5.05.2004

Ich habe Angst

Was soll das? Ich habe Angst vor jemand, der schon lange Tod ist.

Was soll das? Ich kann nicht schlafen, schreie vor Angst.

Habe das Gefühl zu ersticken durch seine Hände.

Er ist tot – schon lange tot.

Aber er ist da und macht mir Angst, lässt mich schreien,

lässt mich ersticken, bringt mich zur Verzweiflung.

Mein Opa, als Kind hat er mich gewürgt,

mir das Kissen auf das Gesicht gedrückt,

damit ich nicht zu hören war, wenn ich schrie.

Die Pistole an die Schläfe gehalten, in den Mund gesteckt und abgedrückt.

Ich hatte Angst, er bringt mich um. Er erwürgt mich.

Er erschießt mich- nur weil ich schreie, wenn es zu weh tut.

Ich darf nicht schreien – er bringt mich sonst um.

Er sagt, ich bin selbst Schuld daran, weil ich ja schreie.

Es tut aber so weh und ich kann es nicht aushalten,

sonst würde ich doch nicht schreien!

Ich habe Angst, er bringt mich um.

Ich bekomme keine Luft und glaube, zu ersticken,

Immer und immer wieder nachts.

Er ist da.

Er würgt mich.

Er hat die Pistole in der Hand.

Ich weiß, er ist tot – er kann mir nichts mehr tun.

Aber ich habe Angst und ich sehe ihn, fühle ihn,

rieche ihn – und habe Angst.

Todesangst.

Fast jede Nacht. Ich kann nicht mehr.

Ich bin so müde und wage mich nicht zu schlafen.

Ich weiß ja, dass ich keine Angst haben brauch.

Aber sie ist da und quält mich, macht mich fast verrückt.

Nacht für Nacht.

Ich bin es so leid und ich bin so müde.

Ich kann nicht mehr. Es muss doch einmal aufhören.

Es ist so lange her und ich spüre die Angst, als stände er jetzt vor mir.

Das kann nicht sein, das darf nicht sein.

Er soll tot sein, er ist es doch.

Er hat mich genug gequält – 10 lange Jahre.

Es reicht – ich will ihn nicht mehr fürchten müssen.

Nachts keine Angst vor dem Ersticken mehr haben.

Ich möchte schlafen können – ohne Angst -

ohne Todesangst vor meinem Opa.

Er ist tot, verdammt noch mal, er ist tot.

Er kann mir nichts mehr tun.

Ich muss es doch in meinen Kopf kriegen, dass ich keine

Angst mehr zu haben brauche.

Er ist tot, mausetot!

 

06.05.2004 nachts um 2.13 Uhr

Es ist Nacht. Alle schlafen auf Station. Ich war gestern Abend auch so müde und bin um 22.00 Uhr ins Bett und auch schnell eingeschlafen. Der Tag war anstrengend gewesen, obwohl ich mich immer wieder frage, was ich denn so Schweres leiste, dass ich abends so vollkommen fertig bin. Heute hatte ich ja auch noch bis Mittag, also bis kurz vor dem Mittagessen geschlafen seit dem Abendessen gestern und ich dürfte nicht so müde sein. Aber ich hätte heute Mittag statt aufzustehen schon einfach weiter schlafen können, immer weiter schlafen, Ich war so müde und war alles so müde. Wollte nur meine Ruhe haben. Mich hat auch keiner gestört oder geweckt. Dafür war ich sehr dankbar. Heute Abend bin ich also gegen 22.00 Uhr in mein Bett und habe noch etwas Musik gehört und dann bin ich eingeschlafen.

Dann war plötzlich alles anders. Ich saß in einem großen Raum. Er war ganz leer, nur meine Mutter saß neben mir und schlug auf mich ein. Ich habe immer wieder gefragt, was ich denn gemacht habe. Warum schlägst du mich? Was habe ich getan? Sie gab mir keine Antwort hat nur mit einer Grimasse gelächelt und auf mich ein geschlagen. Erst saß sie neben mir, dann stand sie auf und schlug mit diesem alten Teppichklopfer, den wir früher hatten, als ich noch klein war, auf mich ein. Ich war auch jetzt klein und weinte und bettelte, dass sie mich nicht wieder schlagen soll, ich habe doch nichts getan.

Dann war Mutti weg und ich schrie nach ihr. Sie darf mich doch hier nicht allein lassen, in diesem Saal – nicht hier. Ich habe doch Angst. Sie darf mich nicht allein hier lassen und einfach weg sein. Sie war weg – es war niemand mehr da. Nur der leere Saal und ich. Dann kam mein Opa und Rudolf, sein Freund. Ich war allein, konnte nicht weg und sie kamen auf mich zu. Ich schrie nach meiner Mutti. Sie lachten und lachten und sagten, die hilft dir sowieso nicht, da kannst du schreien, wie du willst. Ich hatte Angst, Ich hörte auf zu schreien und blieb ganz still. Sie kamen zu mir, alle beide und dann nahm mein Opa mich an der Hand. Ich dachte, er geht jetzt mit mir heim. Er ging nicht mit mir heim. Ich wurde festgebunden auf einem Tisch. Die Hände und die Füße an die Tischbeine gebunden und ich konnte mich nicht mehr bewegen. Es war wie immer Opa und sein Freund taten das mit mir, was sie immer machten, einer unten, der andere in meinem Mund und dann umgekehrt. Zum Schluss sagte Rudolf, dass wir nun noch ein bisschen spielen werden. Er hatte wieder die Pistole von Opa in der Hand und ich bekam schreckliche Angst. Zuerst hielt er sie mir an die Stirn und sagte „Tschüß“ und drückte ab. Ich schrie und weinte und es gab nur ein „Klick“ und sonst war nichts passiert. Aber ich hatte solche Angst. Opa lachte und sein Freund auch. Dann ging es weiter mit der Pistole immer und immer wieder, an die Schläfe „Klick“, in den Mund „Klick“, unten rein „Klick“ auf das Auge „Klick“ und jedes Mal taten sie, als würden sie die Pistole laden. Immer dachte ich, jetzt, jetzt schießen sie richtig. Ich habe geschrien, gebettelt, geweint, Mutti gerufen. Sie haben nur gelacht.

Ich hatte solche Angst und dachte immer, sie bringen mich um, sie tun es beim nächsten Mal. Niemand war da, nur die Zwei und ich. Dann rief mich jemand. Es war doch jemand da. Ich soll meine Augen auf machen. Ich habe doch Angst wegen der Pistole, die Augen aufzumachen. Wieder: „Machen sie die Augen auf.“ Es war nicht Opa oder Rudolf, es war jemand anderes. Ich mach meine Augen auf und nach einer Weile erkannte ich den Nachtpfleger von unserer Station. Er hatte mich geweckt. Ich hatte einen schrecklichen Albtraum – einen fast wahren Traum, nur dass meine Mutti da nicht hineingehörte.

Ich war nassgeschwitzt, heulte und hatte panische Angst. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich mich (mit Hilfe von Tavor und Musik) wieder etwas beruhigt habe. Es war ein schlimmer Traum und doch war er mehr als wahr. Es ist so oft passiert und ich habe die Angst immer noch in mir und habe mir doch gesagt, die Beiden Leben nicht mehr, sie können mir nichts mehr tun. Jetzt erst, wo ich fertig bin mit Schreiben, fühle ich mich wieder erwachsen und auch etwas ruhiger. Ob ich diese Nacht noch schlafen kann, weiß ich nicht. Ich habe wieder Angst, ins Bett zu gehen. Es war so schrecklich. Das war nicht wie ein Traum – es war, als würde es gerade passieren und ich habe mich so gefürchtet.

