In welchem ein kurzzeitiger Zufluchtsort gefunden wird, ich den Jazz nicht kapiere und mich mit meinem Arschloch von Vater unterhalten muss
Eubie’s Hot Wax-Plattenladen liegt einen Block von der Uni entfernt, eingerahmt von einem Kiffershop, der sich als ein Laden tarnt, der Räucherstäbchen und Kerzen verkauft, und einem Kunstatelier, das für seine Auswahl an Buntglaskatzen berühmt ist. Der Plattenladen ist eine kleine Oase von Tönen, die mit dem Gedröhne in den Mega-Musicstores nichts gemein haben. Es ist mein Lieblingsplatz in dieser verstaubten texanischen Stadt.
Bei Eubie’s gibt es keine Riesenaufsteller, die den neuesten Erguss eines schmolllippigen Nymphchens ankündigen. Kein Tambourmajor aus dem College verdient hier sein Trinkgeld, indem er protzige Sprüche ausposaunt wie: »Ja, sicher, ich nehm an, dass die Copenhagen Interpretation als Band ganz okay ist, aber sie wäre ein Nichts, wenn nicht Pet Sounds von den Beach Boys zuerst auf den Markt gekommen wär.«
Überall stehen einfach nur Kisten über Kisten mit LPs und CDs jüngerer Rockbands, gemischt mit Jazz und neuem Zeugs, wie meinem ganz persönlichen Favoriten, Great Tremolo. Seine Songs über die Mühen des Lebens sind nur für Blockflöte und Ukulele geschrieben. Und: Er hat die höchste Stimme, die ich je von einem Kerl gehört habe. Wenn er diesen umwerfenden Ton anstimmt, verlier ich mich einfach – ich kann mir nicht helfen.
Zuerst begegnete mir Great Tremolo in einer dieser Radioshows, die nur freakigen Mist spielen und wo du drauf schwören kannst, dass die Produzenten diese Scheiße während ihrer Pinkelpause in die Welt gesetzt haben. Gerade als ich mit meinen Headphones auf dem Bett rumlag – mit denen, die ich mit Weltraumstickern von Disneys Tomorrowland dekoriert habe –, gerade da ließ der DJ die Nadel auf Great Tremolo fallen, und ein Song namens Para Mí He Visto Ángeles war zu hören, was dem Booklet der CD nach so viel heißt wie »Weil ich Engel gesehen habe«. Ich setzte mich kerzengerade auf und lachte. Es ist, als ob die Stimme von Great Tremolo aus den Tiefen des Weltalls kommt, und wenn er singt, weint er fast, aber das ist ein glückseliges Weinen – wenn das überhaupt irgendeinen Sinn macht. Im Ernst, ich glaub, wenn du so was hörst, da muss doch einfach die ganze Scheiße aus deinem Hirn verschwinden – oder etwa nicht?
Great Tremolo hat an die zwanzig Alben veröffentlicht und mit Eubies Hilfe schaffte ich es, sieben davon zu bekommen. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass es da draußen einen noch größeren Loser als mich gibt, und, glaub mir, Great Tremolo ist ein totaler Loser, der gegen die akustischen Windmühlen ankämpft, emotional gesehen.
Die Ladenglocke über der Tür läutet, als ich zu Eubie’s reingehe, und Eubie schaut von seinem Hochsitz hinter der Theke auf, wo er gerade den Laden-DJ gibt. Er lächelt mir freudig zu.
»Heeeey, Camrun, wo warst du denn die ganze Zeit, mein Freund?«
»Nirgendwo«, sage ich und steig die Stufe zur Ladentheke hoch. Eubie lässt sich einen kleinen Kinnbart wachsen. Sieht gut aus, mit seinen Rastalocken und seinem quietschbunten T-Shirt mit dem aufgedruckten Gesicht eines bekannten Reggaestars.
