16. Immer und immer wieder

In den Motor des Cadillacs war Wasser eingedrungen, und der Bordcomputer war dauerhaft kaputt. Schlimmeres noch hatte David von seinen Eltern auszuhalten.

»Hattest du getrunken?«

»Er ist jetzt noch voll! Guck dir doch seine Augen an!«

»Du hast uns einen fürchterlichen Schreck eingejagt!«

»Merkst du, was du deiner Mutter da antust?«

David schaute beharrlich zu Boden.

»Du stehst unter Hausarrest«, sagte Mr Sun. Dann, in sein Headset: »Nein, nicht du, Larry. Ich rede mit meinem Sohn.«

Der Hausarrest an sich war nicht so schlimm – nur eine Woche. David mutmaßte, dass sie ein schlechtes Gewissen hatten. Schließlich war Sakora ihre schlechte Idee gewesen. Sie waren schuld daran, dass er so deprimiert war. Zumindest ließ er sie das denken. Und er war ja tatsächlich deprimiert. Er brauchte die Mitteilung von Dr. Roger nicht, um das zu wissen.

Er begann, nachts durch die Gegend zu laufen, etwas, das er nie zuvor getan hatte. Zu Fuß fand er sich nur mühsam zurecht. Er hatte die Nebenwege der Umgebung immer nur von einem Sportsitz aus wahrgenommen, und auf seinen ruhigeren, langsameren Wanderungen verlief er sich häufig. Er erkannte nichts wieder.

Was war passiert? Er war zu schnell gefahren – eine schlichte Feststellung, die keiner Erklärung bedurfte. Trotzdem kehrte er immer und immer wieder zu dieser Frage zurück. Was ist passiert? Er fuhr gerne schnell, und diesmal war er zu schnell gewesen. Darin steckte keine tiefere Bedeutung. Sein Fuß war eben abgerutscht, oder er war abgelenkt gewesen. Es war eindeutig ein Unfall, völlig klar. Warum also beschäftigte ihn die Frage so sehr? Der springende Punkt war das Ergebnis – sein Wagen war Schrott, und er lief wie ein Penner im Wald herum.

Nachts war es so dunkel, dass er kaum die Hand vor Augen sah. Das setzte seine Fantasie in Gang und brachte ihn auf verrückte Gedanken. Was, wenn er im Begriff war, sich zu verwandeln? Wenn er zu einem Wolfsmenschen wurde oder zu einem schleimigen, schuppigen Etwas mit Saugnäpfen an den Fingern? Im Dunkeln konnte er sich nicht sicher sein. In manchen Nächten jagte er sich selbst so viel Angst ein, dass er nach Hause rannte, nur um das Licht einzuschalten. Und wenn er sich dann im Flurspiegel anschaute und sah, dass er sich nicht verwandelt hatte, war er irgendwie fast enttäuscht.

Eines Nachts, zwei Wochen nach dem Unfall, begann er sich zu fragen, ob er tot war. Er wusste, dass er in Wirklichkeit nicht tot war – er hatte gerade eben mit Willow gesimst, und Geister schrieben keine SMS. Aber trotzdem … was wäre, wenn? Was, wenn sein Geist durch die Wälder streifte und sich nur einbildete, lebendig zu sein? David glaubte nicht an Himmel oder Hölle, aber es erschien ihm einleuchtend, dass ein Geist sich an der Stelle herumdrücken würde, an der er gestorben war. Als wollte er versuchen, wieder in die Welt zurückzukehren, obwohl die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war.

David fand sich am See wieder. Der Mond spiegelte sich in der schwarzen, fast zugefrorenen Oberfläche. Und dann entdeckte David etwas, das wahrhaftig wie ein Geist im Wasser aussah. Etwas Weißes glitt auf das Ufer zu. David erstarrte, und sein Verstand schrie den Beinen zu, sie sollten weglaufen. Jetzt durchbrach der Geist die Wasseroberfläche, und er sah, dass es Charlie Nuvola war, auf einem mitternächtlichen Schwimmausflug bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt.

»Was machst du denn da?«

Charlie schaute hoch. Nicht überrascht, nur neugierig. Anstelle einer Antwort watete er ans Ufer. Dort wartete ein Seesack auf ihn. Er holte ein Handtuch und drei Trainingsanzüge heraus. Von seiner mondweißen Haut stieg Dampf auf. Er zog die Trainingsanzüge an, und erst dann schien ihm so kalt zu werden, dass seine Zähne klapperten.

