KAPITEL ZWEIUNDVIERZIG

In dem ich mich mit meiner Schwester unterhalte und mir die Schicksalsgöttinnen einen Wink geben

 

Jenna und ich finden einen Platz in der überfüllten Strandbar. Das YA! TV-Programm flimmert auf sämtlichen Bildschirmen, allerdings ohne Ton. Auf der winzigen Bühne läuft eine Musikshow – Bands, Backgroundsängerinnen mit Akustikgitarren, singende Komiker, Rapper. Typen mit Flachmännern in den Badehosen spazieren rein und raus. Jeder taxiert jeden.

Ich besorge Jenna und mir Limos. Bis ich zur Bar durchkomme, ist eine halbe Stunde vergangen. »Bitte schön«, sage ich und reiche ihr einen Becher.

»Diätlimo, oder?«

Ich rolle mit den Augen. »Keine Sorge.«

Ein Besoffener schubst einen anderen Besoffenen. Der knallt nahezu in voller Länge auf unseren Tisch und kippt fast Jennas Limo um. »Sorry«, sagt er und lacht. »Schau mal, was du angestellt hast, Mann!«, schreit er seinen Freund an, rennt auf ihn zu und nimmt ihn in den Schwitzkasten.

Jenna kneift mich in den Arm, nicht zu fest, nur so, wie sie es früher immer gemacht hat, als wir acht Jahre alt waren.

»Au!«

»Cameron, ich bin so wütend auf dich!«, sagt sie. »Warum bist du aus dem Krankenhaus abgehauen? Hast du all die Sachen wirklich getan?«

Ich reibe mir die schmerzende Stelle am Arm. »Das ist schwer zu erklären.«

»Versuch’s.« Sie setzt ihr geschäftsmäßiges Gesicht auf, dasjenige, welches sie in zahllosen Cheerleaderproben und Schülerparlamentswahlen vervollkommnet hat. Gegen dieses Gesicht bin ich machtlos. Ich atme tief durch und fange an. Am Ende bin ich erschöpft, und Jenna sieht aus, als ob irgendjemand heimlich ihre Wirklichkeit gegen eine andere ausgetauscht hätte. Und vermutlich ist auch genau das der Fall.

»Du weißt, dass das total irrsinnig klingt«, sagt Jenna schließlich.

Ich schüttle den Kopf. »Glaub mir, das weiß ich. Aber ich komm nicht zurück, Jenna. Ich kann nicht. Nicht jetzt.«

Die Typen blödeln immer noch herum. Der Kerl von vorhin stößt heftig gegen unseren Tisch. Dieses Mal entschuldigt er sich nicht.

»Ich muss doch sehr bitten!«, sagt Jenna und der Typ verzieht sich.

»Woher willst du wissen, dass das alles wahr ist, Cameron?«

»Ich weiß es nicht.«

»Das macht mir Angst.«

»Ja, mir auch.« Ich muss unbedingt das Thema wechseln, und zwar schnell. »Sag mal, was tust du eigentlich hier? Solltest du nicht mit dem HERRN Ski fahren gehen?«

Sie verzieht das Gesicht.

»Ich meine Chet. Manchmal verwechsle ich die zwei.«

Jenna spielt mit ihrem Strohhalm. »Chet und ich haben Schluss gemacht.«

»Oh. Tut mir leid.«

»Das tut dir nicht leid«, sagt sie und lacht.

Okay, tut mir nicht leid. Aber es tut mir leid, dass es ihr leidtut. »Er hat dich doch nicht etwa schlecht behandelt oder so was?«

Sie rollt mit den Augen. »Nein. Er hat mich nur unter Druck gesetzt. Ich sollte mehr wie er sein. Jetzt geht er mit einem Mädchen aus seiner Gemeinde. Sie mögen beide die gleichen Sachen.«

»Bist du selbst hergefahren?«, frage ich. Ich kann mir das nicht vorstellen. Dad würde das nicht erlauben und Jenna geht nirgendwohin ohne nicht wenigstens zwei weitere Mädchen im Schlepptau. Das wäre gegen ihr ganz persönliches Grundgesetz.