»Nirgendwo ist ein schlechter Platz zum Bleiben. Ich war schon dort. Wie kommt’s eigentlich, dass du keine Freundin hast?«
Ich greife mir ein kostenloses Anzeigenblatt, ohne darin lesen zu wollen. »Ach, weißt du, der Cam-man ist dafür bestimmt, von vielen benutzt, aber von keiner gehalten zu werden.«
Eubie lacht. Seine Lache klingt wie eine Maschinengewehrsalve, die durch Samt ballert. »Das ist ne schöne Scheiße, Mann. Tu dir selbst einen Gefallen, mein Freund. Verlass den Laden und geh ein bisschen leben.«
»Ich lebe. Ein bisschen. Hast du einen neuen Tremolo für mich?«
»Komm mit nach hinten.«
Eubie führt mich durch den lila Vorhang in den hinteren Teil des Ladens, wo die Angestellten ihre Pause machen. Kein großer Raum. Ein paar Stühle. Ein langer Tresen, vollgepackt mit Fast-Food-Verpackungen und Rucksäcken. An der Wand hängt ein großes Pinnbrett aus Kork, voll mit Fotos von Mitarbeitern in Halloween- und Weihnachtskostümen. Kontrollabschnitte von Konzertkarten und ausgebleichte Flyer sind übereinander an seltsamen Haken aufgespießt.
Auf einem herausgerissenen Notizblatt sucht eine Wagenladung von Leuten Mitfahrgelegenheiten zur YA! Frühlingsferienparty – Mardi-Gras-Girlanden hängen an Reißzwecken neben einem Foto von Eubie mit einer gefiederten Maske, wie er in der Bourbon Street auf den Putz haut. Rechter Hand drunter in der Ecke sieht man das Foto eines alten Mannes mit Anzug, Hut und schwarzen Sonnenbrillengläsern. Er hält eine Trompete in seinen wettergegerbten Händen.
»Wer ist dieser Typ?«
»Junior Webster. Der beste Jazztrompeter in New Orleans.« Eubie saugt Luft ein und schüttelt dabei seine Hand, als ob er sich verbrannt hätte.
»Dieser Streuner ist draußen, sag ich dir. Wenn du jemals nach NOLA kommst – und das solltest du –, schau dir den Club an, in dem er gespielt hat, das Golden Trumpet.
»Er spielt dort nicht mehr?«
»Geht schlecht, wenn du tot bist. Hier, hör dir das mal an.«
Eubie zieht eine LP hervor. Die Hülle ist so alt und abgegriffen, dass sich die Umrisse der Platte auf dem Pappcover abzeichnen. Es zeigt Junior Webster, wie er vor einem Gemälde der Milchstraße steht. Im Zentrum des Sternenhimmels sieht man ein schwarzes Loch.
»Hmm«, sage ich.
»Hmm«, spöttelt Eubie. »In einer Minute wirst du nicht mehr ›hmm‹ sagen, mein Sohn. Ich werd dir was beibringen.«
Eubie zieht die Platte liebevoll aus der Hülle und legt sie auf den Plattenteller. »Wenn du einen Hut aufhättest, würde ich dich jetzt bitten, ihn abzunehmen. Du hörst nun was, das ist wie’n Gottesdienst.«
Er legt den Tonarm auf. Eine schwermütige Trompete ertönt, hoch und schrill, wie die Klagelaute einer Frau bei einer Beerdigung; dann prallt das Ganze auf einen wilden Jazzrhythmus, der Eubie – Augen zu, Kopf nach vorn gebeugt – ein paar imaginäre Becken schlagen lässt, wie es der Drummer macht, der er, wie ich weiß, an den Wochenenden ist.
Ich kapiere den Jazz nicht. Er hört sich für mich immer so an wie ein Haufen entfesselter Kleinkinder in einem Musikzimmer. Trotzdem versuche ich, höflich zu sein. Als das Stück endet, schwenkt Eubie den Tonarm zur Seite und wartet auf meine Reaktion.
»Ganz schön cool.«
Eubie hebt eine Augenbraue. »Na klar isses cool. Ist das alles, was dir dazu einfällt?«
»Wirklich cool«, sage ich, in der Hoffnung, dass das als Begeisterung durchgeht.
»Cam-run«, sagt Eubie und schüttelt den Kopf so, dass seine Locken zu tanzen beginnen. »Du brauchst Hilfe, mein Freund, hörst du?«
»Ja.«
»Glaub mir, wenn ich noch ein Leben hätte, ich würd in New Orleans leben, mit Junior Webster Musik machen und mit meinen Tönen Löcher ins Universum schießen. Musik hat das Zeug dazu, die Welt zu retten.«
Eubie reibt noch ein bisschen seinen Bart und fängt dann an zu schmunzeln.
