1. Charlie und David

Noch bevor Nora und die Stromleitungen tot waren, vermengten sich Charlies und Davids Leben miteinander wie Pigmente auf einer Farbpalette.

Charlie und David lebten an zwei Seiten desselben Sees, Horizon Lake, der kein echter See, sondern ein künstliches Staubecken war. Horizon Lake war fünf Kilometer lang und knapp zwei Kilometer breit und markierte das Zentrum von Westtown. Am Westufer standen Villen, am Ostufer Bäume. Die größte Villa gehörte den Suns. Es war ein viergeschossiger Glaspalast, wie eine Puppenstube in der Mitte aufgeschnitten, sodass die Familie im Inneren des Hauses stets sichtbar war. Bei Nacht löschte das Haus der Familie Sun, getreu deren Namen, die Sterne aus, indem es seinen weißen Schatten übers Wasser warf.

Die Westufer-Bewohner hatten schon vor langer Zeit das Land am Ostufer aufgekauft, damit ihnen keine hässlichen Häuser den Ausblick verschandelten. Das einzige Grundstück, das sie nicht kaufen konnten, gehörte einem Botaniker und seiner Frau – Charlies Eltern. Das Stück Land war seit Jahren in Familienbesitz, und sie waren um keinen Preis bereit, es aufzugeben. Die Nuvolas hatten einen alten Stadtplan von Westtown an der Wand ihrer Bude hängen lassen. Charlie hatte einmal berechnet, dass, wenn er den Plan in der Mitte zusammenfaltete, Egg Lake im Süden und Olive Lake im Norden aufeinander zu liegen kamen, und ihm gefiel die natürliche Symmetrie. Wenn er den Plan in die andere Richtung faltete, kamen Charlies und Davids Haus zusammen wie Ober- und Unterteil eines Druckknopfs.

David und Charlie besuchten beide die katholische Jungenschule jenseits der Route 290. Saint Sebastian ging vom sechsten bis zum zwölften Jahrgang. Charlie gehörte zu den seltenen Fällen, die in der neunten Klasse dazustießen und so einen Klassenverband aufbrachen, der seit drei Jahren gleich geblieben war. Saint Seb rühmte sich alternativer Erziehungsmethoden. Anstatt im Laufe des Tages von einem Unterrichtsraum zum nächsten zu wandern, blieben die Schüler jeweils an einem festen Tisch sitzen, wo sie via Computer an webbasierten Kursen teilnahmen und jeder seinem individuellen Tempo gemäß voranschritt. Das Ganze entsprach der Richtlinie des Direktors, »junge Menschen auf den modernen virtuellen Arbeitsplatz vorzubereiten«.

Die Schule war nach dem heiligen Sebastian benannt, der angeblich einen Beschuss mit tausend Pfeilen überlebt hatte. Manchmal fühlte sich Charlie ihm seelenverwandt.

»Charlie Freak im Anmarsch.«

»Hey, da ist ja Mr Magoo! Hallo, Magoo!«

»Spasti-Charlie. Hast du die Brille da ’ner alten Dame abgeknöpft oder was?«

Charlie Nuvola war seltsam. Er sah seltsam aus; er benahm sich seltsam; er interessierte sich für seltsame Dinge. Und am schlimmsten war, dass er anscheinend nicht merkte oder sich nicht darum scherte, wie seltsam ihn alle anderen fanden.

Charlie war ein Frühzünder. Im Sommer nach der achten Klasse machten sich stachlige, fettige Haare auf seiner Oberlippe breit, und zu Beginn der neunten Klasse überragte er als langer Schlacks seine Klassenkameraden. Von seiner Mutter hatte Charlie eine krause Masse dunkler Haare geerbt, die sich wie eine Sturmwolke auftürmten, wenn er sich vorbeugte und mit seinem Brummbass eine faszinierende Artischockensorte beschrieb, die soeben in Guam entdeckt worden war.

Beim Mittagessen saß Charlie allein und las die neueste Ausgabe von Botanica oder einen seiner abgegriffenen Danny-Houston-Romane (eine Serie aus den Sechzigern über einen verwegenen Jungen, der von einem Hubschrauber aus Verbrechen löste). Die Jungs vom Nachbartisch wetteiferten darin, wer es schaffte, die meisten Pommes in Charlies Haaren zu landen, bevor er sie geistesabwesend wegwischte. David Sun war amtierender Meister.

