Ich kann nicht mehr!

Es ist November 2000 und ich bin wieder einmal in stationärer Behandlung.

Jetzt bin ich 48 Jahre alt. Zweimal geschieden und lebe seit 1989 mit meinem Lebensgefährten zusammen. Leben ist gut gesagt, denn allein in den letzten zehn Jahren war ich fast ein Drittel der Zeit in stationärer Behandlung in der Psychiatrie. In den Zeiten zu Hause habe ich mich nach kurzer Zeit immer wieder wie tot gefühlt, leer und taub. Schnell nach der Zeit der Entlassung ging es immer wieder bergab. Nur noch auf Arbeit kam ich zurecht, konnte meine Arbeit so erledigen, dass jeder denkt, mir geht es super, doch nach Feierabend zuhause, ging nichts mehr. Die Wäsche fing an sich zu stapeln, die Wohnung konnte ich nur noch in größeren Abständen in Ordnung bringen, zu mehr reichte meine Kraft nicht mehr aus.

 Wichtig war ja, dass auf Arbeit alles lief und meine Leistung da in Ordnung war und keiner was auszusetzen hatte. Zuletzt habe ich nur noch für die Arbeit gelebt, bis dafür die Kraft auch nicht mehr ausreichte und ich so fertig war, dass ich einen Zusammenbruch erlitt und mich Krankschreiben lassen musste. Ich war nicht mehr in der Lage, meinen Haushalt zu schaffen. Konnte sehen, was zu tun ist, konnte mich aber nicht bewegen. Wie starr war ich. Ich war lebendig tot, hatte keine Kraft mehr zu funktionieren, habe nur noch dagesessen und gestarrt, nichts mehr gefühlt. Traurig war ich – ja, das stimmt. Aber warum ich traurig war, hätte ich nicht sagen können. Es war, als hätte alles keinen Sinn. Das Leben – wofür? – Ich wollte nicht mehr, konnte nicht mehr!

Schon in der Lehrzeit fing es an, dass es mir nicht gut ging. Zumindest soweit ich mich bis jetzt an diese Zeit zurückerinnern kann. Viel weiß ich nicht mehr – es kommen immer wieder Teile dieser Zeit in meine Erinnerung zurück und es sind Erinnerungen, die mir sagen, dass es mir nie gut ging, dass ich mich immer so gefühlt habe – einsam, traurig, leer, wie tot eben.

Ich war, soweit ich mich zurückerinnern kann, wie eine Batterie, die sich immer wieder aufladen musste. Fast ein halbes Jahr konnte ich super arbeiten und dann kam eine Krise, irgendeine Kleinigkeit, eine Ungerechtigkeit (so sehe ich es heute), die mich total aus der Bahn geworfen hat. Ich hatte dann jedes Mal einen Nervenzusammenbruch, habe nur noch geheult, hatte Kopfschmerzen ohne Ende und war nicht in der Lage zu Arbeiten über längere Zeit (meistens so 8 bis 10 Wochen), dann ging es wieder wie vorher weiter, bis zum nächsten Nervenzusammenbruch. Heute weiß ich, dass es nicht diese Dinge, die damals passierten waren, sondern, dass ich einfach keine Kraft mehr hatte zu funktionieren und irgendein kleiner Anlass mich dann total umwerfen konnte. Damals aber wusste ich nicht, warum und was da mit mir los ist. Ich hätte nicht sagen können, wieso ich kaputt war und mich am liebsten umgebracht hätte und habe dies auch oft versucht, ohne das es mir je gelungen ist oder das es jemand bemerkt hätte.

Ja, ich wusste immer, was mir passiert ist. Aber nur das „Einfache“. Ich wusste, das ist mir passiert und der, der, der und der usw. haben das mit mir gemacht. Aber es war so, als wüsste ich gar nichts. So als ginge es mich nichts an, betraf mich nicht. Es hat mich überhaupt nicht berührt. Doch, es hat mich berührt. Ich habe mich nie normal gefühlt. Ich habe mich immer geschämt, schmutzig und falsch gefühlt, weil keiner wusste, wie schlecht ich wirklich bin und weil ich dachte, ich belüge alle, weil ich immer versucht habe, mich genauso, wie alle Anderen, also „normal“ zu verhalten. Normal zu funktionieren, normal zu reagieren.

