KAPITEL ZWEIUNDDREISSIG

Handelt davon, was passiert, wenn wir einen Abstecher nach Hope (Georgia) machen

 

Weil es so heftig regnet, entscheide ich, lieber an den Straßenrand zu fahren und zu warten, als mit den nahezu abgefahrenen Reifen auf dem glitschigen Highway zu bleiben. In der Düsternis blinkt ein Schild weiß und blau und kündigt einen Rastplatz an. Und direkt dahinter steht ein kleines weißes Wegzeichen, auf dem zu lesen ist HOPE, GEORGIA, ZWEI MEILEN. Direkt daneben ist das Symbol einer Feder.

»Was machen wir hier, Alter?«, fragt Gonzo. »Du weißt, dass das mit meiner Unterhose ein Witz war, okay?«

»Scheint einfach ein guter Platz zu sein, um zu warten, bis der Regen aufgehört hat«, sage ich, ohne die Feder zu erwähnen. Vielleicht ist es das Maskottchen des Staates oder so was.

»Okay, ich ratze. Weck mich auf, wenn was ist«, sagt Gonzo und schließt sich Balder an, der die letzte halbe Meile geschnarcht hat.

Ich kann mir nicht vorstellen, was ich hier finden sollte. Dieses Hope ist nicht gerade die Welt. Es ist so was wie ein Ein-Ampel-Ort. Ich fahre langsam an einer alten schindelgedeckten Nazarenerkirche vorbei. Direkt daneben steht eine geschlossene Tankstelle mit einem Hof voller Reifen. Weit weg von der Straße verstecken sich ein paar Häuser. Alles, was ich von ihnen sehen kann, ist ein Fleckchen Weiß oder ein Stückchen Ziegelwand. Die Straße macht einen scharfen Knick nach links und wird zu einer schmalen Gasse, an der ein baufälliger Eisenwarenladen liegt, mit einem halb heruntergerissenen Schild: VERKAUFE EINZELTEILE – NEU, GEBRAUCHT, NOTWENDIG. Und das war’s. Die Straße endet an einer Leitplanke und einem Kiefernwäldchen. Ein alter Mann sitzt auf der Veranda vor dem Laden, seine Hände ruhen auf den Knien. Ich fahre rechts ran und frage ihn, wie wir zurück auf die Interstate kommen.

»Wasde suchst, is gleich dahinten«, antwortet er und deutet mit zittriger Hand auf das Schild SACKGASSE.

»Da ist keine Straße«, sage ich.

»Du kannst dein’ Wagen stehn lassen. Deine Freunde sinn hier sicher. Du gehst jezz da rüber. Wirstn paar Sachen sehn.«

»Wir müssen wirklich wieder zurück auf den Highway«, sage ich und hoffe, dass Gonzos Tür nicht entriegelt ist. »Nochmals danke. Einen schönen Tag wünsch ich Ihnen.«

Ich lege den Rückwärtsgang ein, der Motor ruckelt und stirbt ab.

Der alte Mann latscht herüber und klappt, ohne zu fragen, die Motorhaube hoch. »Geh jezz los. Ich kümmer mich um dein’ Wagen.«

Einen Augenblick lang frage ich mich, ob ich meine Freunde mit einem Fremden allein lassen sollte. Aber dieser Kerl ist so um die achtzig. Das Schlimmste, was er tun könnte, wäre, sein Gebiss herauszunehmen und uns zu ermahnen, immer Zahnseide zu benutzen.

Ich steige über die Leitplanke und tauche in das Wäldchen ein. Der Regen hat nachgelassen und klammert sich jetzt als blaugrauer Nebel an meine Jacke. Der Boden ist von den Kiefernnadeln ganz weich und ab und zu knirscht ein Kiefernzapfen unter meinen Füßen. Die Luft riecht so frisch, als ob sie eben erst zur Welt gekommen ist. Lichtstrahlen fallen durch die Zweige. Zuerst denke ich, dass die Sonne zum Vorschein kommt, aber die Strahlen sind heller. Die Wassertröpfchen an den Zweigen; der braune Teppich aus Kiefernnadeln unter den Füßen; meine Jeans, mein Hemd, meine Hände – alles flimmert in diesem sonderbaren weißen Licht, und dann sehe ich den schmalen, ausgetretenen Pfad, der nach rechts abgeht. Ich folge ihm durch das Dickicht. Das Licht wird immer stärker – bis ich die Quelle finde – eine gigantische Esche, so groß wie ein Haus.

»Boaah«, murmle ich. Das Geäst des Baumes nimmt die ganze Waldlichtung ein. Ein Gewirr von Zweigen erstreckt sich in alle möglichen Richtungen und an jedem dieser Äste flattern ungezählte Papierschnipsel.

»Hola, Cowboy.« Dulcie tritt hinter dem Baum hervor. Sie leuchtet, als sei sie ein Teil von ihm. Ich bin so glücklich, sie zu sehen, dass ich sie am liebsten an mich reißen und sie umarmen möchte. Allerdings weiß ich nicht, ob es cool ist, mit Engeln Ganzkörperkontakt zu pflegen. Stattdessen sage ich: »Hola, willkommen zurück. Wo bist du gewesen?«

»Da und dort. Hey, was hältst du davon, hä?« Sie tätschelt den milchfarbenen Baumstamm.

