9. Transistoren

Die nächsten paar Tage waren ein einziger Nebel.

»Es geht nicht um Sex, David. Es geht darum, etwas Wirkliches zu erreichen«, sagte Dr. Roger.

»Sex ist etwas Wirkliches.«

»Du bist zu jung«, sagte sein Vater. »Wir hatten nicht die Absicht, dir eine aufblasbare Gummipuppe zu kaufen.«

»Haben Sie nicht bei sich selbst wahrgenommen, wie Sie eine emotionale Bindung entwickelten?«

»Nein.«

Seine Freunde zeigten mehr Anteilnahme.

»Ich kann mir vorstellen, wie die Schlampe dich gelinkt hat«, sagte Artie.

»Soll sie doch nach New Hampshire zurückgehen oder wohin auch immer«, sagte Clay.

»Ich halte mich wieder an Blondinen«, sagte David und trank sein letztes Bier aus.

»Das ist doch wieder unser alter Sun God.« Clay schlug ihm auf die Schulter. »Freut mich, dass wir dich wiederhaben.«

Er selbst freute sich, wieder mit den anderen zusammen zu sein. Er hätte sich noch mehr gefreut, wenn endlich jemand gekommen wäre und Roses Kram abgeholt hätte.

»Sie haben keine Vorstellung, wohin sie gegangen sein könnte?«, fragte der Vertreter von Sakora.

»Nicht die leiseste Ahnung«, sagte David. Der Vertreter stand da in seinem Anzug, musterte David aus kleinen grauen Augen und wartete auf mehr. Als David nicht aufsah, wandte er sich schließlich ab und ging.

Nur nachts ging es David schlecht. Er wachte auf, dachte an sie und schaltete alle Lichter ein. Er stellte den Computer an, die Stereoanlage, alles. Er grübelte, wo sie sein könnte, lag grübelnd da, bis die Sonne aufging und der Himmel sich dunkelrot färbte.

Er ließ die Jalousien herunter. Er wollte diese Farbe nie wieder sehen.

Sprühregen rieselte auf das Metallgehäuse des Generators. Thaddeus lag mit dem Rücken im Dreck, die Taschenlampe zwischen den Zähnen, und schaute zu den durchgeschmorten Transistoren hoch. Irgendwo im Wald krächzte eine Krähe.

»Hoffnungsloser Fall?«, fragte Charlie.

»Die Gute ist gründlich im Eimer.« Thaddeus zog seine übliche Nummer als robuster Mechaniker ab. »Der Blitz hat ihre Innereien gegart wie ’nen Schweinebraten auf dem Gartengrill.«

Beim Gedanken an gegrilltes Schweinefleisch zog sich Charlies Magen zusammen. Da sie die ganze Nacht und den ganzen Vormittag keinen Strom gehabt hatten, gab es bei ihnen außer kaltem Müsli nichts zu essen. Er hätte alles gegeben für ein paar Chicken Wings aus der Mikrowelle.

»Kannst du das reparieren?«

Thaddeus schob die Taschenlampe in seine Brusttasche. »Wir müssen heute Nachmittag in die Stadt und neue Transistoren besorgen.«

Sie gingen zurück ins dunkle Haus. Halb beendete Brettspiele und unvollständige Puzzles lagen auf dem Teppich und dem abgewetzten Couchtisch verstreut. Mehrere Bücher mit Eselsohren und kaputtem Buchrücken spreizten sich auf dem fadenscheinigen Sofa. Thaddeus ließ sich in seinen Sessel fallen, sprang gleich wieder auf und rieb sich den Hintern. Er zog einen alten Rubik-Würfel unter dem Kissen hervor – die Aufgabe war bei diesem Exemplar wesentlich leichter lösbar, da die farbigen Oberflächen zur Hälfte abgeblättert waren.