Das wusste ich schon, doch den Zusammenhang habe ich nicht erkennen können.

Während meiner Lehrzeit fing es an, dass es mir nicht gut ging. Ich war immer müde, hatte Kopfschmerzen und wollte nicht mehr leben. Ich wusste nicht, was mit mir los ist, ich hätte es nicht sagen können. Nach dem Abschluss der Lehrzeit war ich dann fast ein ganzes Jahr in der Psychiatrie. Erst in einem normalen Krankenhaus und dann in einer Anstalt am Rande der Stadt.

Ich durfte nicht raus aus der Klinik, nur in den Garten, der ringsum eine hohe Mauer hatte. Später war mir dann natürlich klar, dass es sich hierbei um eine geschlossene Anstalt handelte. Aber das sagte mir zu diesem Zeitpunkt niemand. Es gab da keine Therapiegespräche, nur Medikamente (Faustan).

An den Kopfschmerzen hat sich nichts geändert und ich war immer traurig, habe geweint, wusste aber nicht, warum. Es wurde auch nicht danach gefragt. Irgendwann wurde ich wieder entlassen – es ging mir noch genauso schlecht. In dieser Zeit haben mein Vater und meine Stiefmutter mich nie besucht, nicht ein einziges Mal.

Ich glaube, es war selbstverständlich so für mich. Es ist mir gar nicht aufgefallen und hat mir nicht gefehlt, dass sie nicht kamen. Meine Wäsche wurde in der Klinik versorgt, nein, ich glaube, ich habe sie immer im Waschbecken gewaschen und auf der Heizung getrocknet. Ich war damals fast ein Jahr dort, obwohl mir im Nachhinein der Zeitraum nicht real erscheint, ich habe die Zeit gar nicht wahrgenommen. Mir war alles egal – ich habe nicht gelebt, ich habe nur existiert. Ich kann von diesem Jahr nichts erzählen, es ist wie eine leere Zeit, ich weiß nicht, wer noch dort war. Ich kann mich an kein Personal erinnern. Ich habe soviel Faustan bekommen, dass ich einfach nichts mitbekam. Mir war alles egal, nichts hat mir gefehlt, nichts habe ich vermisst. Da war der Garten, das Zimmer mit Bett, Tisch und Stuhl und Waschbecken. Ich habe nichts vermisst, was hätte ich vermissen sollen?

Als ich entlassen wurde und wieder heimkam, ging es so weiter, wie vorher. Ich bin wieder auf Arbeit gegangen und habe so getan, als wäre alles normal, als wäre ich normal – angepasst an das Verhalten der Anderen eben – alles so machen, wie es erwartet wird und so tun, als ginge es mir gut. Ich habe so getan, als wäre mein Leben normal.

Es war nicht normal!

Jeden Abend, wenn mein Vater aus der Kneipe kam, brachte er irgendwelche Saufkumpane mit. Alles Kerle, die sich noch umsonst weiter voll laufen lassen wollten und mein Vater hatte ja immer genug von dem Saufzeug im Haus. Alte Kerle, junge Kerle, manche kannte ich, die meisten nicht. War ja auch völlig egal – ich wollte niemand davon kennenlernen. Meine Stiefmutter ging immer ins Bett, wenn es ihr zuviel wurde, wenn die Kerle zu voll waren und anzüglich wurden, dann holte mein Vater mich aus dem Bett, damit ich seine „Gäste“ bedienen sollte (Aschenbecher leer machen, Bier und Schnaps auffüllen, was zu Essen vorsetzen.) Meine Stiefmutter hat es nicht interessiert, dass er mich aus dem Bett holte, wenn die besoffenen Kerle im Haus waren – es war ihr egal, Hauptsache, sie hatte ihre Ruhe. Sie musste nicht am nächsten Tag auf Arbeit oder früh in die Lehre, sie konnte ausschlafen. Mein Vater auch, er hatte sich selbständig gemacht und so konnte er erscheinen, wann er es für richtig fand und das war meist erst so gegen Mittag, wenn er wieder nüchtern war. Die Beiden konnten also schön schlafen und ich musste müde und nach Rauch stinkend auf Arbeit. Für meinen Vater war das ein Spaß, er führte mich vor, wie auf dem Jahrmarkt- gute Hausfrau, gute Köchin und mit Sicherheit auch gut im Bett. Diese besoffenen Schweine versuchten dann natürlich meist etwas mit mir anzufangen, mich voll quatschen, mich betatschen und ich hatte alle Mühe, mich in Sicherheit zu bringen oder mich zu wehren.