»Ich sag dir was: Ich leih dir dieses Album übers Wochenende. Du hörst’s dir ganz an und schaust mal, was dir dann dazu einfällt.«
Meine Handflächen fangen an zu schwitzen. Ich will nicht, dass mir Eubie sein Lieblingsalbum anvertraut, besonders seit ich weiß, dass ich es mir nie anhören werde. Ich muss mir eine Entschuldigung einfallen lassen. Ich hebe meine Hände und trete einen Schritt zurück.
»Ich möcht dein bestes Album nicht mitnehmen, Eubie …«
Eubie versucht es mir in die Hand zu drücken, wie einen Staffelstab bei einem Rennen, in dem er der einzige Läufer ist. »Nimm schon, das ist okay.«
»Ich weiß nicht, Eubie. Is ne große Verantwortung.«
»Nö, Mann. Alimente zahlen, das ist ne große Verantwortung. Das ist nur ne Schallplatte.«
Ich schüttele den Kopf. »Was ist, wenn sie kaputtgeht?«
»Dann kill ich dich.« Er winkt ab. »Aber sie wird nicht zerbrechen. Du wirst sie wie ein Baby behandeln.«
Ich kenne Eubie. Er ist pingelig, was seine LPs betrifft. Dass er mir eine leihen will, ist ein großer Vertrauensbeweis. Aber mir geht es nicht gut dabei. Ich wünsch mir einfach, dass die Dinge so bleiben, wie sie sind. Keine Erwartungen gleich keine Enttäuschungen gleich keine Kränkungen. Alles bleibt cool.
Ich stecke die Hände in die Tasche. »Weißt du, bin sehr beschäftigt in der Schule diese Woche, und dann mach ich noch ne Sonderschicht bei Buddha Burger und so, also … du verstehst. Aber trotzdem vielen Dank.« Ich schenke ihm ein halbherziges Lächeln. »Also … hast du jetzt diesen neuen Tremolo, den ich bestellt hab?«
Eubie ist enttäuscht. Ich seh’s an der Art, wie er die Platte in die Hülle steckt und dabei seufzt, und ich fühle mich irgendwie beschissen. Ich bin es gewöhnt, jeden anderen zu enttäuschen, nicht aber Eubie.
Er zieht ein Album aus einem Stapel auf dem Tisch. Das Cover zeigt ein perfektes Kitschfoto: zwei Weingläser, dezentes Kerzenlicht und eine Feder. Viver É Amar, Amar É Viver. Hinter dem Titel stehen ein Sternchen und die Übersetzung: Leben ist Liebe, lieben ist leben.
»Was findest du an diesem Typen?«, fragt Eubie.
»Die Blockflöte ist meine heimliche Liebe.«
Als Eubie nicht lacht, erkläre ich ihm: »Hast du den Typen schon mal gehört? Er ist ein einziger Witz.«
»Also kaufst du die Platte, um ihn zu verarschen?« Eubie lässt sein langes Gerippe auf einen der Klappstühle plumpsen und beißt in einen Müsliriegel, den er aus seiner Hemdtasche zieht.
»Nein. Nicht wirklich. Aber so ähnlich, also, ja.«
»Für ihn ist diese Scheiße heilig, verstehst du mich? Er singt von Qualen, von verlorener Liebe, von Ungerechtigkeit. Über Hoffnung. Ich verkauf dir das nicht, wenn du dir daraus nur nen Spaß machst. Dazu ist die Musik nicht da, mein Freundchen.« Er wirft mir einen missbilligenden Blick zu.
»Also«, sage ich und hole tief Luft, »er spielt wirklich supergeil Flöte.«
Eubie schüttelt den Kopf. Er futtert den letzten Rest Müsliriegel auf und drängt mich mit meiner neuen Tremolo-Platte durch den Vorhang Richtung Kasse.
»Hier. Nimm das verdammte Album. Und schaff dir eine Freundin an.«
Es ist warm und die Sonne scheint, als ich durch die Mambrino Street gehe. Auf der anderen Seite der vierspurigen Straße liegt die Uni, an der mein Vater arbeitet. Mein Dad ist Physiker. Er arbeitet mit Leuten zusammen, die sich mit jeder Art abgefahrener kosmischer Scheiße beschäftigen. Stringtheorie. Parallelwelten. Zeitreisen. Es geht ihnen nicht darum, einen besseren Toaster zu entwickeln.
