20.4.05

Nun habe ich seit dem 24.02.05 nicht mehr geschrieben, es ging nicht. Ich habe mich geschämt und gefürchtet, alle meine Gefühle aufzuschreiben und immer wieder aufzuschreiben, weil ich Angst habe, das liest jemand und denkt, ich bin genau, wie mein Opa. Weil ich zu meinem Opa dazugehöre, weil ich doch mit ihm verwandt bin. Er war da und hat auf mich aufgepasst, genau aufgepasst, was die vier mit mir machen und, wenn es zu schlimm wurde, dann hat er einfach nur „Stopp“ gesagt und sie haben damit aufgehört und was anderes mit mir getan. Er war immer da, saß in dem Sessel, die Beine übereinandergeschlagen und hat alles genau beobachtet und ich habe, wenn ich konnte hingesehen und versucht, zu betteln, dass er mir hilft, damit die mir nicht wehtun. Reden konnte ich nicht, aber ich habe ihn angeguckt. Er hat mir nicht wehgetan dort, er hat nur zugesehen. Aber als das erste Mädchen dort war, hat mein Opa nichts gesagt und nichts gemacht. Er hat zugesehen. Ich war neben ihm, stand da, hatte nichts an und den Strick an dem er mich festhielt, um den Hals. Ich habe gesehen, wie die das Mädchen mit den dunklen Haaren auf den Tisch gelegt und festgebunden haben. Ich habe gesehen, was sie für Angst hatte und wie sie geweint hat. Sie sah aus, wie eine große Puppe, aber sie war keine Puppe, sie war ein richtiges kleines Mädchen und hat schrecklich geweint und vor Angst gezittert.

Ich weiß, was die jetzt mir ihr machen werden und sie tut mir schrecklich leid. Ich möchte ihr helfen – kann aber nichts machen. Möchte meinen Opa bitten, dass er ihr auch hilft, wie mir, aber ich traue mich nicht etwas zu sagen. Seine Augen sehen kalt aus, obwohl er lächelt. Ich bleibe ganz still stehen und traue mich nicht, mich zu bewegen, damit die mich nicht sehen, dabei stehe ich neben Opa und bin zu sehen.

Ich will irgend etwas machen, damit die ihr nicht so weh tun, aber ich traue mich nicht, stehe da und kann mich nicht bewegen und meine Augen sehen, was passiert und dass ich helfen müsste, aber ich kann mich nicht bewegen.

Ich schäme mich heute, weil ich nichts gesagt habe, weil ich meinen Opa nicht gebettelt habe, zu helfen. Ich schäme mich, weil ich mich nicht bewegen konnte und nichts tun konnte. Ich schäme mich, weil ich einfach nur dastand und hinsah. Ich weiß, warum sie so schrecklich schreit, was die gerade mit ihr tun – wie weh das tut und steh da und kann mich nicht bewegen. Ich hätte doch auch gehofft, dass mir jemand hilft und ich kann nicht sagen, wie entsetzlich ich mich fühle, weil ich nichts, gar nichts getan habe. Es tut mir so schrecklich leid. Ich habe das nicht gewollt und es ist viel, viel schlimmer, wenn das Mädchen schreit, als wenn die das mit mir machen und es mir passiert. Es ist viel schlimmer sie so schreien zu hören und dann, dann ist es still, ganz still. Die 4 sind auch still und ich merke, dass etwas ganz schlimmes passiert ist, denn die sind erschrocken und sehen sich an und sehen meinen Opa an.

Ich stehe immer noch da und bin steif, kann nur sehen und hören. Es ist ganz still und sie bewegt sich nicht mehr, der Kopf ist nach hinten gekippt und ihre Haare hängen runter, aber sie bewegt sich nicht mehr. Die Arme hängen schlapp an den Seiten und die Hände bewegen sich nicht mehr. Ich kann nichts dafür, ich wollte das nicht, dass sie ihr so wehtun, ich wollte es sagen, wollte die anbetteln – ich konnte nichts sagen. Ich stehe da und es tut mir leid. Es tut mir so sehr leid. Ich möchte ihre Haare streicheln und mich entschuldigen, dass ich dabei war und sagen, dass ich das nicht wollte. Aber ich kann mich nicht bewegen und ich traue mich nichts zu sagen.

