3. Behandlung

Wie Charlie war auch David ein Einzelkind. Sein Vater war ein »viel beschäftigter Mann« wie aus dem Lehrbuch. David konnte ihn sich nicht ohne Headset und Laptop vorstellen. Für David war das in Ordnung. Mr Sun arbeitete hart, um seine Familie mit netten Dingen beschenken zu können, etwa mit Davids neuem Cadillac, der so schwarz und glatt war, dass das Licht direkt an ihm abzugleiten schien. Was David nervte, war die Art, wie sein Vater ihn manchmal anschaute – als wäre er ein Fehler im System.

»Was machst du eigentlich den ganzen Tag?«, blaffte Mr Sun nach dem zweiten Cocktail vor dem Essen.

»Ich stelle die Verbindung zur Zukunft her«, sagte David darauf und zitierte damit den Slogan von Sun Enterprises.

Aber so konnte er mit seiner Mutter nicht reden, denn sie hatte Gefühle. Sie hatte geweint, als sie seine Zigaretten fand, und noch einmal geweint, als er sagte, sie gehörten Lupe, der Putzfrau.

»Oh, Davie. Warum willst du mir das Herz brechen?«

Mrs Sun interessierte sich stark für Spiritualismus. Ihre Zwillingsschwester war vor einigen Jahren gestorben, und danach hatte sie begonnen, Seancen zu veranstalten und Kristallkugeln zu kaufen. Sie wartete auf eine Botschaft von ihrer Schwester, aber bisher war nichts gekommen.

»Mom, das kannst du nicht ernst meinen mit diesem Kram«, sagte David gelegentlich.

»Ach, Davie. Warum willst du mir das Herz brechen?«

Der Dialog wiederholte sich, immer und immer wieder.

Eines Mittwochmorgens wurde David ins Büro der Schulpsychologin gerufen. Die frühere Seelenklempnerin hatte am Montag den Dienst quittiert. Wahrscheinlich hatten sie wieder so eine alte Schachtel wie Dr. Lightly eingestellt, die auf Hühnerbeinen durch die Gegend watschelte.

Als er an die Tür klopfte, antwortete eine Männerstimme. Der neue Arzt war jung, mit straffer bräunlicher Haut und ölig nach hinten gegelten Haaren.

»David«, sagte er und stand auf, um ihm die Hand zu schütteln. Seine Stimme war wie Kakaobutter. »Ich bin Dr. Roger.«

»Ist das ein Vor- oder ein Nachname?«, erkundigte sich David.

Dr. Roger lachte.

Dr. Lightly hatte Familienbilder an die Wand gehängt, aber jetzt thronten dort Dr. Rogers Diplome wie eine Galerie von Fernsehbildschirmen. David las die Namen – Harvard Medical, Child Study Association of America und ein Institut namens Center for Young Adult Relations (das Dokument war unterzeichnet vom Direktor und Gründer, Dr. Froy). Die albernen Poster mit Katzen und Schildkröten waren ebenfalls verschwunden und hatten helle Stellen an der Wand hinterlassen.

»Und, was gibt’s, Doc?«

David setzte sich in einen der quietschenden Ledersessel. Dr. Roger faltete die Hände. Dr. Lightlys Kobolde mit den regenbogenbunten Haaren waren ersetzt worden durch eine Schreibunterlage, ein Telefon und einen kleinen roten Holzvogel, einen von denen, die ihren Schnabel immer wieder in ein Glas Wasser tauchen. Dr. Roger berührte den Schnabel, und er begann zu wippen.

»Also, David. Wie geht es Ihnen heute?«

»Nicht schlecht.«

»Gut. Ich habe Ihre Eltern gebeten, uns Gesellschaft zu leisten.«

Davids Sessel quietschte. »Hä?«

»Hallo, David«, sagte die Freisprechanlage auf Dr. Rogers Schreibtisch. »Hier spricht dein Vater.«

»Dad?«

»Hallo? Funktioniert das?« Die Stimme am Telefon klang jetzt anders. Höher. Davids Mutter. »Ich weiß nicht, ob ich das jetzt richtig bediene. Hallo?«

»Ich lasse dafür ein Geschäftsessen ausfallen, David«, fiel Mr Suns Stimme ein. »So wichtig ist es mir.«

Die Lämpchen blinkten hartnäckig. David warf dem Doc einen empörten Blick zu. »Was soll das hier sein? Ein Überfall aus dem Hinterhalt?«

Dr. Roger hob beide Hände. »Immer mit der Ruhe. Keiner überfällt hier irgendwen, David. Ihre Eltern machen sich Sorgen, und wir alle halten ein offenes Gespräch an diesem kritischen Punkt für das Beste.«

»Hallo?«, sagte Mrs Sun. »David, mein Herzchen, wenn du mich hören kannst – ich bin’s, deine Mutter, und wir lieben dich sehr.«

»Himmel, Evelyn«, sagte Mr Sun. »Vierzehn Jahre in diesem Haus, und du kennst dich immer noch nicht mit dem Telefon aus?«

»George? Bist du das? Dich höre ich, aber ich kann David nicht hören.«

»Ich bin da, Mom«, sagte David.