Ich wollte nicht so werden, wie mein Vater es mir immer sagte, wie ich sei, eben schlecht, liederlich, nuttig und genau, wie meine Mutter. Er sagte mir ja jeden Tag, wie schlecht ich doch bin und dass ich mit jedem, der mir über den Weg laufen würde, rummachen würde. Es stimmte nicht und das wusste er sehr genau, denn wie sollte ich überhaupt mit irgendjemand außerhalb der Schule reden, wenn ich nur zu Hause eingesperrt war und nirgends hin durfte. Er selbst war bekannt dafür, dass er jedem Weiberrock im Ort hinterherlief. Ich kannte das Gerede aus der Schule und meine Stiefmutter hat sich auch oft genug bei mir über ihn beklagt. Natürlich hat da jeder gedacht, die Tochter ist genau wie der Vater, gut zum Amüsieren, aber nichts Anständiges.

Eins wusste ich aber, mein Vater hat mit Sicherheit nicht erzählt, was er mir die ganze Zeit antat, das wussten die also nicht, doch trotzdem fühlte ich mich so, wie mein Vater mich versuchte darzustellen. Ja, das wussten diese geilen Schweine nicht und ich habe es geschafft, keinen von denen an mich heran zulassen. Wie ich das geschafft habe, weiß ich nicht. Ich weiß nur, er sollte nicht gewinnen, sollte mir nicht beweisen, wie schlecht ich bin – ich wusste es schon – nur die Anderen wussten es nicht. Heute sehe ich das aus einer anderen Sicht.

Mein Vater konnte nur durch mein Schweigen und dadurch, dass er mir die Schuld gab, so mit mir umgehen. Ich war nicht diejenige, die schlecht war, ich war nur nicht in der Lage, mich gegen ihn zu wehren, aber ich war dazu in der Lage, mich dagegen zu wehren, dass er mich öffentlich schlecht machte. Ich wehrte mich dagegen, dass er meine Fassade zerstörte. Das ich mich schlecht, dreckig und für jeden zu haben fühlte, das schaffte er schon, nur keiner sollte das merken, wie ich mich fühlte – ich musste nach außen hin „normal“ sein. Es war schlimm, nachts immer aus dem Bett geholt zu werden, um Besoffene zu bewirten und aufzupassen, dass mir keiner zu nahe kommt und morgens dann auf Arbeit erscheinen und frisch und munter meine Arbeit machen. Ich wusste auch, die Chefs auf Arbeit kennen meinen Vater, saufen manchmal mit ihm, halten nicht viel von ihm und tun doch so, als gehöre er dazu, weil er ja selbständiger Handwerker war und deshalb wurde er akzeptiert, egal, wie er sich benahm. Ich hatte deswegen auch Angst, die halten nicht viel von mir und ich muss besonders gut aufpassen, dass ich keinen Fehler mache und keiner etwas merkt, wenn ich müde bin. Und ich war müde, hatte Kopfschmerzen, hatte Angst irgendjemand erzählt von den Nächten, die er bei uns zubringt und prahlt, irgendetwas mit mir zu haben. Ich habe mich für diese Nächte, die ich mit den Besoffenen zubringen musste geschämt und immer gehofft, es erfährt niemand, schon gar nicht auf Arbeit. Ob es je ein Kollege erfahren hat, ich weiß es nicht – es wurde jedenfalls nie etwas gesagt oder angesprochen.

