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Der Raum war leer und schwarz bis auf das blaue Auge des Computers und den gelben Spalt unter der Tür. Im Dunkel zeichneten sich Umrisse ab – die Kommode, ein Tisch, ein Bett mit Nachttisch daneben. Das Bett sah benutzt aus, die faltigen Laken waren voller Krümel und Flecken von Tinte, Cola, Kaffee. Die Kuscheldecke mit Mond-und-Sterne-Muster lag zerwühlt am Kopfende, zusammen mit einem abgewetzten Teddybär und einem Mary-Poppins-Kopfkissen, von dem sich die Glitzerapplikationen gelöst hatten. Bücher und Zeitschriften steckten in der Ritze an der Wand, dazu zahllose Socken, zusammengeknüllte Unterwäsche, verlorene Stifte, Papierfetzen und geheime Tagebücher, deren mit Ticketabschnitten und Fotos beklebte Seiten auseinanderklafften.

Es war still. Die analoge Uhr machte Tick.

Wie auf ein Stichwort öffnete sich die Tür, Licht fiel auf die Poster an der Wand – Monroe, Dean, Bogart und die tragisch gestorbene Entwistle1. Ein Mädchen in zerknittertem Schlafanzug schlurfte herein, die Hände voll beladen. Sie schloss die Tür, sperrte das grellgelbe Licht aus, und lud ihre Last auf dem Tisch ab. Sie drückte auf die Taste des Flachbildschirms. Der Computer summte. Das blaue Auge sah zu.

Sie stellte den mit Eiswürfeln gefüllten Mixer und die Literflasche Cola beiseite. Den dritten Gegenstand, klein und kompakt, platzierte sie vor sich wie eine Opfergabe.

»Ich möchte mich bei euch allen bedanken«, sagte sie zu dem Auge. »Ich kann euch gar nicht sagen, wie viel es mir bedeutet, dass ihr heute Abend gekommen seid.«

Das Mädchen war schmächtig, schmales Gesicht, blasse Haut und schwere Augenlider. Ihre Haare waren schlaff, mit schockroten Strähnchen eingefärbt, nass jetzt und von einem Haargummi hinten zusammengehalten. Eine Strähne hing ihr über die Wange. Ihre Fingernägel, unlackiert und abgekaut, waren noch weich und weiß vom Duschen.

Sie griff unter den Tisch, um den Mixer an die Steckdose anzuschließen, und ihre Schlafanzugjacke schob sich am Rücken nach oben. Draußen erwachte ein kleiner Vogel in einem Baum und entdeckte das himmelblaue Leuchten im Raum. Flügelschlagend flog er los, prallte mit einem verhängnisvollen Knacken gegen das Fenster und fiel tot in die Dunkelheit. Das Mädchen setzte sich aufrecht hin – sie hatte nichts bemerkt –, zog ihre Schlafanzugjacke zurecht und öffnete das kompakte Fläschchen. Sie kippte zweihundert dunkelrote Tabletten in den Mixer und goss die Cola dazu. Die Messer rotierten und verquirlten die Mixtur zu einer süßen, breiigen Masse. Sie schüttete das Gebräu in ein großes Trinkglas und nahm einen Schluck. Es schmeckte wie Cola-Slush.

Sie klickte mit der Maus. Ein beliebter alter Film begann. Sie sah zu und trank schluckweise, die Knie an die Brust gezogen. Der Name des Stars erschien in großen Lettern auf dem Bildschirm, und zugleich öffneten sich wie träge Augen die Läden eines Fensters, das auf die Straße einer Stadt schaute. Während sich jene Augen öffneten, fielen die des Mädchens zu, und sie spürte, wie ein warmes Gefühl der Schwere sie durchdrang. Ein letzter großer Schluck, und sie kletterte in ihr geliebtes Bett und zog sich die Kuscheldecke bis unters Kinn. Sie schlief, bevor der Vorspann zu Ende war, und zu dem Zeitpunkt, als ein halbwacher Jimmy Stewart auftauchte, stand ihr Herz still.