Dann ist sie ganz schnell weg. Ich habe noch ihren Kopf, der nach hinten hing, als der sie rausgetragen hat gesehen und ihre Augen gesehen. Sie hat mich angesehen, aber sie war tot. Ihre Augen waren offen und es war so, als würde sie mich ansehen. Ich habe mich so geschämt, ich konnte sie nicht streicheln, ihre Haare nicht berühren – es waren nur zwei Schritte, aber ich konnte mich nicht bewegen und dann war sie weg.

Ich weiß, dann war ich auf dem Tisch und alles passierte wieder, genauso, wie bei dem Mädchen, auch mein Opa hat mitgemacht, war nicht mehr für mich da. Ich wusste, jetzt werde ich auch sterben, mein Opa beschützt mich nicht mehr und ich habe solche Angst und es tut so sehr weh, ich schreie, bis ich nicht mehr schreien kann. Am schlimmsten ist es, wenn sie mir die Nadeln in die Füße stechen. Ich denke jedes Mal, ich sterbe – genauso, wie das Mädchen. Sie hat sich immer und immer wider aufgebäumt und grauenvoll geschrien, dann war es vorbei – und dann wieder. Damit hatten sie viel Spaß, dabei war es das Allerschlimmste. Da habe ich mir gewünscht, ich könnte genauso still werden und nichts mehr merken, wie das Mädchen – ich habe mir gewünscht auch zu sterben. Aber ich bin nicht gestorben und ich schäme mich, dass ich noch da bin und mein Opa aufgepasst hat, dass ich noch da bleibe. Bei dem Mädchen hat er nicht aufgepasst. Nur zugesehen und gelächelt.

Er war nicht böse, wenn sie ihr zu wehgetan haben, wie bei mir, wenn er dann „Stopp“ gesagt hat. Ich schäme mich dafür, dass bei mir jemand da war, der „Stopp“ gesagt hat und bei dem Mädchen nicht. Es tut mir so leid, dass ich mich nicht bewegen konnte. Es tut mir so leid, dass ich zugesehen habe. Es tut mir so schrecklich leid. Ich wollte nicht dass das passiert. Ich wollte nicht zusehen, ich wollte etwas sagen, etwas tun, ich konnte mich wirklich nicht bewegen. Es tut mir so schrecklich leid und ich schäme mich dafür, dass ich dir nicht geholfen habe. Wenn ich wenigstens Deine Haare gestreichelt hätte, damit du weißt, ich bin nicht so böse. Ich wollte es so gern tun, aber ich konnte mich nicht bewegen.

Auch, wenn man mir sagt, dass ich es schaffe, damit zu leben, ich kann es mir nicht vorstellen. Das ist in mir drin, dieses Alles, was ich beschrieben habe und es ist nicht einmal alles genug beschrieben, um begreiflich zu machen, wie schlimm es ist und wie schrecklich schmerzhaft, das ist als würde ich innerlich zerrissen, das tut so weh und dazu das Gefühl, ich muss mich verkriechen, ich muss mich dafür schämen.

Verdammt, ein Autounfall wäre auch schrecklich, aber hier das, das war kein Autounfall und ich muss mich verkriechen damit, weil über einen Autounfall kann man reden aber darüber? Was ist los? Wieso bist du solange in der Klinik? Wie lange bist du denn noch hier? Es war für mich schlimm, aber ich bin noch da und was soll ich für Antworten geben? Wie soll ich mich rechtfertigen, dass ich noch da bin, noch lebe. Wie soll ich erklären, warum ich solange in der Klinik war, ohne mich zu schämen.

Ich wollte den Tagesbericht schreiben und was hätte ich draufschreiben können. Ich habe Schmerzen, kann vor Schmerzen nicht richtig laufen.

Es zerreißt mich bald vor Trauer, Schmerz und Scham und ich kann es nicht aushalten, auch wenn ich versuche es nicht zu zeigen. Keiner weiß, wie das ist, das aushalten zu müssen.

Es sind zwei Mädchen gewesen, wo ich mit zusehen musste, wie sie gequält wurden und wie sie auf einmal still waren, nicht mehr geschrieen haben und gestorben sind.