Ich grinse. »Das nennt sich Baum. Wir haben ne ganze Menge davon.«

Dulcie zieht eine Augenbraue hoch, aber eigentlich muss sie lächeln, und, mein Gott, was ist das überhaupt mit den Mädchen im Allgemeinen und mit diesem ganz besonders, dass ich mir am liebsten den ganzen Tag lang Witze ausdenken möchte, nur damit sie mich noch einmal so irre anlächelt? »Ich versprech dir, Cowboy, dass du noch nie zuvor so einen Baum gesehen hast. Schau ihn dir mal näher an.«

Ich nehme einen dieser Papierschnipsel zwischen die Finger. Beim näheren Betrachten ist das tatsächlich mehr als Papier – als ob jemand einen Zettel an den Baum geheftet hat, dem dann Blattäderchen gewachsen sind.

»Mach weiter. Lies!«, sagt Dulcie.

Das Papier ist mit den Jahren so vergilbt, dass ich befürchte, es könnte mir zwischen den Fingern zerbröseln. Irgendwie fühlt es sich trocken an, obwohl ich klitschnass bin. Die Handschrift ist kaum zu entziffern.

»Was steht drauf?«, fragt Dulcie.

»Hier steht: Ich möchte gern Tobias Plummer heiraten

Sie nickt. »Hübsch. Lies noch eins.«

Ich schnappe mir ein anderes Blatt. Dieses ist jünger und der Text scheint von einem Computer ausgedruckt zu sein. »Zum Geburtstag wünsche ich mir einen Gameboy.«

»Huh«, sagt Dulcie, »viel Glück damit.« Sie pflückt ein Papierblatt vom Baum.

»Musste das sein?«, sage ich, und haste nicht gesehn, wächst das Blatt nach.

Ich lese, eines nach dem anderen:

Ich wünsche mir, dass meine Tochter geheilt wird.

Ich wünsche mir einen neuen Job.

Ich wünsche mir, dass mich das Mädchen aus der Vierten an der Bethel Highschool bemerkt.

Ich wünschte, ich würde die Sonne auf meinem Gesicht spüren. Ich fühle nirgendwo mehr Wärme.

Ich wünschte, ich wüsste, wonach ich mich sehne.

»Was sind das für Dinger?«, frage ich und lasse den Ast wieder los.

»Wünsche. Es ist ein Wunschbaum.«

»Ein Wunschbaum«, wiederhole ich. »Er erfüllt Wünsche«, sagt sie, so, als ob ich das wissen müsste.

»Wie soll das gehen? Leute schreiben ihre Hoffnungen und Träume auf und heften sie an den Baum, und der Baum sagt: ›Hui! Hier, bitte schön. Eine große dampfende Platte voller Köstlichkeiten ganz nach deinem Wunsch. Guten Appetit!‹«

Dulcie schlenkert mit der Hand hin und her. »So ungefähr.«

»So ungefähr?«

»So ungefähr.«

Dulcie zupft sich ein paar Kiefernnadeln aus den Flügeln, die heute weder mit fliegenden Kühen dekoriert noch wie Fleckvieh angemalt sind. Sie sehen ganz gewöhnlich aus, falls Engelsflügel jemals als »gewöhnlich« bezeichnet werden können. »Ich sterbe vor Hunger. Hast du was Süßes?«

Ich stecke die Hand in die Hosentasche und ziehe zwei Fruchtgummibärchen hervor, die aneinanderkleben. »Nur die zwei Jungs.«

»Lass rüberwachsen. Ohne Hosentaschenfussel, bitte.«

Ich entfussele die Bärchen. Dulcie löst sie voneinander und bietet mir eins an. Als ich ablehne, steckt sie sich das rote in den Mund und schließt verzückt die Augen. »Mein Gott, wie ich Zucker liebe! Die größte Erfindung aller Zeiten.«

»Zurück zum Baum. Wenn du mich fragst, klingt ›so ungefähr‹ ziemlich zufällig.«

»Also, man muss wissen, was man sich wünscht. Nimm zum Beispiel dieses Blatt.« Sie rupft einen Wunsch vom oberen Teil eines Zweiges. »Ich wünsche mir, berühmt zu sein. Okay, erste Frage: Warum will dieses Mädchen berühmt sein? Um angebetet zu werden? Bewundert? Um bemerkt zu werden? Um haufenweise Geld zu scheffeln? Du musst also ins Innere des Wunsches dringen, um seinen Kern, sein Wesen, zu ergründen. Vielleicht ist das, was diese junge Frau eigentlich antreibt, die Sehnsucht nach jemandem, der sie vergöttert. Sie begibt sich also überall dorthin, wo man hingeht, um berühmt zu werden, und sie wird einfach niedergemacht und herumgestoßen wie eine Flipperkugel. Und eines Tages, als sie völlig entmutigt am Strand entlanggeht, kommt dieser eine Mensch, und für den ist sie ein Star. Er verehrt sie und an seiner Seite fühlt sie sich bewundert und berühmt. Auf Umwegen hat sie also bekommen, was sie sich gewünscht hat. Wunsch gewährt.«

Es regnet wieder und die Tropfen platschen sanft auf den Waldboden.