Wie oft die Beiden mir das angetan haben – ich weiß es nicht – jedenfalls sehr, sehr oft und manchmal habe ich mir einfach nur gewünscht, es soll endlich eine Kugel drin sein und ich brauche keine Angst mehr zu haben, weil es dann vorbei ist.

8.7.2004

Seit letztem Dienstag geht es mir nicht gut. Alles ist wieder zur Quälerei geworden, den Haushalt zu machen, muss ich mich zwingen, aber ich habe es geschafft, bis vor drei Tagen, dann ging nichts mehr. Ich habe nur noch geheult, mich im Bett zusammengerollt und mich nicht mehr bewegt. Warum und was los war, ich weiß es nicht, kann es nicht sagen. Mir ging es einfach nur schlecht – diese verfluchten Schmerzen kamen wieder und wurden immer schlimmer. Das kleinste Problem wurde zur Riesenhürde und ich hatte das Gefühl – ich kann nicht mehr, ich schaffe das nicht mehr, ich will das nicht mehr schaffen. Es wird doch nicht anders – das Leben ist doch immer noch so eine Qual und ich halte es nicht mehr aus. Ich kann diese Schmerzen nicht mehr aushalten und habe Angst durchzudrehen.

Meinem Mann habe ich nichts gesagt – was sollte ich sagen, ich wusste nicht, was ich sagen sollte, ich konnte nicht sagen, was mit mir los ist. Es ging mir einfach nur so schlecht, dass ich es nicht mehr aushalten wollte und sogar daran dachte, Tabletten zu schlucken oder mir die Pulsadern aufzuschneiden.

Wem sollte ich sagen, was mit mir los ist. Mein Mann sagte mir immer wieder, ich soll Herrn Dr. S. anrufen.

Irgendwie wollte ich nicht zugeben, dass es mir so schlecht geht und ich konnte auch nicht anrufen, als mein Mann zu Hause war. Ich habe es erst geschafft, als er mit dem Hund spazierte und ich allein war. Da hatte ich den Mut, zum Telefon zu greifen und die Nummer von Herrn Dr. S. zu wählen. Ich hatte Glück, ich habe ihn sofort erreicht beim ersten Versuch – ob ich es noch mal versucht hätte, weiß ich nicht. Ich habe mich auch geschämt, dass es mir wieder schlecht geht und das so kurz nach meiner Entlassung.

Ich habe ihn also erreicht und gesagt, dass es mir sehr schlecht geht und ob er Zeit für mich hätte – er gab mir für heute 16.00 Uhr sofort einen Termin. Ich war froh und schon das half, dass ich mich etwas beruhigte und nach 3 Tagen zum ersten Mal aufhören konnte zu weinen.

Ich dachte, was soll ich sagen, warum es mir schlecht geht – ich weiß es nicht – es ist einfach auf einmal so schlimm geworden und ich komme nicht mehr da raus, schaffe es nicht allein.

Um 15.00 Uhr fuhren wir also in die Klinik, 16.00 Uhr stand ich vor der Tür von Herrn Dr. S. Sprechzimmer und schämte mich, dass ich wieder so da stand und es nicht hinkriege allein zurecht zu kommen. Er bat mich herein und ich versuchte ihm zu erklären, wie es mir geht, was los ist und dass ich nicht weiß, wieso es mir so schlecht geht. Ich hätte mich nicht gemeldet, aber ich habe nicht mehr weiter gewusst und es war zu stark, mich zu schneiden oder mehr zu wollen. Schon nach wenigen Minuten habe ich nur noch geheult und die Schmerzen im ganzen Körper, ich hatte Angst (ich kann mich nicht mehr bewegen, wie es schon mehrfach passiert ist) wurden so unerträglich, dass ich nur noch geschluchzt habe. Ich wusste nicht, was los ist mit mir, konnte mich nicht dagegen wehren und fühlte mich so hilflos und ausgeliefert. Ich brauchte dringend seine Hilfe. Ich schaffe es nicht mehr, halte es nicht mehr aus.

Nach ein paar Minuten kam ein Anruf und Herr Dr. S. musste auf Station zu einem Patienten. Während dieser Zeit – ich weiß nicht, wie lange es war, saß ich nur da habe geheult und war völlig verzweifelt.

Ich saß in diesem Zimmer, in dem ich immer reden konnte, war allein und sah zum Fenster raus und sah nicht raus – ich war nicht da, ich war bei mir.

Herr Dr. S. kam wieder und hat mich gefragt, woran ich denn in der Zeit, als ich allein war gedacht habe.

Ich sagte: „Ich habe daran gedacht, wie oft ich Angst hatte, umgebracht zu werden.“ Meine Antwort erstaunte mich selbst, als ich sie hörte. Ich hörte, dass ich sagte, dass ich immer Angst hatte, umgebracht zu werden. Ich habe das gesagt und dann war es völlig aus mit meiner Fassung. Die Angst, ich fühlte sie und ich konnte sie nicht aushalten. Das kann man nicht aushalten und ich habe immer gedacht, ich kann nicht mehr – ich kann nicht mehr und habe nur noch geschluchzt. Ich war jetzt nicht groß, ich saß da als Kind und habe es nicht ausgehalten, hatte einfach nur Angst und wollte Hilfe, wollte Schutz.

Die Schmerzen waren so schlimm – der ganze Körper tat mir weh, ich versuchte immer wieder meinen Kopf zu bewegen, weil ich Angst hatte, ich werde steif. Ich hatte das Gefühl, steif zu werden. Es war so schlimm und ich spürte meine Hände sind gefesselt – ich kann nicht mehr, halte es nicht mehr aus – was soll ich tun? Was kann ich tun? Ich habe solche Angst. Bitte lass es aufhören – ich kann nicht mehr.

Ich habe angefangen von dieser Angst zu reden, von meinen Schmerzen zu reden und dann von dem Serienmörder Michel Fourniret und Dutroux und dann ist da noch einer, der Mädchen vergewaltigt und umgebracht hat und ich habe Angst, Angst, ich werde auch umgebracht – die Angst von früher war da und ich war im Früher.

Ja, nun wusste ich, warum es mir schlecht geht. Was mit mir los ist.

Wenn ich das jetzt hier schreibe, dann kann ich es wieder einmal nicht begreifen. Ich bin jetzt 52 Jahre alt und habe in mir die Angst von damals, weil das heute passiert, weil es in den Nachrichten kommt und ich weiß nicht, was mit mir passiert. Bin einfach nur hilflos ausgeliefert, weil ich nicht einordnen kann, was mit mir los ist, warum es mir so schlecht geht.

Ich war so völlig ausgeliefert, so hilflos in dieser Angst und so verzweifelt, dass ich sogar daran dachte, Schluss zu machen und das nur, weil jetzt und heute wieder einmal solche verfluchten Teufel Mädchen gequält, vergewaltigt und umgebracht haben. Ich habe nicht gemerkt, was das mit mir gemacht hat. Aber jetzt, wo ich weiß, warum es mir so schlecht geht, habe ich eine verdammte Wut, dass es heute immer noch so ist, dass ich dem ausgeliefert bin und wegrutsche, ohne es zu merken und mir nicht helfen kann. Mich aus Angst und Verzweiflung fast umbringen würde, um es nicht mehr aushalten zu müssen.

Ohne Herrn Dr. S. Hilfe hätte ich nicht herausgefunden, warum es mir so schlecht geht und wäre weiterhin dem so hilflos ausgeliefert gewesen. Wie lange ich das noch ausgehalten hätte, weiß ich nicht. Aber nun weiß ich, was mit mir passiert ist und ich bin wieder da und kann mir klar machen, dass mir nichts mehr passieren kann, dass ich diese Angst nicht mehr haben muss, dass ich sicher bin. Mir wird keiner mehr drohen, mich umzubringen und mir Angst damit machen. Ich bin wieder sicher, erwachsen – auch wenn ich die Schmerzen noch spüre.