Was ich damit sagen will, ist, dass mein Dad gegen diese Typen arbeitet. Er ist ein halbwegs bekannter Entzauberer von allem, was nichts mit der Physik der alten Schule zu tun hat. Alle neuen Theorien nennt er »Des Kaisers neue Kleider der Wissenschaft«. Ich mache keine Witze. Er hat das gerade als wissenschaftlichen Aufsatz in Scientific Masturbation Quarterly veröffentlicht. Okay, so heißt die Zeitschrift nicht wirklich, aber glaub mir, dass sie voll von Beiträgen ist, mit denen sich die Autoren intellektuell einen runterholen. Der Rest der Menschheit langweilt sich beim Lesen zu Tode. »Nichts von dem, was sie behaupten, können sie beweisen, Cameron«, sagt Dad immer, »und solange es keine Beweise gibt, ist das für mich keine Wissenschaft.« So viel zu meinem Vater – zu deiner Information.
Weil ich schon mal hier bin, könnte ich auch kurz bei ihm vorbeischauen. Eine schnelle Kosten-Nutzen-Rechnung. Pro: Es könnte gut möglich sein, dass ich für ein paar Stunden seinen Wagen ergattere. Kontra: Ich müsste dazu mit meinem Vater in Kontakt treten. Es ist wirklich vertrackt, aber meine Gier nach dem Auto siegt. Wir haben einen dieser erstaunlichen Vorfrühlingstage, die es in Texas manchmal gibt. Man meint, so einen kleinen Hauch von Sommer zu spüren. Ja, Fenster runterkurbeln und mit dem Wagen ein bisschen herumkurven, das wäre jetzt genau das Richtige.
Das Physikalische Institut Niels Bohr ist ein schäbiges Vorkriegsgebäude am Rand des Campus, mit einer ordentlichen Reihe von Seminarräumen und Büros. Die riesige Anschlagtafel in der Eingangshalle ist übersät mit Ankündigungen interner Fußballspiele, Projekten alternativer Energiegewinnung und seltsamen Einladungen aller Art: »Der Weg zur Quantenfeldtheorie. Den Higgs-Teilchen auf der Spur«. – »Spüre unsere Schwingungen! Komm in Raum 101, um mit uns die neuesten Erkenntnisse der Stringtheorie, Multiversumstheorie und der Weltformel zu diskutieren!« – »Heil, Putopia!« – »Das Unerforschte erforschen – Die Mysterien der dunklen Energie. Dulcinea Hall, 19 Uhr. Wir öffnen ein Fässchen, also kommt rechtzeitig und entwickelt eure seltsamen Quarks.«
Dads Büro liegt hinter der letzten Tür eines langen Flurs, der seit Einsteins Tagen keinen Farbanstrich mehr gesehen hat. Die Tür steht einen Spalt offen. Ich werfe einen Blick rein, weil ich Stimmen höre. Dad steht da mit einer seiner Assistentinnen. Sie war schon bei uns zu Hause und heißt Rachel oder Raylie – jedenfalls ein Name mit »R«. Sie sitzt auf einem Stuhl, meinem Vater gegenüber, beugt sich nach vorn und lacht über etwas, das er gerade gesagt hat. Mein Dad scheint irgendwie verwandelt. Er klingt gar nicht wütend oder beleidigt, wie der Dad zu Hause, der die Gartenarbeit macht, die Rechnungen zahlt, die Reifen wechselt und dabei aussieht, als ob er jede Minute hassen würde. Er lächelt tatsächlich und das ist einfach sonderbar. Ich klopfe an die Tür und Dad springt schnell hoch.
»Hey, Cam. Was für ne Überraschung. Du erinnerst dich an Raina, meine Assistentin?«
Raina. Sie winkt mir leicht zu. »Hi.«
»Also, was führt dich zu mir, Freitagnachmittag um halb fünf?«
»Ich war bei Eubie’s. Dachte, ich schau mal kurz rein.«
»Großartig«, sagt Dad und lächelt, als wolle er mir einen Gebrauchtwagen verkaufen.