Der Einzige, der Charlie freundlich entgegentrat, war Trainer Brackage, der das armselige Basketballteam der Schule leitete. Charlie wurde für eine Saison angeworben, allerdings waren seine Würfe, auch wenn er groß war, unkontrolliert und halbherzig.

»Konzentrier dich, Junge!«, brüllte der Trainer. »Lass die Augen oben! Und lauf nicht, als würdest du Schwimmflossen tragen, Himmel, Arsch und Wolkenbruch!«

Als die Basketballsaison vorüber war, freute sich Charlie, dass er seine Nachmittage wieder für sich hatte. Er lief gerne den von Brombeergestrüpp flankierten Weg hinter der Schule entlang, weg von dem grellen Parkplatz, wo David Sun und seine Freunde halb aus ihren Autos heraushingen und Musik aus den protzigen Kugellautsprechern dröhnte. Der Weg führte in den Wald. Dorthin passte Charlie. Er setzte seine großen Füße mühelos zwischen Felsen und knorrige Baumwurzeln, und das Geäst fing gerade so hoch an, dass er darunter hindurchgehen konnte, ohne sich zu bücken. Die schwerfällige Biene, unter der sich die Lilie beugte, das träge Glitzern einer sonnenbeschienenen Stelle, wenn eine Wolke darüber hinwegzog, das ferne Summen von Libellenflügeln – jeder Zweig, jeder Käfer und Kieselstein, alles war in einem großen Plan miteinander verbunden. Das war Charlies Utopie: eine Welt ohne Menschen.

David Sun folgte seinem Instinkt, wenn es um soziale Anpassung ging. Er hatte zwei beste Freunde, John Pigeon (genannt Clay) und Artie Stubb. Clay, Artie und David hatten seit dem sechsten Schuljahr zusammengesessen. Die Reihe wechselte zwar von Semester zu Semester, aber die Pigeon-Stubb-Sun-Phalanx selbst wurde nie gebrochen. Die Ankunft von Charlie Nuvola und einem weiteren Jungen, Paul Lampwick, im neunten Schuljahr drohte Clay allein hinter der zweiten Reihe stranden zu lassen, aber ein Umsetzen in letzter Minute stellte die natürliche Ordnung wieder her. Trotzdem mochte das Trio Nuvola und Lampwick nicht, denn beide waren keine Stammschüler, sondern mit einem Stipendium für Bedürftige auf die Saint Seb gekommen. David, dessen Vaters Bildschirme auf jedem Arbeitstisch im Gebäude thronten, verachtete Stipendiaten ganz besonders.

Die Mädchen mochten David. Er hatte eine Freundin gehabt – eine bildhübsche Blondine, ein Jahr älter als er, Star jeder Theateraufführung an der Schule –, bis sie ihm am Labor Day den Laufpass gab. Er war fremdgegangen. Es war auf Nantucket passiert, das nach Davids Vorstellung außerhalb der Staatsgrenzen lag, weshalb er dort auch Narrenfreiheit hatte. Es war unbefriedigend gewesen. Die Mädels von Nantucket tanzten wild, aber sie waren zu wie Austern, sobald David sie alleine vor sich hatte. Zwei ließen sich mit den Dampfschwaden von Marihuana knacken, das er beim örtlichen Hippie erstanden hatte, aber er kehrte immer noch als Jungfrau nach Hause zurück. Sie ließen ihn nicht mal über die dritte Dating-Stufe hinauskommen. Später prahlte er vor Clay und Artie, nur um festzustellen, dass das Stufensystem von Region zu Region variierte, und im westlichen Massachusetts hatte David demnach mit Ach und Krach die zweite Stufe geschafft.