Es klang so weit weg, so unwirklich, als Herr Dr. S. mehrmals sagte, dass mir nichts passieren kann – ich musste erst wieder zu mir kommen – ins Jetzt und es glauben können.

Ja, ich hatte Mühe, es zu glauben, was er da sagte und ich hatte Mühe zurückzukommen. Mein ganzer Körper war in der Vergangenheit und ich konnte meine Hände nicht bewegen, weil sie angebunden waren und da sagt einer, mir kann nichts passieren. Ich lebe. Ich habe es überlebt. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich zu mir kam und im Jetzt war und wusste, es ist vorbei. Ja, es ist vorbei.

Herr Dr. S. gab mir, obwohl ich nicht stationär bin und auch keine private Therapie bezahlen kann für morgen 16 Uhr wieder einen Termin. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, aber ich war so froh darüber und so dankbar. Ich verabschiedete mich und stand mühsam auf und ging total steif und völlig fertig zu unserem Auto um heimzufahren.

Ich war so froh, hatte ich doch auch Angst, wieder stationär zu müssen – aber jetzt wusste ich, ich werde es so schaffen, auch wenn ich jetzt noch laufe, wie ein Roboter, weil mir alles weh tut, aber das kenne ich – es wird wieder besser werden.

Am 12.7. werde ich den ersten Termin bei meiner neuen Therapeutin haben und ich hoffe, ich habe Glück und kann mit ihr reden und Vertrauen zu ihr finden. Es muss einfach gut gehen. Ich brauche ihre Hilfe. Ich brauche noch Therapie.

Jetzt ist es nachts 1.30 Uhr und ich bin müde und völlig fertig, aber es war gut, das alles aufzuschreiben. Gut, das alles noch einmal anzusehen und zu erkennen, um damit klar zu kommen und nicht mehr so hilflos zu sein.

19.11.2004

Heute Morgen ging es mir nicht gut. Ich habe wieder einmal nicht geschlafen, habe dann um 2.00 Uhr 2, 5 mg Tavor genommen und konnte endlich einschlafen. Helmut ist gegen 9 Uhr aufgestanden und sagte, ich solle noch etwas liegen bleiben und versuchen schlafen. Ich war froh, noch liegen bleiben zu können, weil er es erlaubt hat. Sonst liege ich auch immer länger im Bett als er, aber da sagt er nicht, ich könne noch liegen bleiben und so habe ich immer ein schlechtes Gewissen. Heute bin ich also liegen geblieben und es war schon fast 12.oo Uhr, als ich endlich aufgestanden bin. Helmut ist mit Baatzi rausgegangen und ich war allein. Am liebsten wäre ich gar nicht aufgestanden, aber ich wusste auch, es bringt mir nichts, wenn ich weiter liegen bleibe, also stand ich auf. Hab mich gewaschen, angezogen, die Wohnung in Ordnung gebracht und dann angefangen zu kochen. Gegen 16 Uhr kam Helmut wieder heim und ich hatte ihm einen Teller mit Möhren und Äpfeln geschält und dann haben wir Cappuccino getrunken und später Blumenkohlteintopf gegessen. Er war lecker. Ich hatte es mal geschafft zu kochen, als wäre alles normal und ich eine gute Hausfrau.

Die ganze Zeit geht es mir schon wieder nicht mehr gut. Beim letzten Einzel habe ich versucht zu sagen, wie es mir geht, aber es hat mir nicht geholfen, zu reden. Ich habe das Gefühl, mir ist alles zu viel, ich bin völlig überfordert und kann nicht mehr. Wer weiß schon, was mit mir los ist, ich kann es ja selbst kaum beschreiben. Ich habe wieder Sehnsucht nach meiner Mutti – ich weiß, es ist total bescheuert. Aber es ist so und ich wünsche mir so anerkannt zu werden. Meine beiden Brüder, sagt sie, sind in Ordnung. Der Große ist ein lieber Kerl und mein jüngerer Bruder auch.

Beide haben schon im Gefängnis gesessen wegen Diebstahl und Raub. Ich habe noch nicht im Gefängnis gesessen, aber ich bin auch nicht besser. Ich habe so oft geklaut in Kaufhäusern, immer Deo, Lippenstifte, Duschzeug usw. Das habe ich jetzt sehr lange nicht mehr getan, habe es sehr gut geschafft, es nicht zu tun und gestern habe ich zum ersten Mal wieder geklaut und zwar im Supermarkt. Ich habe 2 CD-Spiele für PC oder Gameboy oder ähnlich genommen. Ich weiß nicht einmal, ob sie auf meinem Computer gegangen wären, weil ich davon keine Ahnung habe. Warum ich sie genommen habe, weiß ich auch nicht. Eines war glaube ich Biene Maja oder so. Jedenfalls bin ich erwischt worden. Ist gut so. Mir ging es vorher nicht gut und mir wäre es danach nicht besser gegangen. Trotzdem ich erwischt worden bin, fühle ich mich nicht schlechter, als ich mich schon gefühlt habe. Ich weiß, ich bin schlecht und alle denken, ich wäre gut. Ich bin nicht gut, ich bin das Letzte. Nichts ist mehr richtig, alles mache ich verkehrt.

Ich habe gedacht, jetzt geht es mir gut, jetzt fange ich an zu leben und das alles kann mir nicht mehr schaden, mir nicht mehr wehtun. Aber es tut weh und ich muss wieder ständig heulen und mich zusammenreißen, um nicht zu zeigen, wie es mir geht. Das strengt so an und ich bin müde und kann nicht mehr richtig schlafen, die Arme tun mir so schrecklich weh und ich traue mich nicht, mir zu helfen, weil ich mich schäme, weil ich dann versage. Ich hab es doch versprochen, es nicht mehr zu tun. Aber ich habe verdammt noch mal solche Schmerzen, dass ich schreien könnte vor Schmerzen. Mein ganzer Kiefer tut mir weh vom Zähne zusammenbeißen.

Tavor? Ich will sie so wenig wie möglich nehmen und gestern habe ich, als ich merkte, ich gehe weg, mein Kopf geht zu – da hab ich 1Tavor genommen. 30 Minuten hat sie gewirkt und dann war es wieder genauso schlimm, wie vorher. Ich habe keine mehr genommen. Was ich möchte, ist mich schneiden! Aber was werden die Anderen dann sagen? Wie wird Helmut reagieren? Er denkt womöglich, er ist schuld, was völliger Quatsch ist. Ich habe einfach nur Schmerzen und bin völlig am Ende. Möchte nur meine Ruhe haben. Vorhin, als ich im Bett lag, fing ich an, mir von zu Hause aus den Weg bis zur Autobahn vorzustellen. Wozu? Ich weiß wozu. Ich finde es schlimm, woran ich wieder denke. Was soll ich sagen und mit wem soll reden?