Das blaue Auge glotzte. Nach zehn Minuten beendete es die Aufnahme. Einer nach dem andern loggten sich die 750 Zuschauer aus. Die Show war vorbei. Es war der bisher meistbesuchte Videoblog des Mädchens.

An dem Abend, als Nora Vogel starb, fiel in Westtown, Massachusetts, der Strom aus. Überall von der Route 290 südwärts bis zum Lake Olive wurde es finster. Fernseher blinkten, und Computer hielten den Atem an. Die große Übersichtskarte im Elektrizitätswerk schaltete ab. Die Stromversorgung war unterbrochen, und Punkt um Punkt erloschen die bunten Birnchen, die die Häuser von Westtown zeigten, wie Weihnachtslichter.

David Sun lebte in einem der großen Häuser an der Westküste des Horizon Lake. Er hatte Ausgehverbot, weil er geraucht hatte. Seine Mutter hatte das Geheimversteck hinter dem Wäschekorb im Gang entdeckt, deshalb war David allein zu Hause und schaute sich Narbengesicht auf Retrovid.com an.

Davids Computer war ein Sony Triptych, eines der Geräte mit Dreifach-Monitor und eingebauter Spiraltechnologie. Davids Vater hatte den Triptych erfunden, und seine Firma, Sun Enterprises, verkaufte sie. Jeder Monitor tastete die beiden jeweils anderen ab und reagierte auf sie. Wenn David also auf Monitor 1 eine Bildsuche nach dem neuen Cadillac Pinnacle startete, erschienen auf Mon2 die jüngsten Statistiken der Fachzeitschrift Gearhead’s. Mon3 antwortete mit einem Video von Gearhead’s Topmodel, Cynthia Sundae, in dem sie im Bikini einen Caddy wusch, worauf Mon1 mit Kondomwerbung antwortete. So ging es reihum, immer und immer weiter.

Link für Link brachte der Triptych David von Narbengesicht zu Al Capone, James Cagney, James Dean und zuletzt zu StarryEyedStranger.blogspot.com. Nora starb auf Monitor 2. Das Bild war so scharf, dass David das Flattern ihrer Augenlider erkennen konnte.

Er wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte (die Monitore sehr wohl: Mon1 blendete eine Internetseite von Schnelle-Ärzte-für-kleines-Geld ein). Er beschloss seinen Freunden zu mailen, um zu erfahren, ob sie es auch gesehen hatten, und um zu hören, was sie davon hielten. Aber genau in diesem Moment brach die Stromversorgung zusammen, die gelbe Schreibtischlampe erlosch und gab den Geist auf. David war allein im Dunklen.

Auf der anderen Seite des Sees stand Charlie Nuvola am Strand und starrte auf das blendend helle Licht von David Suns Haus am gegenüberliegenden Ufer. Charlie hielt eine Wildlederjacke in den Armen. Das gediegene Leder roch unbestimmt nach Sojasoße und dem fruchtigen Parfüm einer Person, von der er aufrichtig hoffte, sie nie wiederzusehen. Er wusste nichts von Nora Vogels Selbstmord. Er besaß nicht mal einen Computer. Er wollte einfach nur allein sein.

Und während er hinüberblickte, wurde es dunkel in den Häusern am Westufer. Ein Stromausfall. Charlie sah etwas Prophetisches darin. Sein Haus war von der Energieversorgung abgeschnitten. Der Generator summte weiter, und Charlie verspürte eine enge Verbundenheit mit der einsamen Verandaleuchte, die in seinem Rücken selbstgenügsam vor sich hin brannte.

Plötzlich gab es einen Schlag. Der Generator röchelte, die Verandaleuchte ging aus, und der Garten verdunkelte sich. Er blieb im Finstern stehen, bis sich seine Augen angepasst hatten, und er die blauen Sterne sehen konnte. Sie blinzelten.

Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012