Es ging mir mit der Zeit immer schlechter, weil ich zuwenig Schlaf bekam und auch Angst hatte, entdeckt zu werden. Ich war so kaputt und habe es vor Kopfschmerzen nicht mehr ausgehalten, dass ich nicht mehr arbeiten konnte. Es hieß ganz einfach, die Nerven und ein bisschen Ruhe und dann wird es schon wieder werden. Ich war erst ein dreiviertel Jahr aus der Psychiatrie entlassen und nun schon wieder am Ende meiner Kräfte, ich konnte nicht mehr!

Während dieser Zeit lernte ich meinen zukünftigen ersten Ehemann, der als Monteur zeitweise in unserem Betrieb arbeitete, kennen. Wir sprachen in den Pausen ab und zu miteinander und es passierte, dass wir uns „rein zufällig“ immer öfter in den Pausen trafen und uns unterhielten. Ich hatte keine Erfahrung mit Männern oder Jungen in meinem Alter und fand, es war nichts dabei, sich zu unterhalten und mehr war es auch nie. Es war nichts zwischen uns und das fand ich schön.

Da war jemand, der ganz normal mit mir redete und nichts von mir wollte! Es tat gut, mit ihm zu reden und sich so zu fühlen, als sei man ein Mädchen, wie jedes Andere – eben normal. Ich hatte schon die ganze Zeit über Angst, er merkt, was für Eine ich bin und es ist aus und er schaut mich nicht mehr an und redet nicht mehr mit mir.

Ich dachte sowieso, wenn er erfährt, wer mein Vater ist, dann will er von mir nichts mehr wissen. Na ja, die Sorgen brauchte ich mir nicht lange zu machen. Es ging mir ja wieder so schlecht, dass ich nicht mehr arbeiten konnte und ihn somit auch nicht mehr traf. War auch nicht wichtig. Ich war also wieder krankgeschrieben und wurde dann nach einiger Zeit auch wieder in die Psychiatrie eingewiesen, weil ich nicht mehr leben wollte. Es war ja auch kein Leben, ich fühlte mich so kaputt, so leer, so tot und wollte tot sein. Therapie gab es keine, nur wieder Tabletten (Faustan) bis zum Umfallen. Keine Kraft, nur müde, Kopfschmerzen und ein Gefühl, als wäre ich lebendig tot.

Wegen der ständigen Kopfschmerzen wurde auch eine Untersuchung wegen Tumorverdacht durchgeführt „Lumbalpunktion“ so nannten es die Schwestern. Ich sollte also morgen dran kommen mit dieser Untersuchung. Die Liquorflüssigkeit, welche das Gehirn schützt, wurde über die Lendenwirbelsäule mit einer Spritze abgezogen, damit ohne die Liquorflüssigkeit eine bessere Röntgenaufnahme des Gehirns möglich ist. Diese Untersuchung war einfach nur grauenhaft und die Schmerzen unbeschreiblich. Ich musste mich rittlings auf einen Stuhl setzen, den Oberkörper über die Stuhllehne beugen und den Rücken so krumm, wie möglich machen, damit der Arzt gut zwischen die Wirbel einstechen konnte und die Flüssigkeit mit der Spritze abziehen konnte. Es gab keine Narkose und ich spürte ganz deutlich, wie weit die Flüssigkeit abgezogen war, denn genauso machte sich der Schmerz breit. Es war einfach nur schlimm, ich habe dann nur noch geschrieen und bin irgendwann ohnmächtig geworden.