»Ah, mach dir nichts draus, Little Dog«, sagte Clay und legte David einen Arm um die Schulter. Trotz seines Übergewichts hatte Clay irgendwie immer eine Freundin an der Hand und gefiel sich darin, Ratschläge zu erteilen. »Du musst sie dazu bringen, dass sie will, verstehst du? Du musst mit der Hand an ihrer Seite rauf- und runterfahren, verstehst du, und dann streifst du so mit dem Daumen …«

»Himmel noch mal, Clay«, sagte Artie und drückte seine Zigarette aus. »Willst du mich zum Kotzen bringen?«

»Ich versuche unserm Jungen zu erklären, wie er eine anständige Portion Titten zu fassen kriegt …«

»Eine Portion Titten?« Artie hielt seine Hände so, als formte er eine Schüssel. »Titten sind nichts, was man in Portionen aufteilen kann. Titten kannst du nicht in Mengenangaben messen.«

David lachte, aber Clay schüttelte lediglich den Kopf. »Und was ist mit Melonen? Schönen, saftigen Warzenmelonen

Das haute alle drei um, und sie wälzten sich tatsächlich auf dem Gehweg vor dem Pavillon wie ein Haufen Penner. Es war ein guter Abend.

Dann kam der Nachmittag im September, zwei Wochen vor dem Stromausfall. Charlie fuhr mit dem Zehngang-Fahrrad von der Schule nach Hause, stellte das rostige Teil neben dem seines Vaters ab und zog die quietschende Fliegengittertür auf.

Charlie lebte alleine mit seinem Vater, Thaddeus, der als Professor der Clark University einen Forschungsurlaub von unbestimmter Dauer genommen hatte. Thaddeus’ Leidenschaft war die Pflanzenwelt von New England, und er verbrachte Stunden im Garten, wo er über Pflanzen brütete. Wie Charlie war auch Thaddeus groß gewachsen. Er hatte einen langen Bart und buschige Augenbrauen, was manche Leute an jene kitschigen Kerzen erinnerte, die Waldgeister darstellen sollen. Von Natur aus zerstreut, konnte er stundenlang mit seinem Feldbuch in einer von Giftefeu bewachsenen Stelle hocken, um dann ins Haus zu kommen und vor sich hin zu murmeln: »Wo habe ich die Salbe gegen Ausschlag hingeräumt?«

Charlie ließ seine Tasche an der Tür fallen. Im Spülbecken klebte Kaffeesatz, auf dem Tisch lagen Bleistiftspäne. Daraus schloss Charlie, dass sein Vater zu Hause war und sich wahrscheinlich mit dem Kreuzworträtsel beschäftigt hatte. Er legte die Hand ans Kinn (genau wie Danny Houston) und überlegte, was ihn davon weggelockt haben mochte.

Die rauschende Klospülung löste das Rätsel.

»Hallo, Kumpel, was gibt’s Neues?«, sagte Thaddeus und tauchte mit der Klorolle unterm Arm aus dem Bad auf.

»Nichts.«

Charlie leerte sein nachmittägliches Glas Milch in drei Zügen, dann machte er es sich auf dem Sofa bequem. Benommenheit legte sich auf ihn, als wäre sie eines der muffigen Sofakissen. Egal, wie hellwach er beim letzten Klingeln in der Schule war, das behagliche Zuhause wirkte wie Äther und machte ihn bewusstlos bis zum Abendessen. Wenn der Wald sein natürlicher Lebensraum war, dann war das Nuvola-Haus mit seiner Holzverkleidung und den Stapeln von Taschenbüchern und Zeitschriften sein sicherer Bau. Hier, unerreichbar für alle, konnte ihm nichts etwas anhaben.

»Jetzt bin ich mit meinem Latein am Ende«, sagte Thaddeus; er meinte das Kreuzworträtsel. »Was ist ein Wort mit sechs Buchstaben für wahrer Freund? Fängt mit K an?«

Charlie murmelte eine Antwort. Er taugte nicht für Wortspielereien.

Durch seine wachsende Schläfrigkeit hindurch spürte er, dass sein Vater ihn musterte. Er öffnete die Augen. Thaddeus saß im Lehnsessel und beugte sich mit gefalteten Händen vor. Auf solche Weise hatte Charlie seinen Vater nicht klassifizierte Blütengewächse anstarren sehen. Charlie fühlte sich unwohl.

