Handelt davon, was passiert, wenn wir nach Fantasyland kommen
Auf diesem riesengroßen Gelände von Disney World einen Parkplatz zu finden, erweist sich als Herausforderung. Jedes weiß gestreifte Stückchen Asphalt ist besetzt. Schließlich stelle ich den Caddy auf einem Grasstreifen ab. Sicher wird er von dort abgeschleppt. Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr.
Wir nehmen die Parkplatztram zur Monorail, die uns im Eiltempo zu den Eingangstoren von Amerikas beliebtestem Freizeitpark bringt. Die Tickets kosten uns ein Vermögen. Und dann sind wir drin und stehen auf der Main Street. Überall um uns herum winken und tanzen und posieren lebensgroße Trickfilmfiguren im Plüschpelz. Ich stolpere in Gonzo hinein und der stößt mich mit einem Knurren zurück. Auf meiner Stirn bilden sich kalte Schweißperlen. Gonzos Augen weiten sich. »Alter«, sagt er sanft und nickt in Richtung meines Armbandes. Alle Farbe ist davon gewichen, bis auf einen dünnen Streifen unter Tomorrowland. Ich bin fast am Ende. Meine Lungen fühlen sich an, als ob sie mit Schnürsenkeln zugebunden worden wären.
»Bin okay«, keuche ich. »Wir müssen Dulcie finden.«
»Wo sind wir?«
»Main Street.«
Im Spätnachmittagsdunst schimmert Cinderellas Schloss vor uns wie eine Fata Morgana. Ein Oldtimer töff-töfft an uns vorüber. Die Besucher drängen sich auf den Gehsteigen und in den Straßen. Alles scheint unwirklich – ausgenommen die Sicherheitsleute, die mit ihren Walkie-Talkies auf Patrouille sind. Gonzo nickt in ihre Richtung.
»Ich seh sie«, sage ich. »Wir müssen uns verkleiden.«
In einem der vier Millionen Souvenirshops kaufen wir für mich einen gigantischen Ritterhelm, einen Zaubererumhang und eine ultimative Friedenswaffe und für Gonzo eine Hundemütze mit Schlappohren und ein dazu passendes Kostüm.
»Ich fühle mich wie ein totaler Idiot«, murmelt Gonzo hinter der Maske.
»Immer noch besser als ne Figur in ner Schneekugel«, erinnere ich ihn. »Hier.«
Ich drücke ihm den Rest unseres Geldvorrats in die Pfote – vierhundert Dollar.
»Wofür soll das sein?«
»Für’n Busticket nach New York. Grüß Drew von mir. Schau dir das Empire State Building an. Ich wollte das immer tun.«
»Du sagst das, als ob du nicht mit zurückkommst, Alter.« »Ich weiß nicht, was passieren wird. Hör zu, nimm einfach das Geld, okay?«
»Okay«, sagt er leise. Er betätschelt sich mit seinen Pfoten. »Hat dieses Ding hier keine verdammte Tasche?« Gonzo öffnet den Reißverschluss des Kostüms und verstaut das Geldbündel in seiner Jeans.
Dann laufen wir die Main Street entlang und halten dabei Ausschau nach jemandem, der eine Sackkarre mit Schneekugeln schiebt. In jedem Souvenirladen kontrollieren wir den Warenbestand – ohne Erfolg. Der Tag ist schön und der Park zum Bersten voll. Familien im Urlaub. Pärchen auf Hochzeitsreise, mit Mausohren und Brautschleier. Omas und Opas, die ihre Enkelkinder mit Andenken verhätscheln.
Dulcie, wo bist du?
Als wir Fantasyland erreichen, bin ich so ermattet, dass ich halluziniere. Ich denke schon, ich sehe Glory mit ihrem Infusionsständer hinter mir herkommen. Sie lächelt, aber als ich noch einmal hinsehe, ist da nur eine Dame, die einen Kinderwagen schiebt.
Gonzos Handy klingelt. Hastig öffnet er das Kostüm und wühlt in seiner Hosentasche. Das sieht echt pervers aus.
»Hallo«, sagt er und lächelt breit. »Hey«, seine Stimme fängt an zu flirten, »nich viel, und was machst’n du?« Er wendet sich mir zu und seine Lippen formen das Wort »Drew«.
»Kannst du ihn zurückrufen?«, fahre ich dazwischen.
»Oh, klar«, sagt er. »Hey, Baby, kann ich dich zurückrufen? Wir sind gerade in Disney World.«
Ich seufze.