Dann war es vorbei. Jetzt musste ich nur noch 48 Stunden auf dem Rücken liegen und durfte den Kopf nicht bewegen. In dieser Zeit erneuert sich nämlich die Flüssigkeit und das Gehirn ist wieder geschützt. Mir war so hundeübel und ich konnte nichts dagegen tun oder bekam etwas dagegen. Schlimm war und unvergessen wird mir bleiben, ich musste mich übergeben und durfte den Kopf nicht bewegen. Mein Kopf lag im Erbrochenen. Es stank ekelhaft und ich hatte das Gesicht und die Haare voll mit dem Zeug. Ich habe nach der Schwester geklingelt, sie kam ins Zimmer, sah, was los ist und meinte, sie käme gleich wieder. Nach fast 3 Stunden war bei ihr „gleich.“ Also lag ich fast 3 Stunden in meiner Kotze. Mir war schlecht, ich hatte Schmerzen und habe vor Verzweiflung und Ekel geheult. Sie hätte mir doch wenigstens ein feuchtes Tuch geben können, damit ich mich Selbst ein bisschen saubermachen konnte, denn alles klebte und stank fürchterlich. Nichts. Nach 3 Stunden wurde dann das Laken gewechselt und das Kissen frisch gemacht. Nur mein Gesicht und die Haare blieben so, wie sie waren – dreckig und voll Kotze. Ich habe mich nicht getraut, etwas zu sagen – morgen kann ich mich ja dann selber saubermachen, wenn ich wieder aufstehen kann. Die 48 Stunden gingen vorbei und ich durfte mich wieder bewegen, endlich aufsetzen und mich waschen Es war also überstanden, ich habe es überlebt, vergessen und vorbei. Das Ergebnis dieser ganzen Prozedur „kein Befund.“ Also, logisch, kein Befund – keine Kopfschmerzen. Es kam soweit, dass man mir sagte, simulieren sei wohl meine große Stärke. Ich wurde entlassen.

Ich war ja auch froh wegen des Befundes. Nur, was nutzte es mir, die Kopfschmerzen hatte ich immer noch. Ich wurde entlassen mit dem „heißen Tipp“ mich doch zusammenzureißen und nicht so gehen zu lassen. Es passierte aber doch etwas Ungewöhnliches! Ich habe nie auch nur ein Wort darüber verloren, mit niemandem darüber gesprochen. Es hat für mich gar nicht existiert, dass mein Vater die ganze Zeit, seit ich bei ihm wohnen musste, also seit ich 13 Jahre alt war, immer wenn er Zeit hatte und keiner es mitkriegte, sich an mir verging. Gewusst habe ich es schon, aber ich habe es nicht gespürt, nicht gefühlt. Es hat nicht so existiert, dass es mich betraf oder es war so, als würde ich denken, gestern hat es geregnet, morgen regnet es vielleicht wieder. Ich habe das Schlimme daran nicht bewusst gespürt. Ich habe nur meinen Vater (meinen leiblichen Vater) gehasst und zwar, weil er meine Mutti immer schlecht machte, nicht, weil er mich schlecht machte. Ich dachte, ich bin schlecht. Ich hatte in der Psychiatrie mit keinem darüber gesprochen, bin auch nie auf den Gedanken gekommen, dass es mir deswegen so schlecht gehen könnte. Ich habe also kein Wort gesagt. Und doch sprach einer der Ärzte, die mich behandelten damals mit Jürgen, meinem damaligen Bekannten (der Monteur aus dem Betrieb) als dieser mich bei meiner Entlassung abholte. Wir waren damals noch nicht zusammen. Er hatte sich aber im Betrieb nach mir erkundigt. Und so erfahren, wo ich bin und er war der Einzige, der mich in dieser Zeit besuchte. Meine Wäsche nahm er mit und brachte sie mir sauber wieder zurück, teilweise kaufte er mir auch Dinge (Kleidung, Kosmetika), die ich dringend benötigte.