»Ähm, Raina, wenn Sie diese Arbeiten bis Mittwochmorgen erledigen könnten …«
»Sicher, Frank.«
Frank? Sie nennt ihn Frank? Was stimmt hier nicht mit Dr. Smith? Ich streife Raina leicht, als ich reingehe. Sie hat große braune Augen und ihr Haar duftet nach Orangen. Für den Bruchteil einer Sekunde stelle ich sie mir nackt vor. Aber dann denk ich mir, dass mein Vater vielleicht das Gleiche tut oder sie sogar schon nackt gesehen hat, und ich wünsche mir einen großen Joint, damit ich mir diesen Gedanken direkt aus dem Hirn blasen kann.
Dad bietet mir einen Stuhl an. »Also, das ist wirklich eine Überraschung.«
»Und ob.« Ich lasse mich auf den Billigstuhl auf der anderen Seite des Schreibtisches fallen, wo sonst seine Studenten Platz nehmen. So sehen sie ihn also: groß, ein attraktiver Kerl in gestärktem Button-Down-Hemd und Kakihose. Schwerer Schreibtisch. Schwerer Sessel. Bedeutende Diplome an der Wand, hinter seinen grau melierten Rundum-Geheimratsecken, die seinen Kopf so wirken lassen wie den einer dieser religiösen Ikonen. Auf dem Schreibtisch steht eine schwarze Schachtel, obendrauf ein Engel in einer Schneekugel. Jenna und ich haben Dad das Ding vergangenes Jahr zu Weihnachten geschenkt. Der Boden der Kugel ist seit einiger Zeit angeknackst, und nun lehnt sich der Engel mit beiden Händen gegen das Glas, als ob er versucht, auszubrechen. Dann steht da noch eine dieser Metallstiftskulpturen, die man selbst gestalten kann, indem man gegen die Stifte drückt. Daneben zwei ordentliche Stapel Papiere – »korrigiert« und »unkorrigiert«. Schreibtischlampe auf der einen Seite, Telefon auf der anderen. Ordnung. Symmetrie. Autorität.
»Raina ist eine wirklich kluge Frau, eine großartige Physikerin. Diese Studienanfänger wissen gar nicht, womit sie hier konfrontiert werden. Sie hätte zum MIT gehen können, wenn sie gewollt hätte.
»Cool. Hey, kann ich mir den Wagen borgen?«
Dads Mundwinkel sacken nach unten. Jetzt erscheint er mir wieder vertraut – wie ein Luftballon vier Tage nach der Geburtstagsparty.
»Bist du nur deswegen vorbeigekommen?«
Ich drücke mein Gesicht gegen die Metallstiftskulptur. Als ich es wieder wegziehe, ist mein Gesichtsausdruck darauf zu einem Schrei erstarrt. »Es sieht ja nicht so aus, als ob du den Wagen gerade brauchst.«
»Wenn sich deine Noten verbessern, können wir über den Wagen reden.« Dad schüttelt die Stifte wieder zurecht und löscht damit mein Bild. »Hey, die hier werden dir wahrscheinlich gefallen.«
Er holt einen Stapel Fotos aus einer Schreibtischschublade und schüttet mir die Bilder in die Hand. Es sind Urlaubsfotos. Ein paar Typen in T-Shirts der Gold Coast University mit Rucksäcken in den Bergen. Drei Mädchen auf irgendeiner Megabowlingbahn. Eine Meute Studenten in den Frühlingsferien am Strand. Ich kenne keinen einzigen der Leute. »Einige meiner Studenten arbeiten an diesem Projekt. Sie haben einen Gartenzwerg gestohlen, ihn auf eine Weltreise geschickt und ihn immer an jemanden weitergereicht, der als Nächstes auf Tour ging.«
Jetzt sehe ich den kleinen Kerl, wie er aus jedem Bild herausguckt, dicke rote Wangen, weißer Bart und blitzende Augen. Okay, wenn sie wirklich blitzen könnten. Es sieht aus, als ob sie das wirklich tun wollten. Außerdem sieht er aus, als würde er nur zu gerne die Scheiße aus seinen eingebildeten Kidnappern prügeln. Oder vielleicht hat er einfach Spaß am Reisen. Vielleicht schickt er den anderen Gartenzwergen Ansichtskarten. Mir geht’s ausgezeichnet. Keine Rasensprinkler weit und breit.
