KAPITEL ZWEI

In dem die Grausamkeiten des Highschoollebens aufgezählt werden und mir die Kiffertypen von der Jungstoilette im dritten Stock miesen Stoff anbieten und eine Lehrstunde in Physik

 

»Wer zum Teufel ist Don Quick-Shot?« Das ist es, was Chet King wissen will.

Wir schreiben Anfang Februar und wir befinden uns im Englischunterricht, der für die meisten von uns eine qualvolle Schlaf-nicht-ein-Übung ist, während die großen Klassiker der Literatur an uns vorbeirauschen. Diese Werke – bahnbrechend, revolutionär, zeitlos – wurden von Lehrplanmonstern zu einem leicht verdaulichen Halbwahrheitsbrei püriert, den wir dann während einer Prüfung wieder auskotzen können.

Gute Punktezahlen bei Prüfungen – das beschert dem Schulbezirk die Dollarscheine, nach denen er sich sehnt. Dass der Schulstoff verstanden und geschätzt wird, ist dabei zweitrangig.

»Es heißt Don Quijote«, sagt Mr Glass und spricht das »j« als »ch« aus, wie es sich gehört.

»Don Key-ho-tay«, wiederholt Chet und übertreibt dabei die leicht weichgespülte Ausdrucksweise von Mr Glass. Seine Football-Kumpels prusten vor Lachen wie Backgroundsänger, die Anabolika geschluckt haben. Sie tragen ihre Trikots. Chet auch, obwohl er weder heute noch an irgendeinem anderen Tag jemals wieder spielen wird. Seit er sich bei einem bösen Crash auf dem Spielfeld zwei Rückenwirbel gleich unterhalb seines Halses gebrochen hat, ist unser ehemaliger All-State-Quarterback dauerhaft außer Gefecht. Ein anderer Typ hätte sich vielleicht aus Kummer über das Ende einer großartigen Sportlerkarriere die Kante gegeben. Nicht so Chet. Er wechselte zum anderen Extrem und behauptete, der Unfall sei Gottes Wille gewesen und würde ihn auf einen neuen Pfad des Lebens führen. Er gibt diese kleine Motivationsrede seither bei Kiwanis Clubabenden zum Besten, bei Pep Rallyes, in Kirchengemeinden, Jugendgruppen, zu jeder Gelegenheit also, bei der ihm Applaus und Jubel entgegenschlägt: »Gott hat mir mein Football-Stipendium genommen, aber ich bin immer noch glücklich, glücklich, glücklich.« Ich vermute, wenn die Droge deiner Wahl aus Zustimmung und Bewunderung besteht, dann ist es verdammt schwer, auf sie zu verzichten.

Jedenfalls hat es ihn ins Bett gebracht, wie ich höre. Mit verständnisvollen Cheerleadern einen horizontalen Tango hinzulegen, ist in Gottes großem Buch anscheinend genehmigt, und außerdem erschüttert es deine Wirbelsäule auch nicht so wie Football. Allerdings treibt er es mit meiner Schwester Jenna, weshalb sich mein Verständnis in Grenzen hält.

Mr Glass ist die Ruhe selbst. »Okay, setzen Sie sich. Noch hab ich Sie nicht rausgeschmissen.«

Du hast uns schon am ersten Tag rausgeschmissen, denke ich. Das ist die Art von bitterem Kommentar, den man gerne mit einem Partner, einem Freund, einem Kumpel, einem Mitverschwörer teilen würde. Wenn ich einen hätte.

»¡Hola! ¿Quién puede decirme algo sobre Miguel Cervantes?« Mrs Rector, die Spanischlehrerin der Calhoun Highschool, eilt zu Hilfe. Die Schulverwaltung hat in diesem Jahr für bestimmte Unterrichtsphasen Zweit-Lehrer verordnet. Die Idee ist, dass wir unsere Bildungserfahrungen mit Leckerbissen aus Geschichte und Literatur, Sozialkunde und Fremdsprachenkenntnissen, Chemie und Umweltkunde befruchten sollen, was sich als nützlich erweisen könnte, wenn wir den Drang verspüren, eine höchst instabile Bananencremetorte zuzubereiten.

