf dich, Dulcie. Zufrieden?«

Sie kuschelt sich in ihre Flügel ein. »Siehste. Du bist noch hier.«

»Ich meine es ernst.«

»Weiß ich. Ich bin entzückt. Weiter.«

»Ich bin sauer, weil du in mein Leben gekommen bist und es total durcheinandergebracht hast. Und jetzt weiß ich nicht mehr, was hinten und vorn ist.«

»Mhmm.«

»Ich bin sauer, weil du mir was von den Typen erzählt hast, und jetzt muss ich mich um sie kümmern. Ich bin sauer, weil du mir nicht erzählen willst, was mit mir passiert. Weil du keine Garantien gibst.«

»Wie wahr, wie wahr.« Ihre Flügel öffnen sich wieder.

»Toll. Ich bin sauer, weil du mir das Gefühl gibst, dass Dinge möglich sind, wenn sie’s wahrscheinlich gar nicht sind, oder vielleicht sind sie’s doch, ich weiß es nicht. Ich bin sauer, weil …«

»Weil?«

»Weil du schuld bist, dass es mir was ausmacht.«

Dulcie wird sofort still. »Ja. Das tut mir leid.«

Ihre Federn duften wie Regen nach einer Dürrezeit. Sie ist mir so nah, dass ich sie küssen könnte. Wenn ich jetzt nicht so sauer auf sie wäre, würde ich es vielleicht versuchen. Ich würde zuerst mit ihr raufen und dann würde ich sie küssen.

»Und … und deshalb bin ich, ähm. Sauer.«

»Danke, dass du mir das gesagt hast.«

»Keine … Ursache.«

»Cameron«, sagt sie und neigt sich mir zu. »Jetzt ist es Zeit.«

»Zeit wofür?« Mein Mund ist ganz trocken.

»Zeit. Genau zwanzig Minuten.«

Mit gewaltigem Ächzen und Stöhnen richtet sich Typ Links, noch ganz beduselt, auf und reihert seine Hot Dogs in die Runde.

»Die Zukunft ist noch nicht geschrieben, ja?«, sage ich. Dulcie antwortet nicht. »Scheiß drauf!«

Ich reiß mir das E-Ticket-Band vom Arm und schleudere es ins Gras.

»Cameron, warte!«, ruft Dulcie, aber ich bin schon losgerannt.

 

Stundenlang laufe ich durch die Gegend, bis ich völlig ausgepowert bin. Als ich zurückkomme, pennen alle. Ich werfe ein paar Zweige in die Glut, setze mich hin und denke nach. Was Dulcie sagte, hat mich völlig durcheinandergebracht. Warum hat sie mir das nicht vorher erzählt? Kann sie sehen, was passieren wird?

Ich reibe meinen Arm an der Stelle, wo das E-Ticket war. Meine Muskeln brennen, und ich fühle, wie in mir die Angst wächst, gepaart mit einer Spur Hoffnungslosigkeit.

Ich höre etwas rascheln. Zuerst denke ich, es ist ein Tier, aber dann lässt sich Balder neben mir am Feuer nieder. Er trägt Keith’ Jacke um die Schultern und hält eine Tüte mit Marshmallows in der einen Hand. In der anderen hat er das E-Ticket, das er auf dem schmalen Streifen Erde zwischen uns niederlegt. Er blinzelt hoch zum Nachthimmel. »Ah. Siehst du, wie Hati Mani verfolgt? Er ist ein räuberischer Wolf, ein erbarmungsloser Jäger!«

Dünne graue Wolkenfetzen reißen ihr Maul über dem Mond auf.

»Das ist der Mond. Und das da eine Wolke, kein Wolf.«

»Du irrst!«, sagt Balder fröhlich. »Es ist der –«

Ich schlage mit der Hand auf den Boden und das E-Ticket hüpft in die Höhe. »Das sind nichts weiter als Ammenmärchen, okay? Wie die Geschichten vom Weihnachtsmann oder von der Zahnfee. Es ist Schwachsinn, den wir uns selbst einreden, damit wir uns nicht fürchten.«

Balder wendet sich wieder dem Feuer zu, und mir tut es leid, dass ich ihn angeschrien habe. Er spießt Marshmallows auf einen Stock. »Soll ich dir eine Geschichte erzählen?«, fragt er sanft. »Du musst sie nicht glauben, wenn du nicht möchtest.«

Ich möchte gern Nein sagen. Oder vielleicht doch Ja. Aber ich bringe keinen Ton hervor. Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Und dann, als ob er meine Gedanken lesen kann, fängt Balder an zu erzählen.