»Ich bin mit Staci hier und mit diesen Jungs. Mom hat gesagt, es würde mir guttun, wenn ich mal rauskäme.« Jenna trinkt einen Schluck Limo, und wir sitzen eine Minute lang einfach da und schauen irgendeiner tätowierten Angeber-Punkband in abgeschnittenen Arbeitshosen zu, die auf der Bühne herumhopst und -schreit.

»Alle sind total aufgelöst vor Sorge. Also, Cam, diese Kopfgeldjäger verstehen keinen Spaß, und Mom und Dad …«

»Ich weiß. Es tut mir leid. Ich komm zurück, sobald ich kann, und bring alles in Ordnung, das versprech ich. Du erzählst ihnen doch nichts?«

Sie wirft mir einen strengen Blick zu. Ich habe nie bemerkt, wie ähnlich sie in diesen Dingen Dad ist.

»Doch. Ich werd’s erzählen. Ich muss es tun, Cameron. Aber ich geb dir einen Vorsprung. Ich warte bis morgen, bevor ich sie wieder anrufe.«

»Damit kann ich leben«, sage ich.

Irgendjemand hat das Undenkbare getan und den Nachrichtenkanal eingestellt, auf dem unsere Story läuft. Gerade wechselt das Bild von unserem Steckbrief zu Arthur Limbaud auf den Hof seiner Schönheiten aus zweiter Hand. Er sitzt auf der Motorhaube eines seiner glänzendsten Schlitten – die Assistentin an seiner Seite – und versäumt keine Gelegenheit, sich zu präsentieren. Es spielt keine Rolle, dass der Ton leise gestellt ist. Ich weiß, was er sagt. Er erzählt ihnen was über uns und den Wagen. Sie blenden oben ein Bild des Caddys ein – jetzt sitzen wir tief in der Scheiße.

Die besoffene Idiotenband hört auf zu spielen. Eine richtige Prügelei ist ausgebrochen. Weitere Leute kommen dazu, entweder um Frieden zu stiften oder um ein paar Fausthiebe beizusteuern. Zwei Typen fallen auf unseren Tisch und die ganze Sippschaft stürzt hinterher. Ein großer Kerl im Midgard University-Shirt zieht Jenna aus dem Durcheinander. Er sieht gut aus.

»Vorsichtig«, sagt er.

»Danke«, sagt Jenna.

Er streckt die Hand aus. »Ich heiße David Morae.«

»Jenna Smith.«

»Schön, dich kennenzulernen, Jenna Smith.«

Jenna lacht und schüttelt seine Hand. Sie schenkt ihm ihre ganze Aufmerksamkeit. Das ist die Gelegenheit, mich aus dem Staub zu machen.

 

Gonzo retten, zusammenpacken und abhauen. Jetzt. Sofort. Das ist mein Plan, als ich meinen Weg durch die Horden von Partywütigen bahne, um einen eins zwanzig großen Knirps zu finden, der den lächerlichsten Schnurrbart der Welt trägt. Ich sehe ihn nirgendwo. Die Leute stehen dicht gedrängt. Ich stoße mit einer blonden Schnecke zusammen.

»’tschuldigung«, sage ich und versuche, an ihr vorbeizukommen.

»Cameron? Bist du’s? Oh. Mein. Gott.« Staci Johnson steht direkt vor mir, mit einem Plastikbecher Bier in der Hand. »Du siehst so heiß aus!« Das Nächste, was ich weiß, ist, dass Staci Johnson mich küsst und ich alles um mich herum vergesse. »Wo bist du denn gewesen?«, fragt sie.

»Nirgendwo«, sage ich.

»Willst du ein Bier?«

»Und ob.«