Handelt davon, was passiert, wenn Balder seinen Tag am Strand verbringt
Nachdem wir uns mit Salzstangen und Limo aus dem Minimarkt versorgt und unsere Sachen gepackt haben, sind wir abfahrbereit. Drew hat es geschafft, den Caddy zu richten, aber der Wagen sieht mitgenommen aus. Er ist total mit Sand und Straßenstaub verklebt. Quer über die Heckscheibe hat jemand mit den Fingern WASCH MICH geschrieben. Ich wünschte, der Wagen wäre mit noch mehr Staub verkrustet. Wahrscheinlich hält jeder Cop in Florida inzwischen Ausschau nach ihm. Gonzo streicht mit der Hand über seinen Irokesen und schaut auf das Foto von Drew vor dem Partyhaus, das Balder von ihm gemacht hat.
»Hey, weißt du, du musst nicht mit mir mitkommen«, sage ich. »Kein Problem, wenn du den Rest der Frühlingsferien hier verbringen willst.«
»Er hat meine E-Mail-Adresse und meine Handynummer und alles.«
»Scheint ein toller Typ zu sein«, sage ich.
»Ist er«, sagt Gonzo mit einem leichten Seufzer.
»Bist du sicher, dass du nicht bleiben willst?«
Gonzo stößt mir den Ellbogen in die Seite. Ich stupse zurück. Er stößt mich wieder, bis ich »Au« schreie.
»Ich bin dein Beifahrer«, sagt er, »zu deinem Schutz.«
Ich nicke. Wir stehen da und beobachten Balder, wie er Drew, der immer kleiner wird, Anweisungen hinterherbellt, bis ich weiß, dass Drews Kopf nichts weiter sein wird als ein kleiner Punkt in der linken Ecke des Fotos.
Hinter einem grünen Kombi steht Dulcie und winkt mir zu. Ich stehle mich von meinen Freunden weg und gehe zu ihr. »Kommst du mit?«
»Ich hol euch ein«, antwortet sie. Als ich enttäuscht gucke, fügt sie hinzu: »Mach dir keine Sorgen, ich bleib in eurer Nähe.«
»Weil ich der harte Typ bin, der das Universum gerettet hat, stimmt’s, Prinzessin?« In der Erwartung, eine geklatscht zu bekommen, nehme ich Haltung an.
»Ja.« Sie lacht und küsst mich auf die Nase. »So was Ähnliches.«
Damals in der Sackgasse habe ich Balder versprochen, dass wir ihn zum Meer bringen, um die Ringhorn aufzustöbern und ihm so die Rückkehr in seine eigene Welt zu ermöglichen. Ich wusste nicht, dass uns so wenig Zeit bleiben würde. Mein E-Ticket zeigt den letzten Streifen an – Tomorrowland –, und der verblasst bereits.
»Mach dir wegen mir keine Sorgen, Cameron. Du musst tun, was für deine Mission richtig ist«, sagt Balder mit stoischem Gesichtsausdruck.
Gonzo gibt ihm einen kleinen Klaps auf den Rücken. »Du kannst bei uns bleiben, Alter. Ich könnte dir das Captain Carnage-Spiel beibringen.«
»Klar. Danke«, sagt Balder und versucht zu lächeln. Aber in seinen Augen kann ich das Heimweh sehen, und wir sind am Strand, genau in diesem Augenblick und genau hier. »Wer möchte in der Brandung baden?«, frage ich.
Balders Augen leuchten auf. »Aber deine Mission, Cameron?«
»Die kann noch ein paar Stunden warten«, lüge ich.
»Wenn ich einst wieder in der Gesellschaft von Odin und Freya bin, werde ich ihnen von den beiden tapfersten Seelen erzählen, die ich je getroffen habe. Eure Namen werden in der goldenen Halle der Götter erklingen«, sagt Balder und schnieft ein bisschen.