»Hallo?«

Dr. Roger räusperte sich. »David, wir würden gern mit Ihnen über den vergangenen Freitag reden.«

»Was ist denn vergangenen Freitag passiert?«

»Vielleicht möchten Sie es uns erzählen?«

David machte eine rasche Bestandsaufnahme aller Regeln, gegen die er verstoßen hatte. Rauchen, mit überhöhter Geschwindigkeit fahren, nach der Sperrstunde unterwegs sein … Er zuckte mit den Schultern.

»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

»Hast du zugeschaut, wie sich dieses Mädchen umgebracht hat?« Mr Suns Stimme kam krächzend über den kleinen Lautsprecher. »Hast du oder hast du nicht?«

David hatte seit Freitag nicht mehr an das Selbstmord-Video gedacht. Er schluckte. »Woher weißt du …?«

»Das spielt letztlich keine Rolle«, sagte Dr. Roger. »Entscheidend ist …«

»Ich habe in den Google News davon gelesen und mir dann deine Internetchronik angeschaut«, sagte Mr Sun.

»Du bist an meinem Computer gewesen?«

»Was hat er gesagt, George?«, fragte Mrs Sun.

»Dein Computer?«, wiederholte Mr Sun. »Von deinem Zeitungsausträgerjob bezahlt, ja?«

»Ich denke, wir schweifen ab«, sagte Dr. Roger mit schmallippigem Lächeln. »David, entscheidend ist nicht, dass Sie sich das angesehen haben. Es ist ganz natürlich, sich für den Tod zu interessieren. Entscheidend ist, dass Sie nicht eingegriffen haben.«

David begann sich zu verteidigen, verstummte aber rasch. Der Gedanke, sich einzumischen, war ihm schlicht nie gekommen. Er verspürte eine leise Scham, so ähnlich wie jemand, der in die Schule kommt und merkt, dass er vergessen hat, Unterwäsche anzuziehen. Aber so einer war ein Idiot, kein schlechter Kerl. Und das schien die Schlussfolgerung zu sein: dass er ein schlechter Mensch war.

»Was hätte ich denn tun sollen?«

»Wie wäre es gewesen, die Polizei zu verständigen?«, schlug Dr. Roger vor. »Oder die Eltern? Sie kannten das Mädchen doch, oder?«

»Na ja, ich weiß, dass sie auf Saint M gegangen ist …«

»Warum hast du dann nichts getan?«, krächzte Mr Sun.

Es war also doch ein Hinterhalt.

»Hey, die Leute machen den seltsamsten Scheiß …«, fing David an.

Dr. Roger blickte finster.

»… die seltsamsten Sachen«, fuhr er fort, »wenn sie im Internet sind. Wahrscheinlich mixt sich genau in diesem Moment ’ne andere traurige Braut ihren Todescocktail. Ich kann nichts für ihre Depressionen. Ich hab sie nicht gezwungen, die Pillen zu schlucken. Wieso tut ihr alle so, als wäre ich dran schuld?«

Am Telefon herrschte Schweigen. Dr. Roger faltete seine Hände.

»David, wie viel Zeit verbringen Sie Ihrer Einschätzung nach täglich im Web?«

»Was spielt denn das jetzt für eine Rolle?«

»Geben Sie einfach mal eine Schätzung ab.«

»Na, sagen wir, sechs Stunden?«

»Ist dabei die Schule mitgerechnet?«

»Mein Unterricht findet online statt«, sagte David. »Und? Krieg ich vielleicht deswegen auch noch Ärger?«

Er spürte, wie ihm heiß wurde. Er lockerte seine Schulkrawatte.

»Ich wiederhole es noch einmal, David. Sie bekommen keinen Ärger.« Dr. Roger beugte sich vor, und sein Gesichtsausdruck wurde milder. »Wir fragen, weil Ihre Eltern und ich den Eindruck haben, dass Sie sich zu weit vom wirklichen Leben entfernt haben. Wir machen uns Sorgen, Sie könnten nicht auf den Gedanken gekommen sein, diesem Mädchen zu helfen, weil Sie unter einer dissoziativen Störung, einer Gefühlsverarmung, leiden.«

»Gefühlsverarmung?«

»Unfähigkeit zu emotionalen Bindungen.«

»Ich glaube, Evelyn ist uns abhandengekommen«, sagte Mr Sun.