»Frierst du nicht wie verrückt?«

»Als ich klein war, haben mein Vater und ich immer am Eisbärenschwimmen im Olive Lake teilgenommen«, sagte Charlie. Er zog einen fellgefütterten Mantel über und schnürte ein Paar robuste Wanderstiefel. »Der ist nicht mal komplett zugefroren.« Er unterbrach sich und warf einen langen Blick aufs Wasser. »Er ist nämlich sehr tief. Tiefer als ein normaler See, verstehst du. Weil es ein Stausee ist.«

»Das hab ich auch gehört.«

David wollte weg von ihm. Es war gruselig – ausgerechnet auf Charlie zu treffen, der im Dezember, mitten in der Nacht, schwimmen ging.

»An diesem Ende ist der See tiefer«, sagte Charlie. »Als sie den Fels gesprengt haben, ist es letztlich hier tiefer geworden. Das ist so was wie ein riesiger Swimmingpool, mit einem tiefen und einem flachen Ende. Ich wundere mich, dass man nicht mehr Leute trifft, die hier schwimmen gehen.«

»Es ist verboten, im See zu schwimmen«, sagte David.

Charlie zuckte die Achseln. »Vieles ist verboten.«

David zog den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Kinn hoch und vergrub die Hände in den Taschen. Ihr Gespräch war beendet. Dennoch zögerte er und blieb noch einen Moment am Seeufer stehen.

»Glaubst du, sie ist noch …« David suchte nach dem passenden Wort, aber er hatte es bereits parat. »Glaubst du, sie ist noch am Leben?«

Charlie nickte. »Ich glaube das nicht«, sagte er, ohne zu zögern. »Ich weiß es. Genau gesagt, ich …« Aber dann verstummte er und warf David einen prüfenden Blick zu.

David öffnete den Mund zu einer Antwort. Eine Autohupe schnitt ihm das Wort ab. Scheinwerfer schwenkten über die Bäume, und der Kies knirschte, als ein ramponierter Cadillac von der Cliff Road abbog. Charlie sammelte seine Sachen ein und joggte zur Beifahrertür.

»Ich werde abgeholt.« Er wandte sich noch einmal zu David um. »Sollen wir dich mitnehmen?«

David sagte nichts. Charlie wartete noch eine Sekunde, dann stieg er ein. Die Fahrerin war ein dunkelhaariges Mädchen, das David irgendwoher kannte. Der Wagen wendete und fuhr auf die Straße zurück. David sah die Bremsleuchten, als die beiden die Kreuzung Cliff Road und Horizon erreichten; dann verließen sie die Seeuferstraße und fuhren die Route 28 A entlang, tauchten die Nacht in dunkelrotes Licht, bevor sie aus dem Blickfeld verschwanden.

Es war ein langer, langsamer, kalter Weg nach Hause.

Als er wieder im Haus war, meldete er sich bei Willow. In letzter Zeit unterhielten sie sich viel. Clay und Artie hatten ihn deswegen aufgezogen und gesagt, er wolle sich wohl über die Enttäuschung hinwegtrösten. Aber David war klar, dass es die beiden nicht besonders interessierte. Wenn überhaupt, schienen sie erleichtert, dass er die andere Sache überwunden hatte. Er staunte, wie er und Willow dort weitermachen konnten, wo sie aufgehört hatten, als handelte es sich um die Fortsetzung eines Films, in der genau die gleichen Witze gemacht werden.

In jener Nacht videochatteten sie stundenlang. David gefiel ihr Gesicht auf dem Monitor, ihm gefielen ihre schmalen roten Lippen und das goldblonde Haar. Er hatte Willows Videofenster im Zentrum von Monitor 2 geöffnet. Während sie chatteten, blendete Monitor 3 in schnellem Takt Seiten mit Date-Ratgebern ein, Essensreservierungen für zwei, sogar Tönungsmittel für blondes Haar. Monitor 1 nahm das Stichwort auf und zeigte berühmte Blondinen wie Marilyn – Monitor 2 bot Schwarz-Weiß-Videos von Retro_Flix.com an. Monitor 3 ließ alte Filmzitate durchlaufen, dann huschte der Eintrag von StarryEyedStranger42 vorüber: »Hätte ich es schon vor langer Zeit getan, hätte es mir eine Menge Kummer erspart.« – Peg Entwistle.

Während David und Willow ihren Spaß miteinander hatten, liefen die Seiten durch, sie nahmen voneinander Stichworte auf, immer und immer wieder, alles war miteinander verknüpft. Jetzt, da alle Lichter brannten, die Bildschirme an waren und seine Musik aus den Lautsprechern kam und Willow strahlend lächelte, ging es David besser, und er vergaß alles, was nicht verbunden war.

ENDE

Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012