Am Dienstag war ich bei Herrn Dr. S., ich habe versucht zu sagen, wie schlecht es mir geht und dass ich mir nicht mehr helfen kann, habe aber glaube ich zur gleichen Zeit gesagt, ich werde es schon schaffen. Ich glaube, das tue ich immer. Ich habe auch gesagt, dass ich diese Woche kein Einzel habe, sondern erst wieder am 24.1. und das ist dann erst am kommenden Mittwoch. Es ist viel zu wenig und es geht mir zu schlecht. Ich versuche mit Helmut und mit Ute zu reden, aber denen geht es selbst nicht so gut. Mit wem könnte ich sonst noch reden? Ich weiß es nicht. Herr Dr. S. hatte kurz Zeit für mich und ich kam ja wirklich unangemeldet und spät (bestimmt wollte er gerade Feierabend machen). Er sagte, er hätte in den nächsten Tagen keine Zeit und ich sagte, ich habe am Mittwoch einen Termin bei ihm. Es war mir peinlich, einfach so aufgetaucht zu sein, unangemeldet und zu seinem Feierabend. Ich denke, ich sollte mich nicht mehr unangemeldet bei ihm blicken lassen und allein zurecht kommen. Sicher ist er genervt und ich habe auch total durcheinander geredet, glaube ich. Aber das wohl deswegen, weil es mir so schlecht geht

Wenn mich jemand fragen würde, was ich will, dann würde ich sagen, ich will weg, will meine Ruhe habe haben. Am besten wäre es, nicht mehr da zu sein. Keine Sehnsucht mehr nach meiner verdammten Familie oder einer verdammten Familie. Nicht mehr geschimpft bekommen, wenn ich gar nichts gemacht habe. Keine Angst mehr haben zu müssen, etwas verkehrt zu machen

Ich bin froh, dass Ute sich nicht mehr umbringen will, denn ich mag sie sehr gern, wenn sie nicht wäre, wäre alles noch viel schlimmer.

Es gibt noch viele. Thomas, Willi, Wolfgang, Anne, Helga usw. Ich habe keine Kraft, mich bei denen zu melden. Auch Elke habe ich zu Ihrem Geburtstag nicht angerufen. Wir wollten ja hinfahren, aber unser Auto war in der Werkstatt. Sie war traurig, als ich sagte, wir könnten nicht kommen und sagte, sie brauchte jemand der sie in den Arm holt. Ich habe gesagt, ich rufe morgen zu ihrem Geburtstag an. Und habe es nicht getan, da ich sie enttäuschen musste, weil wir nicht hin fahren konnten.

Willi ist bestimmt auch sauer mit mir, weil ich mich nicht melde, aber ich kann nicht, es ist mir alles zu viel. Es tut mir leid und ich fühle mich schlecht deswegen. Vielleicht ist es lachhaft. Ich mache mich fertig, weil ich schon ewig meine Fenster putzen muss und es nicht schaffe, der Korb mit Bügelwäsche wird auch nicht gebügelt. Ich bin ein Versager auf der ganzen Linie und das, was ich schaffe, jeden Tag die Wohnung sauber zu machen und aufzuräumen, damit es ordentlich aussieht, da nerve ich Helmut mit und er sagt, mir ist nur die Wohnung wichtig. Aber es ist doch so, so wie es bei mir aussieht, so bin ich, denken die Leute und es muss deshalb immer sauber aussehen und das ist das Einzige, was ich noch schaffe und dran festmachen kann, das es mir einigermaßen geht.

Ich möchte doch nur keine Schmerzen mehr haben und das von früher nicht mehr haben. Manchmal war es jetzt wirklich schon richtig schön. Ich habe viel gelacht und alles hat richtig Spaß gemacht und nun ist alles wieder so sinnlos, so quälend und ich kann nur heulen und schäme mich noch deswegen. Wenn ich wüsste, wie und das es sicher und schnell geht, dann wurde ich verschwinden. Ich will niemanden wehtun damit, wenn ich das tun würde. Es ist mir schlimm, zu wissen, dass ich das trotzdem tu.

Aber wie oft bin ich enttäuscht worden. Wie oft bin ich verraten worden. Wie oft bin ich verletzt worden. Wenn ich es tu, dann doch nur, weil ich nicht mehr kann.

Die, die ich enttäusche, wenn ich Schluss mache, die kennen mich doch gar nicht richtig, alle denken, sie kennen mich gut. Alle sagen, ich schaffe das, aber ich schaffe es nicht – ich bin wieder mal am Ende.

17.12.2004

Ich schäme mich, es aufzuschreiben, aber ich werde es aufschreiben. Heute im Einzel kam irgendwie das Gespräch auf die Verhandlung wegen meinem Stiefvater und ich sagte, dass diese Verhandlung ja später war.

Nun ist mir auf einmal klar geworden, dass ich da wirklich die Chance hatte, alles zu sagen und ich weiß nicht einmal, was ich überhaupt gesagt habe, nicht einmal das, was ich wegen meinem Vati ausgesagt habe. Ich weiß gar nichts von der Verhandlung, ich weiß nur den Flur vor dem Verhandlungsraum, an etwas anderes kann ich mich nicht erinnern. Ich denke jetzt mit Erschrecken daran, dass dort Polizei, Richter, Rechtsanwälte waren und ich hätte ja bloß etwas von dem Mädchen erzählen brauchen und alles wäre rausgekommen.

Die wären bestraft worden, die wären gefunden worden und heute – heute ist keiner mehr zu finden, die sind steinalt oder schon tot.

Ich weiß nicht einmal mehr, was das für ein Tag war, für ein Monat und ob ich 10 oder 11 oder 12 Jahre alt war. Als ich 13 Jahre alt war, war die Verhandlung, Unterlagen konnte ich keine mehr bekommen, sind nicht mehr archiviert, schrieb man mir. Ich kann es nicht begreifen, dass ich dort nichts gesagt habe, an so einem sicheren Ort – ich habe nichts gesagt. Ich weiß nicht einmal, was ich überhaupt gesagt habe. Ich möchte es schon wissen, aber mit meiner Mutter konnte ich nicht reden – sie hat es zu verhindern gewusst.

Ich schäme mich, weil ich den Mund gehalten habe dort und ich schäme mich, weil ich nicht versucht habe, zu helfen – wäre doch egal, was die mit mir gemacht hätten. Mir wäre es jetzt auch lieber, nicht mehr zu leben.

Ich habe daneben gestanden und sie ist bestimmt gestorben, ihre Augen waren offen, haben aber nicht mehr geguckt. Ich habe meinen Mund gehalten – ich kapiere das nicht. Wie kann ich solange nichts sagen und dann nicht einmal vor Gericht etwas sagen, wo die mir nichts tun können. Ich schäme mich so dafür. Es wäre besser, ich wäre auch nicht mehr.

Wer soll das verstehen – ich kann es nicht und ich kann es schon gar nicht akzeptieren, dass ich nichts gesagt habe und erst jetzt daran denke. Wie kann man so einen Tag, so ein Datum vergessen und solange den Mund halten?

Ich konnte es! Was bin ich für ein Mensch? Ich will nicht mehr leben, ich kann mich nicht mehr ertragen. Ekel mich vor mir. Ich wünsche mir, ich wäre tot, ich wäre verschwunden und säße jetzt nicht hier mit dieser schrecklichen Erkenntnis. Warum hast du nichts gesagt?

Übrigens, die Frage kenne ich nur zu gut, damit hat mich meine Mutti auch ruhigstellt. Warum hast du nichts gesagt. Ja, warum habe ich eigentlich nichts gesagt? Warum sagen alle nichts? Warum schweigen alle? Warum schreien sie nicht raus, was passiert? Was man mit ihnen tut? Ich habe nichts gesagt, ich habe nicht geschrieen. Ich habe geschwiegen.

„Ja, wenn du was gesagt hättest, dann hätte ich dir doch geholfen?“

Also bin ich selbst Schuld, dass es so weiterging? Also wollte ich gar nicht, dass sich etwas ändert!

Verdammt, wer hat das Recht so zu denken oder so etwas zu sagen? Verdammt, warum haben die nichts gemerkt? Warum hat mir meine Mutter nicht geholfen? Warum hat keiner reagiert?

Ich war so oft so dreckig. Ich habe so oft gestunken (wonach?), eindeutig gestunken und keiner hat etwas gemerkt? Ich hasse sie alle dafür. Ich selbst kann mir gar nicht so wehtun, wie es mir weh tut.

Was ist mit dem Jugendamt damals, was habe ich dort gesagt? Ich weiß es nicht. Was haben die mich gefragt? Ich weiß es nicht.