»Ganz witzig«, sage ich und werfe die Bilder zurück auf den Schreibtisch.
»Du hast sie dir nicht mal angesehen.«
»Doch, hab ich.«
Dad seufzt. »Weißt du, Cameron, du könntest wenigstens so tun, als ob du an meinem Leben interessiert bist.«
»Dad, ich hab sie angeschaut.«
Er ordnet sie und spannt ein Gummiband drum herum, um sie im Zaum zu halten, so wie er sich im Zaum hält. So ist mein Vater. Koch nie über, wenn du köcheln kannst. Schrei nie, wenn du jemanden mit einem Blick kleinkriegst. Geh nie nach vorn und kämpfe, wenn du es für richtig hältst, die kalte Schulter zu zeigen. Ich habe ne Menge von Dads kalten Schultern gesehen.
»Was den Wagen angeht: Ich dachte, ich könnte mit ihm paar Besorgungen machen und dann wieder hierherkommen, wenn du mit deiner Arbeit fertig bist.« In letzter Sekunde werfe ich ihm ein Vater-Sohn-Leckerli hin. »Vielleicht könnten wir danach Pizza essen gehn.«
»Was für Besorgungen?«
»Du weißt schon«, sage ich achselzuckend.
»Nein, weiß ich nicht. Deshalb frag ich ja.«
»Nur ’n paar Besorgungen. Für die Schule.«
»Was brauchst du für die Schule?«
»Nichts.«
»Cameron. Das ergibt keinen Sinn.«
»Ich brauch einfach den Wagen. Um dies und das zu besorgen. Nichts von Bedeutung.«
»Dies und das«, sagt Dad und spielt mit seinem Kuli. »Bücher? Kleidung? Sportausrüstung?«
Dad gibt sich wahrscheinlich selbst eine Kopfnuss, wenn ich jetzt »Sportausrüstung« sage. »Ich freunde mich mit dem Gedanken an, dieses Jahr Lacrosse zu spielen. Könnte vielleicht für die Collegebewerbungen ganz gut sein.«
»Ein anständiger Notendurchschnitt wäre besser«, schießt Dad zurück. Ihm und Mom ist es ein Rätsel, warum zwei Uniprofessoren zu einem Kind mit einem Notenschnitt von 4+ kommen.
»Also, kann ich mir den Wagen leihen?«
»Nein. Ich muss bis in die Nacht hinein arbeiten.«
Bis in die Nacht hinein. Mit Raina, zweifellos.
»Gut«, brummle ich. »Kann ich mir wenigstens deinen Ausweis borgen, damit ich einen Rabatt beim Campusbuchladen bekomme? Ich brauch ein Exemplar von Don Quijote für Englisch«, lüge ich.
»No problemo.« Dad lächelt und gibt mir seinen Ausweis. Für das ungeübte Auge sieht das so aus, als ob er glücklich ist, mir weiterzuhelfen. Aber ich weiß, dass er nur glücklich ist, weil er gewonnen hat. Ich nehme die Karte und stecke sie ein.
»Bitte schön«, sagt Dad.
»Toll. Bis später.«
»Würd es dich umbringen, Danke zu sagen?«
»Schon möglich. Und weil ich daran sterben könnte, kommt es mir ziemlich viel verlangt vor, oder siehst du das anders?« Na, wer gewinnt jetzt, Dad?
»Nur das eine Buch.«
Er wendet sich seinem Computerbildschirm zu. Hallo, Dad ist wieder der Alte! Ich hab dich vermisst. Was hast du so lange gemacht?
Die Rückkehr der alten Verhältnisse bedeutet für mich: Es ist von Amts wegen Zeit zu gehen, aber mein Fuß ist eingeschlafen. Er stichelt wie blöd, und ich kann ihn nicht mal spüren, wenn ich auftrete. Ich schwanke und lasse meine Hand auf den Schreibtisch knallen. Die Schneekugel schwankt und fällt und zerbricht und das Wasser durchnässt die Gartenzwergfotos.
»Cameron!«, schreit Dad und zieht seinen Sessel vom nassen Schreibtisch weg. Seine Hose hat einen zweifelhaften Flecken abgekriegt.