»Erzähl ihnen nur nicht, dass du deine Runen in der Nähe deiner Zwergenweichteile aufbewahrst, Amigo«, witzelt Gonzo. »Das ist nämlich wirklich abstoßend.«
Wir fahren ein paar Meilen am Meer entlang, bis zu einem ruhigen Strandabschnitt. Keine Collegezecher weit und breit. Nur ein paar Familien mit Kindern wärmen sich in der Spätnachmittagssonne und ein Handvoll alter Leute, die in ihren Strandkörben lagern. Wir lassen uns weit von ihnen entfernt nieder, obwohl sie uns keinerlei Beachtung schenken. Sie genießen ihre eigenen Tagträume vom Paradies.
Balder ist wieder in seine Surferkluft geschlüpft. Er zieht seine Badelatschen aus und watet bis zum Saum des Wassers. Eine Welle überspült seine Zehen.
»Wahnsinn!«, ruft Balder. Ich habe ihn noch nie so glücklich gesehen. »Das ist … grandios!« Er legt die Hand über die Augen, um nicht geblendet zu werden, und hält nach seinem Schiff Ausschau.
Ich hebe ein Stück Treibholz auf, das an den Strand gespült wurde, und schreibe damit meinen Namen in den Sand. Die Ausläufer der Wellen fließen darüber und formen aus dem Namen irgendein neues Wort, bevor sie auch das völlig wegwischen. Ich benütze das Holz als Spazierstock, wandere am Strand entlang, träume von Dulcie, wie sich ihre Flügel anfühlten, geschmeidig und sanft, mit Ausnahme von Schaft und Kiel in jeder Feder. In diese samtigen Flaumfedern eingekuschelt zu sein, gab mir ein Gefühl von Geborgenheit und Freiheit in einem – etwas kaum Zerstörbares. Hunderte dieser Federn breiteten sich fächerförmig um mich aus, wie der sanfteste und unglaublichste aller Mäntel. Zu wissen, dass Dulcie in dieser Welt ist, zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht. Das ist alles.
Eine Feder landet auf meinem Kopf, dann folgt noch eine und noch eine. Wie Schneeflocken fallen die Federn vom Himmel. Federn aus einer gigantischen Kissenschlacht bedecken meine Haut, den Strand, das Wasser – bis ich nichts weiter tun kann, als herumzuwirbeln und den Federschnee anzulachen – wie eine Figur in meiner eigenen zerbrochenen Schneekugelwelt.
Wir bleiben länger, als wir vermutlich bleiben sollten. Der Tag vergeht mit Reden und Wahnsinnssandburgen-Bauen und Balder Wellenreiten lassen. Das unbeschwerte Zusammensein war einfach so schön, dass ich mir wünsche, es ginge nie zu Ende. Jetzt steht die Sonne schon tief am Himmel, und Gonzo und ich sitzen im Sand, während Balder gerade den Bau eines Festungsgrabens um seine Sandburg beendet. Er wartet auf die Ringhorn, die, wie er uns versichert, mit der Abendflut kommen wird.
»Wir warten noch dreißig Minuten«, teile ich ihm mit.
»Sie wird kommen«, beharrt Balder und schaut wieder aufs Meer.
»Hey, wollt ihr sehen, ob wir uneingeladen da an der Tacobude mitmischen können?« Gonzo nickt in Richtung einer kleinen Party, die rechts von uns in Gang gekommen ist.
»Nee«, sage ich.
Eine kleine Welle schwappt über meine Zehen und zieht sich wieder zurück. Der Sand fühlt sich weich an und saugt an meinen Füßen. Auf einer Düne versammeln sich Möwen und picken an einem Stück Brot. Ein altes Pärchen hat seine Strandstühle in der Nähe der Promenade platziert. Der Wind dreht sich und trägt die Geräusche eines Volleyballspiels den Strand entlang.
»Sieht so aus, als ob wir irgendwas tun sollten«, sagt Gonzo.
»Wir tun was.«
»Ja. Vermutlich.«
Wir sitzen da, Gonzo und ich, und starren hinaus auf diesen unermesslichen Ozean. Wir beobachten einfach nur die Farben des Himmels, wie sie ins Meer tröpfeln, süß und stark, wie etwas, das dich am Leben hält, wenn sonst nichts mehr da ist.