Immer, wenn ich denke, jetzt kann ich nicht mehr jetzt bringe ich mich um. Wozu soll ich das aushalten, dann sitze ich hier und fange an zu schreiben.

Herr Dr. S. sagte gerade, damals hätte ich nichts sagen können, „weil es nicht da war“, aber heute könnte ich es tun. Heute könnte ich soviel dagegen tun. In letzter Zeit habe ich oft Angst, weiter zu schreiben, weil ich manchmal denke, wenn die „Falschen“ mein Buch lesen, dann genießen sie es noch, es zu lesen und das will ich nicht. Ich will diese verfluchten Schweine bestrafen und kann es nur mit diesem Buch. Alle anderen Möglichkeiten sind mir auf Grund der langen Zeit, in der alles in mir vergraben war, genommen. Das ist nicht gerecht. Das ist einfach nicht gerecht.

Wie soll ich damit fertig werden, wenn ich nicht mal denen ins Gesicht sehen kann, die mir das angetan haben? Würde ich es schaffen, denen ins Gesicht zu sehen oder hätte ich zu viel Angst vor ihnen?

Es gibt für mich nur die Möglichkeit, dieses Buch zu schreiben, um mein Leben zu finden und damit zurecht zu kommen. Es gibt so viel, was ich immer noch nicht weiß und ich habe Angst davor zu erfahren, was in den Zeiten, in denen ich nichts von mir weiß, passiert ist. Ich bin zurückgekehrt, dorthin, wo ich gewohnt habe, habe mir das Haus angesehen. Die Leute wieder ins Haus gesetzt (es steht jetzt leer bis auf eine Wohnung). Ich habe die Umgebung angesehen und ich habe mir vor Schrecken und Angst in die Hose gemacht. Aber ich will wissen, wo diese verfluchte Villa mit Pool steht. So viele wird es ja damals in dieser Gegend nicht gegeben haben.

Ich habe nichts gefunden. Unser Haus, der Spielplatz, der kleine Berg an der Elster - das sind alles schlimme Orte für mich – ich war noch mal dort und ich werde es nicht vergessen.

Klinik, den 22.12.2004

Heute ist Mittwoch, der 22.12.2004 und am 17.12., also am Freitag bin ich in die Klinik gekommen. Auf Station B. Einzelzimmer. Ich hatte schon Angst, obwohl ich erst auf das Einzelzimmer gewartet habe, dass es ich dann vielleicht doch nicht bekomme, weil es in einem 3-Bett-Zimmer eine starke Schnarcherin gibt. Aber ich habe dann, obwohl ich erst gesagt habe, Herr Dr. S. möge entscheiden, ob ich ins Einzelzimmer komme, doch noch einmal angerufen und darum gebeten, dass ich ins Einzelzimmer darf. Ich konnte so lange nicht schlafen und hatte einfach Angst, wenn ich die ganze Nacht nicht schlafen kann und dann, wenn ich morgens wenigstens ein bisschen einnicke und alle aufstehen und ich durch diese Unruhe dann gar nicht mehr kann und völlig zusammenbreche. Ich hatte also Angst, bis ich auf Station war und wusste, ich bekomme das Einzelzimmer.

Es ist wirklich nicht so, dass ich das Zimmer liebe, aber ich bin einfach so am Ende, dass ich allein sein möchte.

Was war los? Warum bin ich wieder hier drin gelandet?

Es ist einiges passiert und ich habe trotzdem versucht, solange, wie möglich durchzuhalten und wollte nicht rein. Es war mir einfach schlimm, wieder stationär zu gehen, wo doch alle erwarten, dass es mir nun endlich mal gut geht und ich allein klar komme. Wie haben die Schwestern gesagt: „Wir können Ihnen eigentlich nichts mehr beibringen, sie haben alles gelernt, was sie brauchen, um klar zu kommen.“

Ja, das ist wohl war. Ich habe viel gelernt und ich schäme mich, nun wieder hier aufzukreuzen und versagt zu haben.

Ich denke, ich habe versagt, aber aus vielen Gründen.

Ich habe einen neuen Therapeuten, Herrn D. ich bin nun seit Ende September bei ihm und das ist noch nicht lange, l Stunde die Woche. Die erste Zeit war ein gegenseitiges Antasten. Er hat sich nicht mal getraut, mir die Hand zu geben, weil er nicht wusste, wie ich reagieren könnte. Nun, nach einigen Sitzungen begrüßt er mich mit Handschlag und verabschiedet mich ebenso. Es hat sich in den 9 Sitzungen gezeigt, dass ich mit ihm reden kann und ich versuche auch anzusprechen, was mich gerade beschäftigt, belastet. Teils geht es gut, teils bekomme ich gesagt, dass es normal ist, wie ich mich fühle, aber ich doch daran denken soll, dass das Vergangenheit ist und jetzt keine Gefahr mehr besteht und ich mich an der Realität festhalten soll.

Toll, das tue ich doch. Aber wahrscheinlich nicht genug, es muss ja an mir liegen, wenn ich immer wieder in die Vergangenheit reinrutsche.

Was ist also passiert?

Zum einen ein neuer Therapeut, was nicht negativ ist, aber seine Zeit braucht, um effektiv zu wirken.

Des weiteren die herzlose Umgangsweise meiner Nachbarin mit Tieren. Sie hat sich ein junges Kätzchen geholt, ca. 6-8 Wochen, eher nur 6 Wochen alt.

29.10.2004

Das kleine Kätzchen

Heute brachte meine Nachbarin Anne ein kleines, 8 Wochen altes Kätzchen mit nach Hause. Ich selbst habe 3 Katzen und liebe diese sehr.

Anne hat eine große schwarze Bobtail-Hündin und nahm das Kätzchen aus der Transport-Box und setzte es einfach mitten in die Stube. Ich hatte Angst um die kleine Katze. Hatte Angst, die Hündin würde sie einfach tot beißen. Beim ersten Mal, als Peggy (die Hündin) auf sie zu lief, konnte sich die kleine hinter den Fernsehschrank retten. Ich sagte, dass ich Angst habe, Peggy würde sie einfach kaputtbeißen und nahm sie hoch und versteckte sie unter meiner Kuscheljacke. Es dauerte auch nicht lange, dann hörte die Kleine auf zu zittern und wurde ruhig. In der Zwischenzeit hatte Anne für uns einen Cappuccino gemacht, der nun vor mir auf dem Tisch stand. Sie nahm die Kleine dann aus meiner Sicherheit und setzte sie wieder mitten in die Stube auf den Boden. Ich saß am Tisch und konnte nur noch sehen, wie Peggy sich auf die kleine Katze stürzte und diese schrie und dann weiß ich nicht mehr viel. Ich habe selbst geschrieen und nur noch einen großen schwarzen Hund gesehen, vor dem ich Angst hatte. Als ich wieder zu mir kam, hatte sich die Kleine in Sicherheit gebracht, Anne hielt Peggy fest und ich hätte am liebsten das Kätzchen genommen und es in Sicherheit gebracht, einfach mit zu mir genommen. Ich fand das so brutal, so gemein, dieses kleine Wolleknäuel einfach so auszuliefern und sich sicher zu sein, dass Peggy ihr nichts tut. Ich dachte auch, wie wird sie jetzt aussehen, sie ist bestimmt schon gebissen worden.