»Also, ich hatte heute meinen Termin mit eurer Schulpsychologin.«

»Aha?«

»Die Testergebnisse sind reingekommen.«

Am ersten Schultag gab Saint Seb »Profilbögen zur Persönlichkeitserfassung« aus. Zehn Seiten mit Fragen wie: »Wenn Sie ein Löffel wären, was für einen Griff hätten Sie?«

»Die Psychologin, Dr. Lightly, sie hat mir gesagt, deine Testergebnisse legten eine Persönlichkeitsstörung nahe.« Thaddeus rieb sich die Hände, seine Stimme klang beiläufig, als unterhielten sie sich über den jüngsten Artikel in Botanica. »Man glaubt, du hast Depressionen.«

»Halt mal, was? Was willst du damit sagen?«

»Sie hat Fixol ins Gespräch gebracht.« Thaddeus kratzte sich an der unbehaarten Hautpartie unter seinem rechten Auge. Fixol war ein gängiges Antidepressivum.

Depressionen. Das Wort setzte sich wie ein Deckel auf Charlies Gehirn. Und die Art, wie sein Vater es ihm unterschmuggelte, es in ihre sichere Höhle trug und mit bestenfalls milder wissenschaftlicher Neugier fallen ließ. Charlie wurde übel. Thaddeus legte ihm eine Hand aufs Knie. Sein kleiner Finger war mit Druckerschwärze und Graphit verschmiert.

»Das … kann nicht stimmen.« Charlie schluckte. Er hatte das Gefühl, als wäre ihm eine Walnuss im Hals stecken geblieben.

»Fühlst du dich deprimiert?«

»Ich … weiß nicht.«

Thaddeus atmete aus, sein Oberlippenbart flatterte. »Gut, denk drüber nach. In Ordnung, Kumpel?« Er gab Charlie einen Klaps aufs Knie und erhob sich aus seinem Lehnsessel.

Charlies Mutter hatte immer gesagt: »Normalität folgt dem Weg des geringsten Widerstands.« Charlie war der Meinung, er selbst hätte sich – auf einer bestimmten Ebene – entschieden, anders zu sein, aber was, wenn er damit falschlag? War er denn nicht glücklich? Manchmal zumindest? Im Wald? Allein? Ein Test konnte das doch nicht bestimmen, oder?

Plötzlich bekam er keine Luft mehr. Schwärze drang auf ihn ein, erfüllte seine Nase und seine Ohren. Es war, als würde er ertrinken. Er drehte sich auf den Bauch und erbrach auf den Fußboden.

»Alles in Ordnung?« Thaddeus kam eilig zu ihm. Charlie war grün im Gesicht. »Tut mir leid, mein Lieber. Die Milch hätte ich schon vor einer Woche wegwerfen sollen.«

In dieser Nacht wälzte sich Charlie bis drei hin und her. Er ging an seinen Schreibtisch, knipste das Licht an und schrieb eine Liste der Augenblicke, in denen er im Lauf eines Tages glücklich war. Dann verfasste er eine Liste der Augenblicke, in denen er traurig war. Die Spalten waren gleich lang, aber sie zeigten eine eindeutige Tendenz: Charlie war glücklich, wenn er allein war. Es ging ihm schlecht, wenn er mit anderen zusammen war.

Dann bewertete er auf einer Skala von eins bis zehn, wie er sich im Durchschnitt fühlte. Er erinnerte sich, wie er als Kind mit seinen Eltern im Olive Lake schwimmen gegangen war, wie sein Vater ihn auf seine Schultern gehoben und seine Mutter lachend ein Foto geschossen hatte. Dieser Tag war eine Zehn gewesen.

Er blickte auf die Zahl, die er aufgeschrieben hatte. Drei.

Charlie legte den Kopf in die Hände und dachte nach. Später erwachte er, immer noch an seinem Schreibtisch sitzend, mit einer ovalen Speichelpfütze auf der Schreibunterlage und einseitig plattgedrückter Afro-Mähne. Er löschte das Licht und kroch ins Bett. Ein paar Minuten lang lag er wach in der Dunkelheit, dann flüsterte er: »Okay.« Eine Sekunde später war er eingeschlafen.

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