Mrs Rector übersetzt etwas vom spanischen Text und lässt dabei das korrekte »r« rollen. Die flackernde Neonbeleuchtung sendet einen gleichmäßigen Morsecode aus: Wir haben Hunger. Alles in allem bin ich bereit, unter dem Radarschirm aus dem Klassenzimmer zu fliegen. Nur noch zehn Minuten und mich treibt es durch die Schulhaustore, an den Schulbussen vorbei, die in Linie für das Auswärtsspiel bereitstehen, schnurstracks in die Innenstadt, zu Eubie’s Hot Wax-Plattenladen, wo es CDs zum halben Preis gibt und alte Schellackplatten.

»Ist Don Quijote verrückt, oder ist es die Art, wie die Welt die Ideale des fahrenden Ritters wahrnimmt? Das ist die rhetorische Frage, die uns Cervantes zu stellen scheint. Aber für unsere Zwecke gibt es eine richtige Antwort, und Sie müssen sie wissen, wenn Sie den FUK-Test bestehen wollen«, sagt Mr Glass und zeigt an die Tafel, wo FÖRDERUNGS- UND KOMPETENZ-Test zweimal unterstrichen steht. Die monotone Stimme von Mr Glass lullt mich ein. Die Neonbeleuchtung flackert, summt und zischt. Ich lege den Kopf auf meinen Schreibtisch und das Ticken des Minutenzeigers dröhnt in meinem Ohr. Meine Augenlider werden schwer. Fast … schlafe ich ein 

Der Raum brennt. Eine Flammenwand lodert vor meinen Augen. Ich springe vom Stuhl, stoße ihn um. Mit einem lauten Krach prallt er auf den Boden.

»Mr Smith? Alles in Ordnung?«, fragt Mrs Rector.

Als ich nach vorne schaue, ist alles wie sonst. Kein Feuer. Nichts. Aber sämtliche Augen sind auf mich gerichtet – ein komisches Gefühl. Gewöhnlich bin ich berühmt dafür, dass man durch mich hindurchguckt oder drüber weg oder auf irgendetwas neben mir.

Mr Glass verschränkt die Arme. »Ja, Mr Smith?«

»Oh, nein. ’tschuldigung. Es war nur … hmm …«

Mrs Rectors gekräuselte Lippen scheinen die Worte festzuhalten: »Usted está un pendejo.«

Die Stille füllt sich mit dem Gelächter der Horde Mädchen auf der Rechten, die dazu noch ihre Kaugummiblasen platzen lassen. Allein das pulverisiert mein Ego. Irgendjemand trällert »Frrr-eak …«.

»Auf meinem Tisch war ne Kakerlake«, platze ich heraus, »ne ganz große. So groß wie’n Jeep.«

Einige der Mädchen kreischen und ziehen ihre Beine hoch. Unser amtierender Klassenclown macht schlürfende Geräusche, die den koreanischen Austauschschüler neben ihm aus der Fassung bringen.

»Netter Auftritt, Smith«, sagt einer von Chets teigigen Footballkumpels und lacht. Steve oder Knute oder Rock. Einer dieser muy macho klingenden Namen. Nicht wie »Cameron«, der eher nach Mädchen klingt.

Mrs Rector klatscht in die Hände. »Mis amigos, silencio, por favor. Beruhigen Sie sich. Señor Smith. Ich gebe Ihnen un pase de pasillo, damit Sie den el conserje finden und an Insektenspray kommen.«

»Und die anderen – bitte schlagen Sie in Ihren Prüfungsvorbereitungsbüchern Kapitel fünf auf«, bittet Mr Glass inständig, »Warum Sie Denken am Prüfungstag belasten kann«.

Ich nehme den Freigang-Pass und steuere direkt auf die Jungstoilette im dritten Stock zu. Die Gesellschaft für Konspirationstheorie & Spiele – Kiffer Kevin, Kiffer Kyle und Teilzeit-Kifferin Rachel – befindet sich an ihrem Geschäftssitz. Technisch gesehen ist Mädchen der Zutritt zu Jungstoiletten verboten, aber nachdem die Loser – einschließlich der hier erwähnten Gesellschaft – immer nur diese eine benützen, ist das kein Thema. Übrigens, Rachel ist fünfzehn, mit sechs Tattoos und sieben Piercings. Niemand gibt ihr Shit.