Ich habe mich nicht gewagt, das Kätzchen aus der Ecke hinter dem Schrank vorzuholen und einfach mitzunehmen. Ich habe mich das nicht getraut, obwohl ich wusste, sie ist in Lebensgefahr. Ich habe gezittert und hätte fast losgeheult. Die Angst des Kätzchens war auch meine Angst. Das Ausgeliefertsein und im Stich gelassen worden zu sein, war auch mein eigenes Ausgeliefertsein und im Stich gelassen worden zu sein. Das Schlimmste, ich wagte mich nicht zu helfen, nicht einzugreifen. Ich bin zittern und heulend zu mir rüber in meine Wohnung. Die ganze Nacht habe ich nur die Angst gespürt, diese panische schreckliche Angst vor dem großen schwarzen Hund. Ich war dem Hund ausgeliefert und ich hatte die Angst und zugleich hatte ich unendliche Angst um das Kätzchen.

Ich wusste, wenn das Kätzchen morgen tot ist, ich bin auch schuld und ich habe nicht geholfen, aber ich würde es Anne nie verzeihen können, was sie dem armen Tier angetan hat. Ich hatte Angst und ich war mir sicher, dass das Kätzchen morgen nicht mehr leben würde.

Mich wollte der Hund zwar nicht zerfleischen, aber ich hatte Angst, er würde es tun, wenn ich mich bewege, wenn ich versuchen würde, wegzulaufen. Sie haben es immer gesagt und ich sah die Augen und hörte, wie er mich anknurrte. Die Angst, sie ist da, sie schnürt mir den Hals zu und lässt mich schreien wollen vor Angst. Ich bekomme aber keinen Ton heraus.

Die Angst lässt mich weinen, ich spüre sie größer werden und kann nicht weg.

Ich weiß, was dieses Vieh mit mir macht und habe Angst davor. Mensch, ich habe solche Angst und keiner hilft mir, sie sehen zu, sehen einfach zu und lachen sogar noch oder sind neugierig, was mit mir passiert. Keiner hilft, alle sehen zu und ich habe Angst – wahnsinnige Angst. Ich kann nicht begreifen – warum?

Ich kann auch nicht begreifen, wieso man einfach so ein kleines Kätzchen hinsetzt und den Hund auf sie losgehen lässt in der Sicherheit, er wird sie nicht töten. Der Hund hat sie nicht getötet. Anne rief mich am nächsten morgen an und sagte mir, dass sie noch lebt und Peggy sie jetzt in Ruhe lässt.

Ich war so froh, dass diese Kleine noch lebt und nicht zerfleischt worden ist. Aber ich weiß, was sie für eine riesige Angst hatte und noch hat. Mein Gott, wie kann man so mit der Kleinen umgehen, sie kann sich doch nicht wehren, sie ist noch viel zu klein, um sich zu wehren. Wenn es in meiner Macht liegen würde, würde ich sie wenigstens für 5 Minuten diese Angst spüren lassen, damit sie so etwas nie wieder tut. Aber es liegt nicht in meiner Macht und gestern war ich zu feige, einfach einzugreifen. Ich hatte Angst, sie würde mich dann anschreien, dabei hätte ich sie anschreien müssen.

 

Ich habe diese Angst heute noch, spüre sie und möchte schreien und kann nicht. Mein Kopf ist zu – das verfluchte Wattegefühl ist wieder da. Es war so lange weg. Die verfluchten Schmerzen sind so schlimm, dass ich heulen könnte vor Schmerzen. Meine Arme und mein Nacken und die Schultern summen vor Schmerzen. Es war die letzten Wochen schon wieder so, aber nun ist es total schlimm. Ich habe Druck im Kopf, Kopfschmerzen und da ist immer wieder diese Angst da und ich beiße die Zähne zusammen, um nicht zu schreien. Es ist durcheinander, das mit dem Kätzchen und Meins.

Oh Gott, wie kann man so etwas tun. Ich möchte weinen und habe den Wunsch, mich an meine Mutti zu kuscheln, damit sie mich tröstet und beschützt. Das wird nie passieren, das ist nie passiert.

Ich habe meinen Mann, ich habe meine Freundin Ute und ich habe Herrn Dr. S. mit denen allen kann ich reden, aber der Wunsch in den Arm genommen zu werden und alles rauszuheulen ist groß, doch ich kann es nicht. Versuche, mich zusammen zu reißen, damit ich nicht zeige, wie schwach ich bin, wie klein ich jetzt wieder bin. Mein Mann und Ute sehen zwar, dass es mir nicht gut geht, aber sie sehen nicht, wie klein ich bin und das ich mich zusammenreiße um groß zu sein. Es ist so lange her und doch ist die Angst jetzt da und die Hilflosigkeit ist jetzt da. Mir geht es nicht gut und ich will, dass es mir gut geht und dass es nur die Angst um dieses Kätzchen ist – aber so ist es nicht, es ist mehr, es ist meine Vergangenheit – meine Angst, meine Verzweiflung und die Schmerzen, die ich damals zugefügt bekam.

Ich habe auch versucht meiner Freundin und meiner Nachbarin zu erklären was da mit mir passiert ist, als sich Peggy auf das Kätzchen stürzte.

Mir sagten sie, sie hätten es verstanden, aber ich denke, sie halten mich für bescheuert und total daneben. Sie waren meine Freundinnen und ich habe ihnen vertraut und versucht zu erklären, was mit mir passiert ist und was das ausgelöst hat in mir.

Ich habe nun eher das Gefühl, für bekloppt gehalten zu werden.

Auf Grund dieser ganzen Vorkommnisse und obwohl ich versucht habe dies in der Therapie bei Herrn D. und auch ambulant bei Herrn Dr. S. anzusprechen, es ging mir immer schlechter. Da ist etwas aufgerissen worden, was ich nicht mehr in den Griff bekam.

Ich fühlte, sie verstehen mich nicht und ich schämte mich zugleich, etwas so Schlimmes von mir preisgegeben zu haben, obwohl ich es nicht so erzählt habe, dass jeder sich die Situation ausmalen konnte. Wer mag schon mit jemand Umgang haben, der von zwei schwarzen Kötern (nicht gebissen, das wäre mir lieber, da brauchte ich mich nicht so vor mir selbst ekeln und mich verstecken und Angst haben, jemand sieht es mir an). Ich fühle mich seitdem immer und immer wieder in dieser Situation, denke daran, spüre die verdammten Viecher und die Schmerzen, den Strick um den Hals, damit ich nicht wegkriechen kann. Mir tut alles weh, die Hüften, der Rücken und auch unten. Mein Hals und mein Nacken spielen mir schon lange übel mit.

Ja, all das konnte ich nicht mehr allein aushalten, Therapiegespräche und Arztbesuche und Medikamente halfen mir nicht. Morgens ging es mir so schlecht, dass ich nicht aufstehen konnte und abends konnte ich nicht schlafen. Putzen, Putzen, damit keiner sieht, wie schmutzig ich bin. Ich kann nicht mehr, habe nur noch geheult und angefangen mich zu schneiden und dann auch noch im Woolworth geklaut. Wieso? Wozu? Was? – Sinnloses Zeug immer. Meist habe ich es weggeworfen. Ich war einfach fertig. Ich bin erwischt worden. Da hat wenigstens einer gesehen, wie schlecht ich bin – es glaubt ja keiner. Ja, das bin ich! Meine Brüder haben auch geklaut, mein Vater hat geklaut, alle saßen deswegen im Knast, aber für meine Mutti waren sie die besten und ich der letzte Dreck. Sie hasst mich – ich habe es gespürt und in ihren Augen gesehen. Sie hasst mich.

Dreck muss man wegprügeln! Und sie hat mich verprügelt und ich bin weggelaufen und es war schlimm. Ich wollte doch wenigstens meine Mutti wieder haben.