Er kaufte mir schöne Sachen. Ich kannte so etwas nicht und habe mich sehr gefreut darüber und ich war dankbar dafür, dass sich überhaupt ein Mensch um mich gekümmert hat. Aus diesem Grund nahm der Arzt wahrscheinlich an, wir gehörten schon zusammen und sprach mit ihm über mich. Ich war nicht dabei. Jürgen sagte mir später, der Arzt hätte gemeint, er solle mich, wenn ihm etwas an mir liegen würde, da raus holen. Es müsse da einen Grund geben warum es mir so schlecht ginge. Mich hat der Arzt danach nie gefragt. Oder hat er das? Ich weiß es nicht. Ich habe und hätte nie darüber gesprochen, was zu Hause abgeht, denn dafür schämte ich mich viel zu sehr und wollte ja, das alle denken, es ist alles in Ordnung.

Jürgen lag etwas an mir und er holte mich da raus. Er war 12 Jahre älter als ich und ich war ihm dankbar für alles, was er für mich getan hat. Ich habe nicht gewusst, was kommt, wie es weitergeht. Er holte mich also aus dem Krankenhaus ab und fuhr mit mir zu sich nach Hause. Es war seine Entscheidung und ich war froh, zu Hause wegzukommen. Nur weg von meinem Vater, egal, wohin. Jemand Anderes kannte ich nicht und Jürgen war allein, geschieden und war gut zu mir.

Wir fuhren also zu ihm nach Hause und dort sollte ich dann auch bleiben. Nachmittags fuhr er dann mit mir zu meinem Vater und meiner Stiefmutter, um meine Sachen abzuholen. Ich weiß davon kaum etwas, es kam mir alles so unwirklich vor. Aber eines wusste ich, denen bin ich sowieso egal, sie haben mich nicht besucht, sich nicht nach mir erkundigt oder mir frische Wäsche gebracht – ich habe nicht existiert für sie. Jürgen hat das alles getan und nun wollte er mit meinem Vater sprechen und ihm sagen, dass ich zu ihm ziehe. Ich habe mich nicht getraut, irgendetwas zu sagen, hatte nur Angst, mein Vater könnte verraten, was ich für eine bin. Ich glaube, Jürgen hat damals gesagt, was der Arzt mit ihm besprochen hat, um zu begründen, dass ich sofort zu ihm ziehen würde. Ich war wie ein Gegenstand, um den sie sich stritten – es kam mir jedenfalls so vor. Alles rauschte an mir vorbei. Und ich hörte nur die Vorwürfe, wie schlecht, undankbar und verlogen ich sei. So habe ich mich auch gefühlt, schlecht, undankbar und verlogen. Dabei habe ich nichts schlecht gemacht, wollte nicht undankbar sein und habe nicht gelogen – aber ich fühlte mich so. Ich selbst wusste eigentlich nicht, wie mir geschah, habe nichts entschieden, nicht ja und nicht nein sagen können. Mein Vater schmiss mir ein paar meiner Sachen vor die Tür und meinte, ich sei der letzte Dreck und solle endlich verschwinden.

Ich war damals 19 Jahre alt, habe mich geschämt und hatte ein schlechtes Gewissen. Was hatte ich verkehrt gemacht? Zu Hause war es furchtbar und ich hätte froh sein müssen, da raus zu kommen. Aber ich kannte Jürgen doch überhaupt nicht gut genug, um zu ihm zu ziehen. Doch ich wagte nichts zu sagen und, wo sollte ich denn hin. Ich musste doch froh sein, dass da Jemand war, der mir helfen wollte. Es war keine Liebe, es war Dankbarkeit und Angst, es könnte zu Hause so weitergehen wie immer, deswegen war ich nun bei Jürgen.

Heute weiß ich, ich hätte mich damals nicht schämen und mich beschimpfen lassen müssen. Ich hätte sagen können, was los war, meinem Vater endlich an den Kopf werfen können, was für ein Mistkerl er doch ist. Aber das habe ich nicht getan. Ich habe gar nicht daran gedacht, sondern habe geschwiegen, keinen Ton verraten und noch Angst gehabt, er würde mich verraten. Er hat mich beschimpft und damit mundtot gemacht – mich schuldig gesprochen, damit ich den Mund gar nicht erst aufmache und etwas sage. Das war immer seine Waffe. Ich nahm also mein bisschen Kram, den ich mitnehmen durfte und ging mit Jürgen mit.