Vermutlich sind wir irgendeine Art von Freunden. Falls es als Zeichen von Freundschaft gilt, bekifft in Highschool-Toiletten rumzuhängen und gelegentlich in der Cafeteria an einem Tisch zu sitzen. Wir tauschen »Heys« aus, mit eingeschränktem Blickkontakt – meine bevorzugte Grußform –, und sie bieten mir etwas von dem Gras an, mit dem sie ihre Toilettenkuschelsitzung zu vernebeln versuchen, als ob nicht schon der Geruch total verräterisch wäre.

»Danke, Mann«, sage ich und nehme zwei tiefe Züge, um mich zu beruhigen. Ich wichse mir die bizarre Flammenfantasie von eben wie einen LSD-Flashback runter, nur dass ich nie LSD eingeworfen habe, weil ich es schlimm finde, freiwillig einen Ort aufzusuchen, der höllisch, furchterregend und außerhalb meiner Kontrolle ist – ein Ort also, der der Highschool ziemlich ähnlich ist.

Kiffer Kevin fängt plötzlich an zu quasseln – wie ein TV-Programm nach der Werbung. »Ich hab gerade gesagt, dass die Katze entweder tot ist oder lebendig. Sie kann ja nicht beides gleichzeitig sein.«

Rachel bläst Rauch aus dem Mund. »Falsch, Alter. Die Katze ist beides, tot und lebendig – bis du die Kiste öffnest und einen Blick drauf wirfst. Bis dahin existieren alle Möglichkeiten. Du bist der Schöpfer.«

»Hör zu, meine Freundin.« Kevin hält den Kopf unter den Wasserhahn, trinkt einen Schluck Wasser und wischt sich den Mund an seinem Frank-Zappa-Shirt ab. »Ich denk mir nicht die Gesetze der Quantenmechanik aus – ich spiel nur nach ihnen.«

Rachel reicht mir den Joint rüber und schaut mich an. »Du weißt doch, was mit Schrödingers Katze passiert ist, oder?«

Ich zucke mit der Schulter.

»Auuu, Alter«, tönen die drei aus einem Mund.

Kyles Augen sind zu Schlitzen zusammengezogen und blutunterlaufen. Er grinst. »Das wird dich umhauen! Also, dieser Wissenschaftlertyp, Schrödinger, hat ein voll irres Gedankenexperiment in Quantenmechanik gemacht, wo er ja absolut fit ist. ›Hey, was passiert, wenn man eine Katze in eine abgedichtete Kiste mit, sagen wir, einer radioaktiven Substanz …‹«

»Nicht, dass du deine Katze wirklich in eine Kiste mit Gift steckst. Es ist ja nur ein Gedankenexperiment«, betont Rachel.

»… und das Atom zerfällt entweder und die Katze stirbt – oder auch nicht. Bis du die Kiste öffnest und nachsiehst, ist alles wahrscheinlich.«

»Falsch«, sagt Kevin. »Du versteifst dich auf den Status des Beobachters. Du verursachst nicht das Ergebnis, du gestaltest nicht die Wirklichkeit. Sei ehrlich – entweder lebt die Katze oder sie ist tot.«

Rachel schnäuzt sich in ein Papierhandtuch. »Wenn im Wald ein Baum umfällt und niemand ist da, der’s hört – gibt es dann ein Geräusch?«

»Ich dachte, es heißt ›Wenn ein Bär in den Wald scheißt‹?«, sagt Kyle.

»Du kannst einen Bären im Wald nicht scheißen hören«, beharrt Kevin.

»Woher willst du das wissen? Hast du jemals einen Bären scheißen hören? Vielleicht macht er dabei ziemlich viel Lärm.«

»Alter, du verstehst nicht, worum’s geht.« Rachel wirft das zerknüllte Papierhandtuch. Sie verfehlt den Mülleimer und das Knäuel rollt unters Waschbecken. »Entscheidend sind Wahrscheinlichkeit und Wirklichkeit. Und hier kommen Parallelwelten ins Spiel. Die Wirklichkeit spaltet sich in zwei mögliche Ergebnisse: eins, in dem die Katze lebt; ein anderes, in dem die Katze stirbt. Jede Wahl, die du triffst, schafft eine andere Welt mit einer anderen Wirklichkeit.«

»Du willst also damit sagen, dass, wenn das Kätzchen in unserer Realität stirbt – bumm! –, eine andere Realität entsteht, in der es Miezilein gut geht und es in der Garage Mäuse jagt?« Kyle streift sich sein langes, strähniges Blondhaar hinters Ohr.