Dank des Wetters waren sie ins Haus verbannt. Charlies samstägliche Fahrradtouren und seine Waldmärsche würden durch stundenlanges, betäubendes Schweigen im Wohnzimmer ersetzt werden, zusammen mit seinem Vater, der glücklich und zufrieden war, egal, ob er sich bis an die Nasenspitze in ein Botanikbuch vergrub oder in einem Gebüsch hockte. Charlie setzte sich neben dem Couchtisch auf den Boden und ergänzte ein paar Puzzleteilchen der Mona Lisa, er fügte einen Teil ihrer Haare ein. Das berühmte Lächeln fehlte, wobei Charlie mutmaßte, dass die Teile dazu schon seit seinem Windelalter verschollen waren.

»Na, was hast du heute vor?«, erkundigte sich Thaddeus.

»Ich wollte eigentlich heute Nachmittag mit ein paar Freunden unterwegs sein.«

Das war natürlich gelogen, aber Charlie wollte Thaddeus gern glauben lassen, dass er über mehr soziale Kontakte verfügte.

»Ach, tatsächlich? Mit wem denn?«

»Jungs von der Schule.«

»Na, das ist ja neu. Freut mich zu hören.«

Thaddeus nahm ein altes Exemplar der Botanica von einem Papierstapel.

»Heißt das, ich brauche nicht mehr zum Psychologen zu gehen?«

Thaddeus äugte über den Rand seiner Zeitschrift. »Hey, Kumpel, ich weiß, dass du da nicht hinwillst. Aber die Schule hält es für das Beste, und ehrlich gesagt bin ich geneigt, ihnen recht zu geben. Auch wenn dir der Arzt dieses alberne Spielzeug verschrieben hat.«

Er meinte die Sakora-Puppe. Ganz braver Patient, hatte Charlie seinem Vater den Katalog gezeigt. Aber zunächst hatte Thaddeus ihn nicht so idiotisch gefunden, wie Charlie erwartet hatte. Stattdessen blätterte er durch die Hochglanzseiten und zupfte an seinem Bart. Er stellte sogar ein paar Nachforschungen an (indem er sich herabließ, die Computer in der städtischen Bibliothek zu benutzen) und fand einige Dinge heraus, die sie nicht in den Katalog geschrieben hatten – zum Beispiel, dass es nur eine begrenzte Stückzahl dieser Gefährtinnen gab, die derzeit in Japan und New England (im vergangenen Jahr in Shrewsbury und Worcester, Massachusetts) auf ihre Markttauglichkeit getestet wurden, und dass die Arzneimittelzulassungsbehörde unschlüssig gewesen war, bis Sakora sich mit der Entfernung der »weiblichen Geschlechtsteile« einverstanden erklärte. Händchenhalten und Küssen war in Ordnung, aber die amerikanische Regierung sperrte sich gegen den Geschlechtsverkehr minderjähriger Jungen mit Maschinen.

Letztendlich hatte Thaddeus zu Charlies großer Erleichterung doch gesagt, die ganze Sache sei eine Spinnerei. Echte Mädchen waren schwierig genug zu verstehen, ganz zu schweigen von solchen, die nach Auftrag produziert waren. Im Gegenzug musste er alle zwei Wochen zu einem »Check« bei Dr. Roger, ein Kompromiss, mit dem Charlie leben konnte.

»Du weißt, dass du jederzeit mit mir reden kannst«, sagte Thaddeus. »Aber ich weiß, dass es ein paar Dinge gibt, über die man nicht so leicht mit seinem Vater reden kann, verstehst du?«

Charlie fingerte an einem verirrten Puzzleteil herum. »Zum Beispiel?«

»Na ja. Mädchen vielleicht? Ich meine, echte Mädchen?«

»Danke.« Das heißt nein danke, dachte Charlie. Es würde lange dauern, bis er das Wort Date hören konnte, ohne den Geruch von Sojasoße in der Nase zu haben.

»Hör mal, ich weiß, dass du nicht den ganzen Tag drinnen eingesperrt sein willst. Was hältst du davon, wenn du in die Stadt fährst und die Teile holst, die wir brauchen?«

»Der Laden macht erst um zehn auf.«

»Dann trink einen Kaffee in der Stadt. Besorg dir was Warmes zu essen. Hier.« Thaddeus brachte ein Päckchen zerfledderter Dollarnoten zum Vorschein. »Gib sie nicht alle auf einmal aus.«

»Ich werd’s versuchen. Danke, Dad.«

Thaddeus erzog sein Kind auf die gleiche Weise, wie er forschte: von einer sorgsamen, zugewandten, unvoreingenommenen Beobachterposition aus. Nahrung und Wasser, viel gutes Sonnenlicht und gelegentlich eine Stütze, damit die Stängel wachsen konnten.