»Echt! Wir sind wirklich da!« Für einen Augenblick nimmt Gonzo das Handy vom Ohr. »Drew sagt, dass Space Mountain ridukühl ist. Was’n das?« Er spricht wieder ins Handy. »Mmh. Ja, ich vermiss dich auch …«
Ich will Gonzo sagen, er soll das Gespräch beenden, weil wir Dulcie finden müssen, aber dann begreife ich: Ich bin derjenige, der Dulcie finden muss. Er hat gefunden, was er gesucht hat. Also lasse ich ihn noch eine Minute länger telefonieren, während ich mich weiter nach Typen mit verspiegelten Sonnenbrillen umsehe, die Sackkarren mit Schneekugelkartons zu geheimen Orten schieben. Ich laufe rüber zur Small World-Fahrt und warte in einem Schattenfleckchen. Leise Musik dringt nach draußen. Menschen steigen in die Boote und treiben hinein in Disneys dunkle, glückliche Unterwelt.
»Du musst dich da drüben anstellen«, sagt irgendeine Frau.
»Ich weiß. Ich warte nur auf jemanden.«
»Wie du willst«, sagt sie. Und als ich näher hingucke, erkenne ich die alte Lady aus dem Krankenhaus. Sie stellt sich in die Schlange.
»Hey.« Ich stolpere hinter ihr her, aber als ich sie erreiche, steht da eine völlig andere Frau. »’tschuldigung«, sage ich, »ich dachte, Sie wären jemand anderes.«
Sie lächelt. »Das passiert mir die ganze Zeit.«
Menschen kommen und gehen. Mütter laufen schnell zu den Toiletten, ziehen ihre kleinen Kinder hinter sich her und klingen verärgert. Warum bist du nicht pinkeln gegangen, bevor wir uns in die Schlange gestellt haben? Die Kinder schreien oder sie weinen. Manchmal warten die Väter draußen. Die Moms geben ihnen Taschen und Stofftiere zu halten und schreien die Dads an, aber die machen alles falsch; sie kapieren es nicht und die Moms werden stinkesauer. Dann sagen sie Sachen wie Also, ich dachte, wir hätten entschieden, dieses Mal nicht zum Splash Mountain zu gehen. Und die Dads stehen da, mit den Händen in den Hosentaschen.
Alles, was ich denken kann, ist: Das also ist der Ort, an dem ich den glücklichsten Tag meines Lebens zugebracht habe? Warum nur? Die Warteschlangen sind alle wahnsinnig lang und ich denke: Nie im Leben würde ich für irgendeine lausige Vergnügungsfahrt von ein paar Minuten so lange in der Sonne anstehen.
Aber dann strömen die Kinder aus dem Ausgang, und ich würde am liebsten weinen über das, was ich sehe. In ihren Gesichtern steht das blanke Staunen. Ihre Augen leuchten und sie reden ohne Punkt und Komma. Und die Eltern zockeln hinter ihnen her und lächeln auch. Eine Freude, die ansteckt.
Etwas fällt auf meine Schulter. Eine Feder. »Dulcie?«, rufe ich, aber bei näherem Hinsehen erweist sie sich als ganz ordinäre Taubenfeder. Ein Mitarbeiter der Vereinigten Schneekugel-Großhändler schiebt sich mit einem Karton auf einer Sackkarre an mir vorüber. An die Seite der Schachtel ist TOMORROWLAND gestempelt.
Ein Kribbeln durchfährt mich. Dulcie ist hier. Und Dr. X auch. Ich weiß es. Wie Dulcie gesagt hat, ist das Einzige, was in dieser Welt Sinn ergibt, der Zufall. Ich muss Gonzo Bescheid sagen.
Ich drehe mich um und renne direkt in einen Typen mit verspiegelter Sonnenbrille und Baseballmütze.
Er grinst. »Entschuldige, kann ich mit dir eine Minute über Sicherheit sprechen?«
Ich will wegrennen, aber er stellt mir ein Bein, und ich knalle zu Boden. »Wir haben ihn«, sagt der Typ zu jemandem, den ich nicht sehen kann. Aus den Souvenirshops kommen Sicherheitsleute gerannt.
Während verdutzte Touristen die Szene verfolgen und für ihre Fotoalben zu Hause Schnappschüsse machen, schleift mich VSG-Mitarbeiter #221 an den Rand der Small World-Bahn.