»Genau.«

In einer der Kabinen rauscht die Wasserspülung. Seltsam, ich hab niemanden reinkommen hören und sehe auch kein Paar Füße unter der Tür. Die Tür wird aufgestoßen, ein wirklich kleiner Kerl mit Afrolook kommt herausgewalzt und schiebt seine Hemdsärmel hoch. Ich brauch eine Minute, bevor ich kapiere, dass er ein Kleinwüchsiger ist. Er drückt ein paarmal fest auf den Seifenspender.

»Keine Seife da? Wollt ihr mich verarschen? Das ist ein Verstoß gegen die Regeln der Krankheitsprävention – absolut unhygienisch!«

Kiffer Kyle wedelt mit der Hand vor der Nase. »Unhygienisch ist das, was du da drin verzapft hast, Gonzo.«

Der Gonzokerl watschelt hinüber zum alten Fenster und haut die Scheibe ein. »Ihr Typen solltet mich nicht mit diesem Shit einnebeln. Ich hab euch gesagt, dass ich Asthmatiker bin.«

Rachel zuckt mit den Schultern. »Ey, Kumpel, das ist die offizielle Smokers Lounge. Such dir ein anderes Scheißhaus.«

Kumpelchen erwischt mich dabei, wie ich ihn anglotze, und ich spüre, wie ich rot werde. Hoffentlich habe ich ihn nicht wütend gemacht; es ist nur so, dass ich das erste Mal einen Zwerg sehe.

Kevin stellt uns vor. »Gonzo, Cameron. Cameron, der Gonzman.«

Gonzo geht direkt auf mich zu, verschränkt die Arme vor der Brust und mustert mich von Kopf bis Fuß, messerscharf, Zentimeter für Zentimeter – und das Orchester stimmt sich ein auf die Musicaldance-Nummer. »Du bist’n Zocker?«

»Manchmal.«

»Huh«, sagt er und checkt mich weiter.

Kevin träufelt sich vor dem Spiegel Tropfen in die Augen. »Gonzo will heute die Captain Carnage-Bestmarke in der Spielhalle toppen.«

»Oh«, entfährt es mir gerade noch. »Cool.«

»Ey, was’n das?« Gonzo nickt Richtung Flur, zu einer Holzplatte, die mit etwas beschmiert ist, das aussieht wie ein eigenartiges Sandkunstwerk. Was immer es ist, es ist potthässlich.

»Das? Das ist ein Projekt in Sozialkunde, das mir die Sommerschule ersparen wird.« Kyle hält es in die Höhe, um es zu untersuchen.

Gonzo legt den Kopf schief. »Was zum Teufel ist das?«

Kyle schnaubt. »Hallooo? Das ist Stonehenge.«

»Sieht mir eher nach Shithenge aus«, sagt Gonzo und dreht sich weg.

Rachel und Kevin brechen in Gelächter aus. »Oh mein Gott. Das ist es! Alter, das ist das totale Shithenge!«, sagt Rachel.

»Schnauze, Leute«, murmelt Kyle.

»Hey«, sagt Gonzo und klatscht mit der Hand gegen die Tür, gerade als ich mich hinausschleichen will. »Du solltest heute mit uns spielen gehen. Das wird der Wahnsinn.«

»Gonzo – der Herrscher über Captain Carnage!«, ruft Kevin, während er prustet und kichert.

»Weil ich mir immer die Karte schnappe, die mich unverwundbar macht. Du nimmst dir diese Karte und bist für ein paar Levels unsterblich.«

»Sorry, Mann, geht nicht«, lüge ich. »Ich hab da diese … Sache am Laufen. Nach der Schule, weißt du.«

Er weiß, dass ich nur Scheiße labere, aber er nickt. Ich nicke. Da haben wir’s.

»Shithenge«, wiehert Kevin. »Ey, Alter, du bist so was von abgedreht!«

»Halt’s Maul, Mann!«

Gonzo zieht seine Hand weg. »Sicher. Kein Problem. Ich krieg dich das nächste Mal.« Er will sich mit einem Faustschlag verabschieden, so wie sich’s für Toilettenkiffer gehört. Ich winke ihm eine Art Grußzeichen zu, was aber mehr danach aussieht, als hielte ich ein Stoppschild in der Hand. Unsere Hände rutschen in einer tollpatschigen Faustschlag/Wink-Karambolage aneinander vorbei. Und dann bin ich draußen.