Charlie radelte die zweieinhalb Kilometer nach Süden zu dem Ende des Sees, an dem ihre kleine Straße in die Horizon Road mündete. Die Speichen seines neuen Vorderrads blitzten. Die Straßen waren schwarz und rutschig, von herabgefallenen Kiefernnadeln übersät. Er überholte das eine oder andere Auto, meist Putzfrauen und Landschaftsgärtner, die auf dem Weg zur Arbeit in den Häusern am Seeufer waren. Gelegentlich zischte eine Hausfrau im teuren Minivan in Gegenrichtung vorbei, mit flimmernden Bordfernsehern zur Unterhaltung ihrer Kinder.

Westtown rühmte sich einer Altstadt, die auf eine Weise erhalten war, dass sie an die Fernsehkulisse von Erwachsen müsste man sein erinnerte. Die modernen Coffeeshops, Internetcafés und Apple-Stores waren allesamt verpflichtet, hölzerne Ladenfronten, frei hängende Ladenschilder und geweißte Sitzbänke vor der Fassade anzubringen.

Drinnen im Land’s Lunch Counter war es warm, die Luft war erfüllt vom Geruch einfacher Gerichte und dem beruhigenden Klappern der Essbestecke. Charlie setzte sich unter das Schwarzweißfoto des Hollywood-Schilds, 1932 aufgenommen, als noch »Hollywoodland« darauf stand. Die Kellnerin (Peg, laut ihrem Namensschild) trug Ohrringe in Gestalt von Totenschädeln. Sie brachte Charlie ein labberiges Sandwich mit Spiegelei und einen Kaffee.

Er hatte seine zweite Tasse zur Hälfte geleert, als ein Windstoß durch den Raum fuhr und ein Mädchentrio hereinwehte. (Wehen, dachte Charlie. War das nicht die Art und Weise, wie schöne Mädchen überall hinkamen? Auf einem klingenden, kleinen Zephyr?) Die drei nahmen auf der anderen Seite des Ganges Platz – Mädchen von Saint Mary, dem Aussehen nach zu urteilen. Sie hatten lange, glatte Haare und pastellfarbene Oberteile, wie Ausschneidepuppen aus demselben Set. Zwei trugen Rotkehlchen-Anstecker. Die hatte er schon mal gesehen, er konnte sich nur nicht erinnern, wo. Vielleicht in einem Theaterstück, überlegte er und kratzte sich an einer imaginären juckenden Stelle an der Schulter. Die Mädchen lachten, schwatzten und gestikulierten mit den Händen, dabei ignorierten sie Charlie vollständig, selbst als er sein Wechselgeld fallen ließ – so als trennte eine schalldichte Barriere die eine Seite des Lokals von der anderen. Er trank seinen Kaffee aus. Plötzlich war es zu warm, und er ertrug das dröhnende Radio nicht mehr.

Mit schnellen Schritten überquerte er die Straße zum Elektroladen. Der magere Angestellte fand ein Paar Transistoren im Hinterzimmer, so alt, dass das Preisschild bereits abgefallen war. Er schätzte ihren Wert – »Sagen wir, zwei Dollar?« –, und Charlie verstaute die kleine Schachtel mit den verknautschten Ecken in seiner Jacke.

Während seiner Heimfahrt begann es leicht zu regnen. Eiskalte Tropfen stachen ihm in Gesicht und Hände. An der Gabelung hielt sich Charlie links in der Absicht, den See zu umfahren. Er dachte über die Mädchen im Lokal nach. Er dachte über seinen Vater nach. Er dachte über die Blätter nach, die auf der Oberfläche der Pfützen schwammen und so wenig Substanz hatten, dass sie nicht einmal sanken.