»Wo ist dein Komplize? Wo ist Paul?«, fragt er, und ich brauche ein paar Sekunden, bis ich begreife, dass er Gonzo meint. Aus dem Augenwinkel sehe ich Gonzo in seinem Hundekostüm drüben bei den Toiletten stehen. Er hat das Handy immer noch an sein Ohr gepresst, schlürft eine Limo und lacht.
»Er ist unschuldig«, sage ich. »Ich hab ihn gezwungen, mit mir zu kommen. Mit vorgehaltener Waffe.«
Mitarbeiter #221 scheint das zu begreifen und ich spinne die Geschichte weiter aus: »Wissen Sie, wie oft dieser wahnsinnige Knabe versucht hat zu entkommen? Er wollte sogar der Bedienung im Preakfast Pretzel einen Hilferuf zuschieben.«
Gonzo dreht sich um und geht auf uns zu. Bitte. Bitte, komm nicht näher, Gonzo, flehe ich im Stillen. Als ob er mich hört, schaut Gonzo von seinem Handy hoch und erstarrt. Kaum merklich nicke ich in Richtung des beeindruckend schnauzbärtigen VSG-Agenten vor mir. Gonzo spielt mit mir eine flotte Scharade. Blick. Kung-Fu-Tritt. Agent. Arsch. Ich trete dem Agenten in den Arsch? Er wiederholt die Scharade langsam.
Ich trete ihm in den Arsch?
Ganz langsam schüttle ich den Kopf. »Leb weiter für den nächsten Kampf!«, rufe ich und schrecke alle um mich herum auf. »Weil du der Zwerg des Schicksals bist!«
»Was soll das?« Jetzt ist Mitarbeiter #714 zur Stelle. Er drückt mir den Lauf seines Revolvers in die Seite.
»Er ist verrückt«, sagt Mitarbeiter #221. »Ruf noch mal die Security.«
»Verstanden.« Mitarbeiter #471 spricht in sein Walkie-Talkie.
Gonzo hat meine Worte gehört. Er guckt ein bisschen traurig, als er nickt. Ich kann nicht viel tun, ohne die Typen auf ihn aufmerksam zu machen. Also hebe ich die Hand. Ich winke nicht wirklich, es ist auch kein Tschüss oder ein Hallo, es ist nur eine offene Hand, ein Hey, wir sehen uns wieder. Er hebt ebenfalls die Hand. Und dann tut er, was er tun sollte. Er verschwindet im Gewimmel der Menschen.
»Wir nehmen ihn mit und bearbeiten ihn«, sagt Mitarbeiter #471, und ich weiß, was er damit meint.
Meine Kehle schnürt sich zusammen und meine Augen brennen. Ich könnte heulen. Ich habe den ganzen Weg bis hier geschafft, nur um in der letzten Minute zu scheitern.
»Kann ich euch etwas fragen? Was glaubt ihr Jungs denn, was ihr mit all dem bewirkt? Also, mal ehrlich, wie kann man sich auf das Unvorhersehbare vorbereiten?«
»Halt einfach dein Maul.«
Sie setzen mich ab und plötzlich bin ich wütend. Scheiß drauf. Ich will den Mund nicht halten. »Am Ende leben wir doch in einer kleinen Welt …«, singe ich. »Am Ende leben wir doch in einer kleinen Welt …«
»Was soll das? Hör auf zu singen!«, befiehlt der Agent und das macht mich noch wütender.
»… in einer kleinen, kleinen Welt!«, singe ich noch lauter.
»Oh, wie schön, dass man uns unterhält, während wir in der Schlange stehen«, sagt eine Dame mit einem großen Sonnenhut.
Der Typ schlägt mich mit seiner Kanone. Ich krümme mich vor Schmerzen.
»Hey«, sagt ein Mann in der Warteschlange. »Was machen Sie da? Er ist noch ein Kind!«
»Sir, wir kommen von den Vereinigten Schneekugel-Großhändlern und sichern Ihre Sicherheit.«
»Halt dich da raus, Kumpel. Das soll’n die Profis regeln«, rät ein anderer Typ in der Warteschlange dem ersten.
»Genau«, sagt Mitarbeiter #457. »Das ist eine Frage der Sicherheit.«
»Nein. Das ist ein Akt von Kindesmisshandlung«, antwortet der Vater.
Ich singe weiter. »… eine Welt voller Lachen, eine Welt voller Tränen …«
Die Kinder verstehen nicht, was los ist. Aber sie kennen das Lied. Und so beginnen sie mitzusingen.