Vielleicht gibt es ja, wie sie sagen, einen Himmel, einen Ort, wo alles, was wir je getan haben, dokumentiert ist und auf der großen Karmawaage gewogen wurde. Vielleicht gibt es ihn auch nicht. Vielleicht ist dieses ganze Lebensding nur ein gigantisches Experiment von Aliens, die unser menschliches Halligalli irgendwie amüsant finden. Oder vielleicht sind wir das stillgelegte Projekt eines göttlichen Wesens, das bereits vor langer Zeit aus dem Programm ausgestiegen ist. Und wir sind immer noch zu starrköpfig, das zu glauben, und versuchen, dem scheinbaren Zufall einen Sinn zu geben. Vielleicht sind wir alle Teilchen derselben Ursuppe, ohne Bewusstsein, träumen dieselben Träume, teilen dieselben Hoffnungen, brauchen dieselben menschlichen Bindungen, versuchen sie zu knüpfen, scheitern, versuchen es noch einmal; und jeder von uns spielt seine Rolle in den Handlungssträngen der anderen – ein einziges großes, in sich verheddertes menschliches Garnknäuel. Vielleicht sind wir das.
Oder vielleicht ist was Wahres dran an dem, was Junior über diese singenden schwarzen Löcher erzählt hat, über dieses B-Dur? Vielleicht sind das die letzten Töne, die wir von uns geben, bevor wir wieder Teilchen des Universums werden, als ob wir damit sagen wollten: »Ich war hier. Ein letztes Huu-huu!«, bevor wir in die unendlichen Weiten gezogen werden, in das dunkle Unbekannte einer anderen Galaxie, wo wir die Chance haben, alles anders zu machen. Ich weiß es nicht. Trotzdem sollten wir da mal drüber nachdenken.
»Das ist ganz schön beschissen, Alter«, sagt Gonz und schenkt mir dieses große, liebenswert schiefe Grinsen.
Ich weiß, was er damit meint, und ich würde gern darauf antworten, aber ich finde keine Worte dafür, wie haarsträubend das alles ist, noch haarsträubender als die Bemühung, den Himmel zu vermessen. Ich bin so glücklich, genau jetzt an diesem Ort zu sein und an keinem anderen. Gleichzeitig weiß ich, dass dieses Gefühl nicht andauern wird. Tränen brennen mir in den Augen, und ich drehe mich weg, damit Gonzo sie nicht sieht.
»Hey, guck mal«, verkündet Gonzo. »Dieser Wagen wird angetrieben vom Zwerg des Schicksals!«
Ich wische mir die Tränen am Oberarm ab. »Alle sagen, dass du paranoid bist.«
»Im Nordischen mag man die Dinge gerne wyrd, schicksalsträchtig«, klinkt sich Balder ein.
»Der war gut«, sagt Gonzo und kichert.
»Befreit die Schneekugeln!«, schreie ich zum Himmel.
»Be-freit die Schneekugeln, be-freit die Schneekugeln, be-freit die Schneekugeln …« Balder verfällt in einen rhythmischen Gesang, und wir stimmen ein, bis wir vor lauter Lachen nicht mehr können.
Der Augenblick geht vorüber. Jetzt sind wir irgendwo anders, und das ist auch okay. Aber tief drinnen, in unserer Erinnerung, ist dieser einzigartige Augenblick aufgehoben und sickert durch bis in unsere DNA. Und wenn unsere Zellen eines Tages zerstreut werden, wann immer das auch geschehen mag, wird dieser Augenblick in ihnen weiterleben. Diese Zellen könnten der Baustein für irgendetwas Neues sein. Für einen Planeten oder für einen Stern oder für eine Sonnenblume oder für ein Baby. Vielleicht auch für eine Kakerlake. Wer weiß das schon? Was immer es ist: Dieser Augenblick hier und jetzt wird ein Teil von uns bleiben und wir werden ein Teil von ihm sein.
Und wenn’s nun tatsächlich eine Kakerlake wird? Na ja, dann wird das die glücklichste Scheißkakerlake auf dem gesamten Planeten sein. Das kannst du mir glauben!