Ja – ich habe Sehnsucht nach meiner Mutti. Hab nun schon 2 x angerufen und nur ihre Stimme gehört und nichts gesagt. Warum kann sie nicht zu mir so sein, wie zu meinen beiden Brüdern? Da sagt sie, das sind prima Kerle, dabei saufen beide und haben schon gesessen. Aber die sind in Ordnung, nur i c h bin DRECK, der letzte Dreck. Ich wünsche mir doch nur eine Mutti. Es wäre besser, sie wäre tot ..., dann wäre die Hoffnung, doch noch von ihr wie eine Tochter geliebt zu werden, sinnlos. Die Hoffnung ist auch so sinnlos, doch ich sehne mich danach, wenigstens einmal in den Arm genommen zu werden. Ich sehne mich danach, wie ein kleines Kind getröstet zu werden und in ihren Amen sicher zu sein. Immer habe ich gehofft, sie hilft mir, sie wird mir helfen, wenn sie es merkt. Sie hat es gemerkt, sie hat es gewusst – sie hat nichts dagegen getan, sie hasst mich sogar dafür, was mir passiert ist. Sie gibt mir die Schuld – sonst würde sie mich doch nicht hassen – oder?

Aber deswegen bin ich nicht hier. Doch, ein bisschen schon. Ich liebe sie immer noch, was an ihr liebenswert ist, weiß ich nicht und ich habe Angst vor ihr.

Am Wochenende hatte meine Nachbarin ihren 5jährigen Sohn zu Hause. Ich war zufällig auf dem Balkon und da höre ich ihn schrecklich schreien. Mein Kätzchen, mein Kätzchen, die Frettchen beißen es tot, dabei hat es gar nichts gemacht.

Ich bin gerannt, rüber zu meiner Nachbarin, die Haustür stand offen und sie war beim Staubsaugen, hörte also nicht, wie jämmerlich ihr Kleiner vor Angst schrie. Ich lief an ihr vorbei ins Bad. Da stand der Kleine in der Wanne, auch er hat Angst vor Frettchen, weil diese Biester wirklich böse beißen können. In der Wanne war er sicher, aber sein Kätzchen nicht. Ich suchte es und fand es dann hinter der Waschmaschine und nahm es hoch. Es zitterte. Der Junge weinte und zitterte. Inzwischen kam meine Nachbarin ins Bad und sah, was los war.

Ach, das ist nicht so schlimm, die müssen sich aneinander gewöhnen und das unter sich ausmachen. Zwei erwachsene Frettchen und ein 6 Wochen altes Kätzchen. Ich weiß, dass Frettchen sogar in den Fuchsbau geschickt werden, um den Fuchs aus dem Bau zu beißen – sie sind nicht ungefährlich. Ich stand im Bad und hielt die Katze im Arm, der Kleine stand noch immer in der Badewanne und weinte. Ich sagte. Ich nehme die Katze mit aus dem Bad. Meine Nachbarin nahm mir das Kätzchen einfach weg, schickte den Kleinen und mich aus dem Bad und sagte mir noch, ich solle auf meine Beine aufpassen, damit mich die Frettchen nicht beißen. Ihr Sohn und ich verließen also ohne das Kätzchen das Bad. Der Junge sagte mir noch, dass es ihm nicht gefällt, dass die Frettchen sein Kätzchen einfach beißen, obwohl es sie nicht gebissen hat. Er mag so was nicht. Ich sagte zu ihm: Sag Mama, ich gehe nach Hause, ich mag das auch nicht, was hier passiert, ich kann damit nicht umgehen. Es ist nicht richtig. Später bekam ich dann einen Anruf, ich würde mit meiner Angst nur das Kind verrückt machen. Dem Kätzchen würde schon nichts passieren. Es ist nun mal so, dass die Tiere das unter sich ausmachen. Das ist so ein ausgemachter Blödsinn, solche Sprüche loszulassen und auch noch daran zu glauben. Eine Rangordnung schaffen sich gleichartige Tiere untereinander und es ist nun mal so, dass man keinesfalls ein Jungtier solchen Gefahren und Ängsten aussetzt.

Wieder war da eine Kopplung mit meiner Vergangenheit. Wie kann sich ein kleines Mädchen gegen erwachsene Männer wehren, denen es ausgeliefert wird. Ich sah wieder das Kätzchen in meiner Person und es wurde gequält von 2 Erwachsenen und keiner tut etwas dagegen. Nicht einmal ich. Ich habe es versucht, aber mehr habe ich mich nicht gewagt – ich bin geflüchtet. Ich habe nicht geholfen, hatte Angst, angebrüllt zu werden, bin weggelaufen und habe geheult.

Jetzt, wo ich in der Klinik bin, erzählte mir mein Mann, dass meine Nachbarin das kleine Kätzchen bei der größten Kälte auf dem Balkon ausgesperrt hat, obwohl sie es gar nicht gewöhnt ist und noch nie draußen wahr. Sie hat jämmerlich gebrüllt und geschrieen. Ich wurde mit eiskaltem Wasser abgespritzt (gereinigt) und dann habe ich zitternd in der Hütte gesessen, ohne Kleider und habe gefroren, wie eine nasse Katze.

Damals war ich 10 Jahre alt.

Später hat mein 1. Ehemann mich einmal nachts geprügelt und dann im Nachthemd vor die Haustür getreten. Keiner hat etwas mitbekommen, und zu einem Haus in der Nähe zu gehen, da habe ich mich geschämt. Ich bin in den Hundezwinger in die Hütte von unserem Hund gekrochen und habe dort die Nacht verbracht, zitternd und frierend, allein, im Stich gelassen. Aber ich konnte mich an den Hund drücken und mich an ihm wärmen, denn es war schon kalt, es war gefroren, das weiß ich noch.

Ist Blödsinn, nicht wahr. Ist für jeden Normaldenkenden totaler Blödsinn. Aber hier ist etwas passiert, was ich mir nicht gewünscht habe. Es ist so, als wäre ich das Kätzchen. Ja, lacht nur. Ich denke ja selbst, ich bin nicht ganz dicht im Kopf.

Ich habe Schmerzen, schreckliche Schmerzen in den Armen, mein Nacken, meine Schultern, mein Rücken. Manchmal kann ich mich kaum bewegen, bin fast steif- aber es ist nichts Körperliches, es ist nichts da, nur diese verdammten Schmerzen und sie bringen mich bald um den Verstand. Wie oft in der letzten Zeit habe ich daran gedacht, mich umzubringen, um diese Schmerzen nicht mehr aushalten zu müssen.

Es tut alles so verdammt weh und ich habe schreckliche Angst, ich halte diese verdammten Schmerzen nicht mehr lange aus. Will sie nicht mehr aushalten müssen. Habe es satt sie aushalten zu müssen. Ja, am liebsten würde ich dem Ganzen ein Ende bereiten und ich bin nah dran gewesen, deshalb sitze ich jetzt hier in der Klinik in diesem Zimmer. Aufarbeiten, klären und die Schmerzen loswerden, wie oft war das schon mein Ziel – habe es schon erreicht, die Schmerzen loszuwerden. Es ist ja auch viel passiert. Aber mit meinem neuen Therapeuten schaffe ich das noch nicht, es sind ja gerade mal 9 Sitzungen gewesen und dann nur l pro Woche. Das ist wahrscheinlich zur Zeit noch zu wenig. Die Ärztin habe ich auch gewechselt bin jetzt in unserer Nähe bei einer Psychologin in Behandlung? Bei Herrn Dr. L. konnte ich nicht reden, habe nicht mal richtig erklären können, wie es mir geht. Nun bin ich in Bad Breisig bei Frau Dr. med. S.-A., Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie – Psychotherapie. Bei den wenigen Terminen, die ich bis jetzt bei ihr wahrnehmen konnte, fühle ich mich sehr gut aufgehoben und auch verstanden und vor allem, ich kann ohne mich zu schämen, sagen, wie es mir geht und es auch erklären. Ich bin froh, dass ich gewechselt habe.