»Ich wünschte, du könntest meine Heimat besuchen. Voller Lebenskraft grüßt dich im Winter der Schnee. Jeder Atemzug, den du machst, ist ein Kampf – gegen die Kälte. Eisschollen treiben neben unseren Schiffen und die Segel erscheinen wie Gespenster im Nebel. Aber dann, der Frühling! Im Frühling ist das Land wie das Grün eines Bandes im güldenen Haar eines Mädchens vom Dorf, das du nur einmal flüchtig erblickt hast, als dich deine Rösser in die Schlacht führten. Aber du wirst das Antlitz dieses Mädchens für den Rest deiner Tage nie mehr vergessen. Felder voller güldener Halme reichen bis zum Meer! Große, schlummernde Felsriesen, die von Zeit zu Zeit mit fürchterlichem Gebrüll erwachen, die Erde zum Beben bringen, Feuer ausstoßen und uns daran erinnern, dass sich alles jederzeit ändern kann. An der großen Esche Yggdrasil, die unsere neun Welten zusammenhält, kümmern sich die Nornen um die Wurzeln, nähren sie, damit sie nicht zugrunde gehen, und entscheiden über das Schicksal der Menschen nach dem Maß eines Fadens. Über allem webt Frigg Wolken, die im ewigen Himmelsblau schweben wie die Augen von Riesen, die alles aus sicherer Entfernung bewachen. Und dann gibt es Breidablik, wo alle willkommen sind und keine Lüge durch sein Gemäuer dringen darf. Meine großartige, meine strahlende Halle.« Seine Stimme schwankt. »Mein Zuhause.«

Balders Augen funkeln voller Stolz und Trauer. Ich muss an mein staubiges Städtchen in Texas denken. Außer Eubie’s gibt es nicht viel, was ich vermissen würde.

»Du bist nicht der Einzige, der Schmerz und Kummer empfindet, Cameron. Es gab während meiner Gefangenschaft viele Momente, in denen ich mir von ganzem Herzen wünschte, nicht unverwundbar zu sein und sterben zu können. Aber dann kamst du. Deine Suche gab mir wieder Hoffnung.«

Seine Augen suchen meine. Ich nicke in Richtung der inzwischen rauchgeschwärzten Marshmallows. Balder schüttelt sie vom Stock, überlässt sie dem Feuer und wiederholt die Prozedur mit frischen.

»Du bist wie der Göttervater Odin«, sagt er nach einem Weilchen.

»Wie meinst du das?«

Balder dreht den Stock im Feuer. »Als Odin hörte, dass Ragnarök naht, das Ende der Herrschaft der Götter, verlor er alle Freude. Er konnte es einfach nicht ertragen, das Schicksal im Voraus zu kennen. Er verweigerte jede Nahrung und versank in Verzweiflung.

»So dramatisch bin ich nicht veranlagt«, sage ich, weil er mir das Gefühl gibt, ich sei ein Jammerlappen.

»Du verstehst nicht, worum es geht. Wie Odin siehst du nur das nahe Ende und verlierst den Glauben daran, was gut ist, hier und jetzt.«

Ich lehne meinen Kopf zurück. Der Mond stanzt ein Loch in den Nachthimmel, eine Wunde, die wohl niemals heilen wird. »Woran sollte ich also glauben?«

»Das kann ich dir nicht sagen. Für mich ist es der Traum, dass die Ringhorn am Meer auf mich wartet. Dass ich durch den ewigen Nebel segle, bis Breidablik in der Ferne leuchtet. Dass ich nach Hause zurückkehre. Hier.« Balder bietet mir das klebrige braune Zeugs am Ende des Stocks an. »Du brauchst was Nahrhaftes.«

»Das ist ein Marshmallow«, sage ich, aber Balder besteht darauf, dass ich es nehme. Vorsichtig löse ich das blubbernde Ding vom Stock, puste und stecke es in den Mund, wo es meine Zunge mit dem Geschmack verbrannter Süßigkeiten überzieht.

»Danke.«

Im Feuerschein sind Balders Konturen scharf ausgeleuchtet. Ich habe nie die winzigen Runzeln in den Augenwinkeln bemerkt, die die Erschöpfung dort eingeätzt hat.

»Die Finsternis weint nicht um ihrer selbst willen darüber, dass sie nicht das Licht ist. Sie akzeptiert vielmehr ihren dunklen Zustand. Man sagt, dass selbst die Götter sterben müssen.« Er zwinkert. »Aber nicht kampflos.«

»Kann ich noch ’n Marshmallow haben?«, frage ich.

Balder grillt mir noch eins und es schmeckt so gut wie das erste. »Falls du mehr Hilfe brauchst – ich könnte noch eine Rune ziehen.« Er zerrt seinen Lederbeutel unterm Kittel hervor. Schicksalsschwanger liegt das Säckchen in seiner Hand.

Ich schüttle den Kopf. »Lass uns einfach sehen, was auf uns zukommt.«

Er schiebt das E-Ticket-Armband ein bisschen näher zu mir. Er denkt, er ist schlau. Wikinger! Nicht gerade Meister der Raffinesse. Mit einem Seufzer hebe ich es auf, und er hilft mir, das Band wieder am Arm zu befestigen. Die Wolke verwandelt sich zu einem formlosen Fleck. Ein Waschbär taucht auf und schnüffelt nach Essbarem. Ein paar Augenblicke lang läuft er ums Feuer herum, hält die Schnauze in die Höhe und schnuppert. Und dann verschwindet er hastig im Gebüsch.