»Ich bin noch da, George, aber ich kann nur deinen Anteil am Gespräch hören.«

»Also schön, ich hab nichts unternommen«, sagte David. »Aber auch sonst niemand! Wenn mit mir irgendwas nicht stimmt, dann auch mit allen anderen nicht.«

»Wenn alle, die Sie kennen, von einer Brücke springen würden, würden Sie es auch tun?«, fragte Dr. Roger.

Das hatte David schon mal gehört, und er wusste, dass man darauf mit Nein antworten musste. Aber stimmte das denn wirklich? Wenn alle von einer Brücke sprangen, gab es vielleicht einen guten Grund dafür. Vielleicht stand die Brücke in Flammen. Dann war, wenn überhaupt, der Typ, der nicht sprang, der Verrückte.

Er verschränkte die Arme und setzte eine grimmige Miene auf. Mr Sun redete jetzt über »Verantwortungsbewusstsein«, und Dr. Roger erging sich wiederholt über »unsere moderne Zeit«. Zuletzt sagte er: »David, wenn ich Ihnen eine Behandlung empfehlen könnte, wären Sie bereit, sich darauf einzulassen?«

»Sie meinen Medikamente?«

»Nein. Mehr ein Lern-Tool. Es ist brandneu, geradezu revolutionär. Es wurde entwickelt, um jungen Männern wie Ihnen dabei zu helfen, wieder Anschluss zu finden. Es wird Sie dabei unterstützen, stabile zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen.«

»Die hab ich doch längst«, sagte David. »Ich hab irre viele Freunde.« Das stimmte. Seine Freundesliste war die längste von Saint Seb.

»Ich spreche von einer tiefer gehenden, einfühlsameren Verbindung.«

»Also, worum geht’s?«

»Zeigen Sie ihm den Katalog«, sagte Mr Sun.

Dr. Roger nahm ein Magazin von seinem Schreibtisch. David blätterte durch die Hochglanzseiten. Es gab ein Foto von einem Jungen und einem Mädchen, die Hand in Hand in den Sonnenuntergang hineinliefen. Es gab Diagramme und Grafiken und eine schematische Darstellung mit sich kreuzenden Linien.

Und dann ging ihm ein Licht auf.

»Sie wollen mich verarschen«, sagte David.

»Gefällt es ihm?«, fragte Mrs Sun. »Hallo? Bin ich noch in der Leitung? Oh, verdammt. Ich glaube, ich höre sie nicht mehr.«

Weil Simsen während des Unterrichts verboten war, schickten sich die Jungs Zettelbotschaften. Charlies Tisch stand in der Mitte und war ein Hauptumschlagplatz. Justin Hoek saß hinter Derek Fini, und sein bester Freund Sean Lafferty saß zwei Reihen vor Charlie. Justin faltete seine Zettel nie zusammen, wodurch Charlie Woche für Woche erfuhr, wie viel Prozent von Justins Jungfräulichkeit verloren waren. Orson Orlick, Justins Zetteln zufolge »die größte Schwuchtel diesseits des Horizon Lake«, verschickte seinerseits Zettel an Paul Lampwick (Rebeccas jüngeren Bruder), wobei diese gefaltet waren und Charlie nicht spionierte. Er hatte es aufgegeben, das ständige Tippen auf seine Schulter ignorieren zu wollen, und reichte Verlautbarungen nun weiter, ohne aufzuschauen.

Als David Sun aus dem Unterricht geholt wurde, löste die Störung einen Zettelstau aus, der die Leitungen verstopfte, sodass John Thomas’ Zettel an Mark Curley ging und Mike Butkus’ Zettel bei Artie Stubb landete, der Mike offen den Stinkefinger zeigte und quer durch den Raum sagte: »Warum kümmerst du dich nicht um deinen eigenen Scheiß, Fettarsch?« Der erwachsene Klassenmoderator schaute von seiner Zeitung auf und verdonnerte Artie zu einer Woche Nachsitzen.

Orson tippte Charlie auf die Schulter. Er hatte seinen Zettel zu falten vergessen, und ohne nachzudenken las Charlie: Hey, Lampwick. Glaubst du, Nuvola hat deine Schwester gevögelt?