Na ja, nun bin ich in der Klinik und der zweite Tag ist fast rum. Ich sitze am Abendbrottisch. Es ist Samstag und während dem Abendessen passiert es. Eine Mitpatientin, sie sitzt mit dem Rücken zu mir und hat langes dunkles Haar, bekommt einen Anfall (welcher Art, weiß ich nicht.) Ich saß genauso, dass ich sie nur von hinten sehen konnte, den Hinterkopf, die Haare, die Arme. Sie hob die Arme hoch, seitwärts und zuckte mit dem Kopf und den Armen. Die Hände krampften und öffneten sich wieder. Ihr Kopf fiel manchmal nach hinten, ohne das ich das Gesicht sehen konnte. Ich saß da und war starr, hörte ein paar leise Töne, die sie von sich gab und auch, dass sie schrie, ganz schrecklich schrie. Ich wollte aufstehen, ihre Augen sehen, ihr in die Augen sehen, ihr helfen.

Jetzt Flashback:

Ihre Hände fielen zur Seite und blieben reglos – Stille. Ich wollte ihre Augen sehen, ihr Gesicht sehen. Ich kam nicht hin, hockte an der Wand, festgehalten von einem Strick um den Hals. Ich konnte ihr nicht helfen und ich wagte mich auch nicht, mich zu bewegen, ich war starr. Sie haben sie rausgetragen aus dem Raum. Zwei haben sie rausgeschafft und sie hat sich nicht bewegt. Ich weiß nicht, ob sie noch lebte oder tot war. Sie sah aus wie tot. Ihre Arme hingen runter, die Beine auch und der Kopf fiel nach hinten. Ich konnte kurz ihre Augen sehen, sie waren offen – sie hat mich nicht gesehen. Ihre Augen waren reglos. Die Männer waren nicht mehr so amüsiert, sie waren irgendwie erschrocken, taten aber so, als sei nichts passiert. Ich war starr vor Schreck, wollte weg, wollte schreien, konnte nicht schreien, mich nicht bewegen. Hab nur hingesehen. Dann haben sie mich angesehen, die zwei, die noch im Zimmer waren und der, der den Strick gehalten hat. Es war mein Opa.

Ich denke, das Mädchen, das ich heute zum ersten Mal gesehen habe, ist tot. Ich denke, jetzt ist es soweit, jetzt bringen sie mich auch um. Ich habe nicht geschrieen, mich nicht gewehrt – ich habe gesehen, was gerade vor mir passiert ist.

Weiter weiß ich nichts – ich weiß nicht, was sie mit mir gemacht haben. Ich weiß nicht, wer das andere Mädchen war oder ist und ob sie noch lebte oder tot war. Ich weiß nichts.

Und erzählen brauchte ich auch nichts – mir glaubt doch sowieso keiner.

Ich weiß kein Jahr, keinen Tag und ich weiß nicht welches Haus und wer diese Männer sind, nur meinen Opa kenne ich und der ist jetzt tot. Er ist einen normalen Alterstod gestorben und ist somit sicher vor meinen Fragen.

Ja, was weiß ich schon – nichts.

Würde ich mich wagen, ihn zu fragen, wenn es möglich wäre? Ich weiß es nicht, aber ich hoffe, ich hätte den Mut dazu. Würde ich vor Wut auf ihn einprügeln, wenn ich es jetzt könnte? Ich hoffe es – ich weiß es nicht. Wie es mir jetzt geht? Noch schlechter, als ich hier reinkam. Und wie soll ich damit fertig werden? Ich weiß es nicht? Verdammt noch mal, ich weiß es nicht. Ich kann es nicht aushallen, wenn ich daran denke und um es auszuhalten, schneide ich mich, schneide mich immer und immer wieder in den Arm. Ich habe mich sonst auch geschnitten, aber so, wie jetzt hat mein Arm noch nie ausgesehen Es reicht trotzdem nicht, um es auszuhalten.

12.01.2005 Brief an eine Tote

Ich kannte dich nicht – sah dich aber sterben.

Wie alt warst du? 6 oder 7 Jahre alt? Ich glaube, ich war 8 Jahre.

Es ist lange her, genau 42 Jahre und nun ist es da. Ich stehe an der Tür, bin noch nicht dran. Mein Opa hält mich am Strick um den Hals fest.

Zwei Schritte von mir entfernt liegst du und sie tun dir weh – schrecklich weh. Ich sehe, wie du zusammenzuckst und höre Deine Schreie, kann nicht zu dir – werde festgehalten und fürchte mich sehr.

Aber ich kann nicht weg sehen, nicht weg hören. Zwei Schritte von mir entfernt ist Dein köpf und fallen Deine Haare nach hinten. Ich weiß nicht, ob ich weinte – ich weiß nur, was vor mir geschah.

Sie quälten dich und taten dir schrecklich weh. Ich konnte nicht helfen, konnte nicht zu dir. Ich hatte einen Strick um den Hals und wurde festgehalten und ich schämte mich, weil ich außer dem Strick nackt war. Starr und steif stand ich da und musste zusehen, wie du stirbst. Dein Schreien wurde leiser und hörte auf und deine Fäuste öffneten sich und Deine Hände lagen auf einmal einfach locker da. Dein Kopf rollte zur Seite und dann war es still – ganz still.

Sie sahen sich an – erschrocken. Sie sahen mich an – überlegend. Ich bekam Angst – werde ich auch gleich so da liegen, wie du? Sie schafften dich raus, Dein Kopf fiel nach hinten. Ich konnte Dein Gesicht sehen. Deine Mundwinkel waren blutig.

Überall waren blaue und blutige Flecken an dir. Du warst jünger als ich und bist gestorben.

Sie haben es getan. Sie haben dich so gequält, dass du gestorben bist. Ich wünschte, ich wäre an Deiner Stelle gewesen – vielleicht wäre ich nicht gestorben, denn ich war schon oft mit Opa dort.

Aber du bist gestorben.

Ich wollte helfen – konnte nicht helfen. Es tut mir leid. Ich wünschte, ich wüsste wenigstens Deinen Namen.

Was haben sie mit dir gemacht? Hat Deine Familie je erfahren, was Dir passierte? Ich weiß es nicht.

Es ist so schlimm für mich, dass ich nicht weiß, wo, wann und durch wen es passierte – dabei stand ich 2 Schritte davor und musste zusehen.

Es hat über 40 Jahre gedauert, diese grauenvollen Minuten wieder zu sehen. Ist es meine Schuld, dass es so lange dauerte? Nun muss ich damit leben, bei Deinem Tod zugesehen zu haben. Ich weiß nicht, wie ich das schaffen werde, damit zurecht zu kommen, dass ich nichts tun konnte.

Erst habe ich mir gewünscht: „Ich will es nicht wissen.“ Dann: „Nein, es ist nicht passiert.“

Aber es ist passiert und ich weiß es. Ich konnte dir nicht helfen, aber ich habe dir auch nicht wehgetan – es hat mir mit wehgetan, was sie mit dir machten. Ich habe Deine Schmerzen mitgefühlt, ich wollte nicht, dass du stirbst.

In den letzten Tagen habe ich gedacht, ich halte es nicht aus – damit zu leben, was ich 2 Schritte vor mir gesehen habe.

Jetzt habe ich das Ziel, es auszuhalten, damit du nicht vergessen wirst.

DENN ICH WERDE DICH NICHT VERGESSEN – du hast es nicht verdient, vergessen zu werden.

Sicher, Deine Familie wird dich nie vergessen – sie kennt Deinen Namen und den Tag an dem Du verschwandest. Ich kenne Deinen Namen nicht, aber ich weiß, wie grauenvoll du gelitten hast, ehe du gehen konntest, um nicht mehr zu leiden.

Armes unbekanntes Mädchen ich werde immer an dich denken, so als hätte ich dich ein Leben lang gekannt.

Tina