»Was für ne Schwachsinnsphilosophie von Selbsthilfe light is’n das?«, frage ich. »Jemand hängt hier seine Wünsche an den Baum und erwartet, dass sie Wirklichkeit werden, und dieser Baum entscheidet total willkürlich darüber, was vielleicht oder vielleicht auch nicht der Kern des Wunsches ist? Das ist bescheuert!«

Dulcie beißt den Kopf des zweiten Gummibärchens ab. »Deine Skepsis wird ordnungsgemäß zur Kenntnis genommen.«

»Wie wär’s damit? Was wäre, wenn der Wunschbaum den Menschen ihre verdammten Wünsche genau so erfüllt, wie sie es wünschen?«

»So läuft das nicht.« Sie holt einen Rest Gummibärchen zwischen den Backenzähnen hervor.

»Ja, aber wie’s läuft, ist dämlich.«

Dulcie schaut mich an – ich meine: schaut mich wirklich an. Als ob sie mir direkt ins innerste Innere blickt. »Wer nicht wagt, der nicht gewinnt, Cowboy«, sagt sie mit ruhiger Stimme.

»Was meinst du damit?«

»Wünsch dir was. Und schau, ob’s erfüllt wird.«

Sie kommt näher, und ich kann ihren Duft riechen, der sich mit dem des Regens und der Kiefern vermischt. Sie duftet vertraut und beruhigend, wie all die Dinge, die du gerne mit auf Reisen nehmen würdest, um dich weniger allein zu fühlen. Dulcie sieht mir direkt ins Gesicht. Ihre Augen erinnern mich an das Meer im Winter – grau und klar, eine ruhige Oberfläche, unter der sich eine gefährliche Strömung verbirgt, etwas, auf das du dich nur einlässt, wenn du sicher bist, dass du damit fertig wirst – und wenn nicht, tja, dann ist es jetzt eh zu spät.

»Ich … ähm, hab kein Papier«, sage ich.

Sie beugt sich zu mir. Ihr Flüsterhauch wärmt mein Ohr. »Hosentasche.«

»Hä?«

Sie hüpft über einen Zweig, balanciert auf einem Bein. »Das Ding hinten an deiner Hose.«

Ich greife in meine Gesäßtasche und finde die kryptische Notiz, die mir Junior Webster hinterlassen hat: leben.

»Kuli?«, sage ich.

Sie hüpft auf den anderen Fuß. »Ich bin keine Kulifabrik. Du hast einen in deiner Jacke. Er läuft aus.«

Ein großer Tintenklecks hat die linke Seite meiner Windjacke verfärbt. Genervt wische ich den Stift ab und setze mich auf den einzigen trockenen Fleck am Boden. Eine ganze Weile lang lausche ich dem sanften Trommeln des Regens und versuche, meinen Wunsch hieb- und stichfest in Worte zu fassen. Auf so was wie Ich wünsche mir, berühmt zu sein, und treffe einen Kerl am Strand kann ich gut verzichten.

»Geht’s voran?«, fragt mich Dulcie. Wie die Grinsekatze hat sie sich auf einem Ast ausgestreckt.

»Entschuldige. Aber ich denk nach. Hier geht’s ums große Geld.«

Sie macht eine abwehrende Geste. »Schon gut. Lass deinen Genius nichts überstürzen.«

Schließlich schreibe ich das Einzige auf, das mir einfällt, und hefte den Zettel an einen Ast. Mein Wunsch verschwindet im Baum und an der Stelle sprießt ein frisches Blatt hervor. Ich kann sehen, wie auf dem geäderten Papier die Worte erscheinen, als würden sie gerade geboren.

Dulcie hört auf zu hüpfen. »Was hast du dir gewünscht?«

»Nütz doch deinen Superengelröntgenblick, um’s rauszufinden.«

»Ich bin nur ein Botschafter, schon wieder vergessen?«, antwortet Dulcie mit einem Zwinkern. »Also, was immer es ist, ich bin mir sicher, dass es in Erfüllung geht.«

»So ungefähr«, sage ich.

»So ungefähr.«

Plötzlich legt sie mir ihre Arme um den Hals und genauso schnell zieht sie sie wieder zurück. Ich fühle den leeren Raum zwischen uns, als ob er eine dritte Person ist.

»Ich hab ihn!«, sagt sie und winkt mit etwas in ihrer Hand. Es ist ein wirklich altes Blatt, ein letzter Wunsch ans Universum von einem müden Wanderer, der durch Hope kam, auf dem Weg nach Werweißwohin.

»Ah«, sagt sie lächelnd. »Also, das ist genial.«

Sie öffnet ihre Hand und zeigt mir den Kern eines anonymen Wunsches.

Da steht nur: Ich will