Flammen züngelten an Charlies Hemdkragen empor. Er zerriss den Zettel in Schnipsel. Dann kam ihm ein Gedanke. Er kritzelte einen Vorschlag, unterzeichnete mit Orsons Initialen und gab ihn an Paul weiter. Die blasse, sommersprossige Haut in Pauls Nacken färbte sich rosa. Er drehte sich um, warf Orson einen wütenden Blick zu und zischte: »Ich hab dir doch gesagt, dass das ’ne einmalige Sache war. Jetzt lass mich damit in Ruhe, blöde Schwuchtel

An Pauls blonden Wimpern hingen Tränen, und Charlies Kichern blieb ihm im Hals stecken. Sowohl Paul als auch Orson gingen vorzeitig mit Magenkrämpfen nach Hause.

An diesem Abend verbrachte David drei Stunden im Stadion, einer interaktiven Online-Spielearena. Er begegnete Arties Character kurz vor dem Zimmer der Verdammnis. Artie schwang gerade seine Streitaxt gegen eine verschreckte Zwergenfamilie, als David vorbeigondelte.

A-Loch1992 möchte mit dir chatten, meldete der Computer David.

SunGod2.16: hey alter. was geht ab?

A-Loch1992: !!!hast du gesehn was ich mit den zwergen gemacht hab!!!

SunGod2.16: hastn paar zwerge zermatscht mann. guter job

A-Loch1992: aber hallo und wie

A-Loch1992: was läuft?

SunGod2.16: nix besonderes

A-Loch1992: warum haben die dich aus der klasse geholt? ist wer in deiner family gestorben

SunGod2.16: nö, was total anderes. im prinzip hab ich probleme gekriegt wegen dem selbstmordvideo

A-Loch1992: jep voll die gequirlte scheiße

SunGod2.16: du sagst es

A-Loch1992: also hast du hausarrest oder???

A-Loch1992: (ps lösch nächstes mal deine browser-chronik, kumpel)

SunGod2.16: ich *HAB* sie gelöscht mein dad kennt sich saumäßig gut aus mit computern

A-Loch1992: öde

SunGod2.16: ja

SunGod2.16: also ja im prinzip hab ich hausarrest

David wollte Artie nichts von dem Termin erzählen. Er wollte schon darüber reden, aber er konnte die Jungs nicht wissen lassen, dass seine Eltern ihm Unfähigkeit zu emotionalen Bindungen unterstellten. Er wollte ja nicht enden wie Nick Smalls.

Nick Smalls hatte im ersten Highschool-Jahr zu ihrer Truppe gehört. Clay kannte ihn vom Football, er war ruhig und umgänglich. Dann passierte irgendetwas während der Weihnachtsferien – Nick war für ein paar Tage im Krankenhaus. Es kam heraus, dass er in einer psychiatrischen Einrichtung gewesen war. Er hatte einen »Schub« gehabt, und jetzt musste er Medikamente nehmen. Happy Pills. Die Medikamente veränderten Nick, er war mal trübsinnig, mal laut und unausstehlich, als wäre er betrunken. Seine Launen waren absolut unberechenbar.

Er war Clays erster Freund gewesen, und Clay war es auch, der Nick immer gefragt hatte, ob sie zusammen abhängen wollten. Als Nick an den Freitagen nicht mehr auftauchte, sagte Clay: »Ja, ich weiß nicht. Wahrscheinlich hat er’s nicht geschafft.« Aber er sagte es so, dass Artie und David wussten, Nick hätte es geschafft, er war nur nicht gefragt worden. David war erleichtert. Es war schwierig, mit einem Bekloppten rumzuhängen. Außerdem war es gruselig, wenn Nick einfach durchdrehte. Dann war es, als hätte ihn ein Blitz getroffen – aus heiterem Himmel. Nick zog Unglück an, und es war gefährlich, zu nahe bei ihm zu stehen. Deshalb war niemand mehr mit Nick Smalls befreundet.

A-Loch1992: kumpel hab ich dir schon erzählt dass ich am ende die wikingerbraut vernascht hab?

Artie bezog sich auf einen Bot, über den sie letztes Wochenende gestolpert waren. Bots waren Nachbildungen von Characters, die die Designer vom Stadion erfunden hatten, um die Website noch beliebter wirken zu lassen. Sie agierten selbstständig, ohne echte Menschen, die sie lenkten.

SunGod2.16: yeah man, nur war das ne computersimulation

A-Loch1992: schon, aber sie hatte irre titten

SunGod2.16: stimmt

A-Loch1992: jedenfalls haben wir rumgemacht

A-Loch1992: auf dem Rücken von nem DRACHEN

SunGod2.16: das ding ist deine bitch, mann

A-Loch1992: im prinzip ja

A-Loch1992: warte, ich zeig dir das video

David hatte keine Lust darauf. Er stellte seinen Character auf automatische Antwort und sah eine Weile fern.

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