»Ich bin gestolpert, okay? Mein Fuß ist eingeschlafen. Ich kann nichts dafür.«
»Nie kannst du was dafür.« Dad öffnet die Schreibtischschublade und zieht seine Kollektion von Minimarkt-Taschentüchern heraus. Er betupft heftig die Fotos und schätzt schon mal den Schaden ab. »Ist gut«, sagt er.
Ich weiß nicht, ob er die Fotos meint oder mich.
Ich habe ein Exemplar von Don Quijote – Anmerkungen zum Selbstfälschen erstanden und – nur um Dad anzupissen – einen Korkenzieher mit einem wulstigen Griff, auf dem Rein und raus steht. Die Busfahrt in unseren Vorort ist lang – also genügend Zeit, um das Anzeigenblatt durchzublättern, das ich bei Eubie’s mitgenommen habe.
MYSTERIÖSE BRÄNDE IN
MEHREREN STAATEN.
»DAS ENDE DER WELT NAHT«, SAGT REVEREND
IGGY NORANT.
ROADRUNNER BUS
COMPANY:
FOLGE DER FEDER ZU DEINEM NÄCHSTEN ABENTEUER.
VERMISSTER WISSENSCHAFTLER
ZEITREISENDER
IN ANDEREN WELTEN?
TEENS IN NOT?
SCHICKT SIE IN UNSERE KIRCHE.
ES ERWARTET SIE EIN ERFÜLLTES LEBEN BIS
IN ALLE EWIGKEIT.
LEIDEST
DU UNTER DEN NEGATIVEN AUSWIRKUNGEN
VON WACHSTUMSHORMONEN?
FALLS JA, SCHLIESS DICH NOCH HEUTE UNSERER
SAMMELKLAGE AN.
GEHEIMER SUPERSPEICHERRING
ZUR TEILCHEN-
BESCHLEUNIGUNG VOR DEM DURCHBRUCH.
WIRD UNSER PLANET VON EINEM
SCHWARZEN LOCH VERSCHLUCKT?
TOP-MEDIZINER X BRINGT’S
AUF DEN PUNKT:
»ICH HABE DEN TOD ÜBERLISTET. SIE
KÖNNEN DAS AUCH!«
AUF ZUR
GÖTTERDÄMMERUNG!
LERNE ALTNORDISCH BEQUEM ZU HAUSE:
RUFE JETZT AN UND SICHERE DIR EINEN
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SIE BRAUCHEN EINEN
JOB?
AUFREGENDE CHANCEN BIETET DIE SCHNEEKUGEL-
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Ich lege die Zeitung zur Seite. Noch ein paar Meilen bis nach Hause, also lese ich die ersten Kapitel aus Don Quijote. Die Anmerkungen zum Selbstfälschen erklären mir, das Cervantes die Kultur des Idealismus verspottet. Das Einzige, was ich über Don Quijote weiß, ist, dass er und sein Kumpan in die Welt hinausziehen und eingebildete Abenteuer erleben. Sie kämpfen gegen Windmühlen, die sie für Riesen halten, und solche Sachen. Wenn ich aus dem Busfenster schaue, sehe ich keine einzige Windmühle. Nur Reihen über Reihen von Häusern, die alle ziemlich gleich aussehen. Klar, ein paar zweistöckige sind darunter und einige Farmhäuser. Ein paar wenige haben sogar ein großes rundes Türmchen als Garage und sehen aus wie so ne Art lächerliches Vorortschloss. Aber es sind immer die gleichen Haustypen. Als ich noch klein war, hatte ich Angst davor, ins falsche Haus zu geraten und versehentlich das falsche Leben führen zu müssen. Jetzt klingt das ziemlich verlockend.
Der Himmel sieht trotzdem erstaunlich aus. Leuchtendes Blau, wie Farbe aus der Tube, bevor sie mit Wasser verdünnt wird. Die Wolken dort oben – wie Federbetten. Etwas flattert an meinem Fenster vorbei und lässt mich hochschrecken – ein Vogelschwarm, der sich auf den Weg zu seinem Wolkenbett macht. Ich beobachte ihn, bis die Vögel zu Pünktchen in der Landschaft geworden sind. Und für einen Augenblick sehe ich noch etwas am Himmel: ein Flattern von Flügeln – zu riesig, um es zu benennen.