»Prima, Kids!«, rufe ich. »Das wird fürs Fernsehen aufgenommen. Also, jeder von euch fasst seinen Nachbarn an den Händen und dann singen wir richtig schön laut!«
Sobald das Wort »Fernsehen« gefallen ist, gerät die Warteschlange außer sich. Das haben die VSG-Ordnungshüter nicht erwartet. Und mehr brauche ich nicht. Okay, du Arschloch von Kojote. Halt deinen Amboss bereit. Komm, hol dir meinen Roadrunnerarsch!
Ich stürze davon, Richtung Tomorrowland, und hoffe, dass meine Beine nicht schlappmachen.
»Hey! Stopp!«, brüllen die Agenten hinter mir. »Oder wir schießen!«
Sie können mich nicht erschießen. Ich bin ein Kind. Und das hier ist Disney World. In Disney World wird nicht geschossen. Neben mir leuchtet ein greller Fotoblitz auf, und aus einer vierköpfigen Familie, die gerade Zuckerwatte kauft, wird ein Sofortbild hinter Glas.
So schnell ich kann, drücke ich mich um die Mad Tea Party-Fahrt herum, flitze in Menschenmengen hinein und wieder hinaus, laufe am Speedway vorbei, bis schließlich die bunten Planeten von Tomorrowland vor mir auftauchen. Mist. Ich ringe nach Luft und sehe die Umgebung nur noch verschwommen. Hinter mir höre ich Gebrüll und Geschrei. Die Schneekugelmänner sind nahe.
In den Warteschlangen steht man überall mindestens zwanzig Minuten. Außer bei der Tomorrowland-Transitbahn.
»Entschuldigen Sie bitte!«, rufe ich, wanke die Rampe hoch und drücke mich an den wenigen Leuten in der Schlange vorbei. Bevor irgendjemand protestieren kann, hüpfe ich auf das laufende Förderband, am Aufseher vorbei, der nur ein schwaches »Hey, pass auf!« von sich gibt, und falle auf einen Sitz. Als die Bahn in einen Tunnel gleitet, mache ich mich klein, damit ich nicht gesehen werde. Mein Herz rast wie das Schlagzeugsolo im Cypress Grove Blues. Ich befinde mich im Alarmzustand, die Augen offen, die Ohren offen, total wach und total lebendig. Ich warte auf ein Signal, ein Zeichen, dass ich am richtigen Ort bin. Die Stimme eines Erzählers dröhnt durch die Dunkelheit. Er hört sich an, als ob er in einer alten Wochenschau Autos verkaufen müsste. Vor einem Fenster, hinter dem sich ein Diorama von Tomorrowland erstreckt, wird der Zug langsamer. Der Sprecher sagt uns, dass wir eine Zukunftsvision sehen: einen Ort, an dem Menschen leben, arbeiten und in Frieden miteinander spielen können. Einige Plakate zeigen Maschinen, die uns Arbeiten abnehmen. Roboter. Eben das übliche Sci-Fi-Zeugs. Ich nehme an, das war einmal topaktuell. Es war ein Traum.
Die Bahn rumpelt um eine Kurve und plötzlich wird es im Tunnel ganz dunkel. Ich sehe die Hand vor meinen Augen nicht. Das Herz rutscht mir in die Hose. Ist es das? War es das?
»Dulcie?«, rufe ich in die Dunkelheit. Stille. Und dann beginnt der Meteoritenschauer. Als ob die Finsternis Tränen aus buntem Licht weint.
Die Bahn fährt jetzt nur noch im Schneckentempo, und ich bin mir ziemlich sicher, dass sie sie anhalten, um mich zu suchen. Sie können nicht weit hinter mir sein. Auf unseren Gesichtern blinken Lichtspuren, und ich könnte schwören, dass ich draußen, rechts von mir, die Silhouette einer Tür sehe. Ein weiterer Lichtstrahl zerreißt die Finsternis und ich sehe sie noch einmal. Da ist eine Tür, ganz klar, und genau in ihrer Mitte ist eine Feder. Ruckweise geht die Fahrt weiter. Jetzt oder nie.
»Hey, ich glaub nicht, dass du das tun solltest«, sagt der Mann hinter mir, als ich über die Seitenwand klettere und rausspringe. Die Stimme des Sprechers donnert in der Dunkelheit wie die irgendeines gefallenen Gottes. Ich drücke die Tür auf und die plötzliche Helligkeit erschlägt mich fast.