Charlie radelte an den großen Häusern vorbei zur Cliff Road hinauf, die über den Felsvorsprung führte, der entlang der nördlichen Spitze des Sees aufragte. Seine Beine brannten, während er sich langsam die Steigung hinaufarbeitete. Einen Fuß nach unten, dann den anderen. Die alte Gangschaltung quälte sich ächzend ab. Das Wasser glänzte schwarz im Regen.

Er war knapp dreihundert Meter von der Spitze des Sees entfernt, als er es sah – ein rotes Aufblitzen mitten im Grau. Zuerst dachte er, es sei eine Person, die stehen geblieben war, um die Aussicht zu genießen, aber als er näher kam, sah er, dass sie sich auf der falschen Seite der Leitplanke befand. Sie stand am Rand des Felsvorsprungs. Eine Frau, die hinunterspringen wollte.

Charlie hielt sein Fahrrad an. Sie war jung, vielleicht in seinem Alter, irgend so ein reiches Mädchen mit übertriebenem Hang zur Theatralik, das zu seinem sechzehnten Geburtstag kein Pony bekommen hatte. Der Wind verfing sich in ihren Haaren und blies sie hin und her wie eine Kerzenflamme. Ihr Kleid flatterte.

»Hey!«, rief er. Seine Stimme wurde zu ihm zurückgeworfen, Felsen und Wasser ließen sie dünn klingen. Hey!

Das Mädchen schaute hoch, mit leerem, abwesendem Blick. Charlie stieg von seinem Rad und ließ es fallen.

»Warte einen Moment!« Das Echo kam zurück. Warte einen Moment!

Seine Schuhe klatschen auf den nassen Asphalt. Er spürte sein Herz in der Kehle und hinter den Augen. Sein Atem ging stoßweise, flach und hart wie aus Stahl. Oh Gott, lass sie nicht springen. Bitte lass sie nicht springen.

»Warte!« Warte!

Sie schaute zum Wasser hinunter. Er war noch fünfzig Schritte entfernt. Zwanzig. Er streckte die Hände in dem Moment nach ihr aus, als sie mit herabhängenden Armen nach vorne kippte. Seine Finger krallten sich in den schwarzen Seidenstoff ihres Kleids. Einen Herzschlag lang zerrte ihr volles Gewicht an der Seide, und sie schwebte frei über dem Abgrund. Dann rutschten Charlies Füße weg, und das Mädchen stürzte vorwärts. Er hielt sie fest. Seine Oberschenkel schlugen gegen die Leitplanke, dann folgte er ihr über die Klippe, und seine Füße hoben vom Boden ab. Das Kliff entfernte sich, das Wasser kam näher, funkelnd wie zersplittertes Glas.

Und sie fielen.

Notabschaltung gestartet.

Bitte warten …

David!

Verbindung zum Homeserver unterbrochen.

MagsoKommRaufInMeinZimmerMagLichtDavidRichtiggelb

Dateien beschädigt.

Bitte warten …

GelbSchwarzGrasNachtBaumDavidGelbRotBlau

Computer startet neu.

blauJackeRotLichtistShecAlterDämmerungVogelPapierRot …

Rose.

Sinneswahrnehmungen booten, Diagnoseprogramm.

Rebooten beendet.

Rose spürte das eisige Wasser am ganzen Körper. Sie schluckte es, atmete es ein. Es drang ihr in Nase und Augen. Sie hatte die Augen geöffnet, doch sie sah nur Schwärze.

Zum ersten Mal hörte sie nichts.

Dunkelheit und Stille.

Eine Hand packte sie am Arm und begann zu ziehen.

Charlie kämpfte sich nach oben zum Licht. Es war erstaunlich – diese Lebensenergie, der Drang, am Leben zu bleiben. Er durchbrach die Wasseroberfläche, umklammerte mit beiden Händen ihr Handgelenk und zog, zog sie nach oben. Sie war schlecht zu bewegen und sehr schwer, und er merkte, wie er wieder untertauchte. Aber irgendwie würde er es ans Ufer schaffen, mit ihr auf dem Rücken, ihre Arme um seinen Hals geschlungen.

Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012