5. Freitag

Am nächsten Morgen begegnete David Artie auf dem Parkplatz.

»Was grinst du denn so?«, wollte Artie wissen.

David verriegelte die Lenkstange seines Motorrads und klappte den Ständer nach unten. »Weiß nicht. Einfach gut gelaunt, schätze ich mal.«

David war blendend gelaunt. Gedanken an Rose tanzten ihm im Kopf umher. Es war nicht wie bei einer neuen Beziehung mit einem Mädchen (er konnte nicht mit ihr angeben), und es war nicht wie mit einem neuen Motorrad oder Auto (er konnte sie nicht zur Schule mitnehmen). Es war etwas Neues, etwas ganz Privates, und es gefiel ihm.

David fragte sich, was Rose wohl gerade machte. Wahrscheinlich saß sie in dem Gästezimmer, das seine Mutter für sie hergerichtet hatte. Jede Nacht musste Rose sechs Stunden »aufladen«. Aber was tat sie den Schultag über? Vielleicht las sie Zeitschriften oder surfte im Internet. Oder vielleicht starrte sie einfach nur die Wand an, wie ein Laptop auf Standby. Als er gegangen war, hatte sie gesagt: »Du wirst mir fehlen, das ist alles.«

Jungs in taubengrauen Jacketts strömten zu den Eingangstüren, vorbei an der abstrakten Statue des heiligen Sebastian auf dem Rasen – ein drei Meter hohes Bleirohr, gekreuzt von einhundert Metallstangen. Jemand hatte einen roten Schlips oben festgebunden, der im Wind flatterte.

»Kommst du heute Abend?«, fragte Artie.

»Jep, ich schau später vorbei.«

Artie warf einen Blick über die Schulter. Er schaffte es, schuldbewusst auszusehen, selbst wenn er nichts angestellt hatte. »Wer ist dran und bringt Bier mit?«

»Clay«, sagte David und stopfte sich eine Ladung Mini-USB-Sticks in die Tasche.

»Wir haben heute eine Versammlung wegen der Sache mit dem Selbstmord-Video«, sagte Artie. »Ich bin total paranoid, seit dein Vater dich erwischt hat. Ich hab meine Chronik seitdem ungefähr zehnmal gelöscht.«

Das Grinsen verschwand von Davids Gesicht. »Wennschon. Ich will nicht drüber reden, okay?«

»Warum machst du so einen Aufstand deswegen?«

David knallte seine Spindtür zu und verriegelte das Schloss. »Ich mache keinen Aufstand. Ich hab einfach keine Lust, drüber zu reden.«

Artie zuckte mit den Schultern.

Um zwölf Uhr mittags öffneten sich die Türen der Aula, und die Oberstufe von Saint Mary kam in Reih und Glied hereinmarschiert. Die Mädchen setzten sich in alphabetischer Reihenfolge auf die linke Seite – das Übliche bei gemeinsamen Versammlungen. Die Seite der Jungs war leer, was allgemeine Enttäuschung auslöste. Auf dem Podium saß das Lehrerkollegium mit gefalteten Händen auf Klappstühlen. Mr Branch, der Hausmeister, kämpfte mit einem verhedderten Seil in der Bühnentechnik. Er warf einen Blick nach oben in die Traversen und zerrte an dem Seil, was aber nichts nützte. Als er sah, dass die Mädchen bereits saßen, zuckte er die Achseln und schlurfte davon.

Schulleiterin Droit, mit frischem Eyeliner unter den roten Augen, klopfte gegen das Podiumsmikrofon. Die Rückkopplung kreischte. Die Mädchen hielten sich die Ohren zu.

»Meine Damen, Ruhe bitte. Sie dahinten, Ms Pigeon, Augen auf. Es gibt keine Nickerchen während einer Versammlung.« Die Schulleiterin räusperte sich und warf einen Blick auf ihre Notizen. »Wie Sie alle wissen, ist vergangene Woche eine große Tragödie über unsere Schule hereingebrochen. Die Einzelheiten haben Sie dem Brief entnommen, der Ihnen am Montag an Ihre Privatadressen geschickt wurde. Die Jungen werden jeden Moment zu uns stoßen, und unser neuer Schulpsychologe Mr Rogers … Verzeihung, Dr. Rogers … wird sprechen. Zunächst aber möchte ich mich wegen dieses entsetzlichen Geschehens an Sie, Noras Klassenkameradinnen, wenden.«

Sie wechselte die Karteikarten.

»Einige Mädchen haben sich wegen eines öffentlichen Gedenkens an mich gewandt.« Die Mädchen warfen sich gegenseitig Blicke zu und fragten sich, wer das gewesen war. »Aus diesem Geist heraus hat unsere Kunstlehrerin, Mrs S., mit viel Überlegung eine bewegende Würdigung geschaffen. Bitte sehen Sie unter Ihren Sitzen nach.«

Jedes Mädchen fand dort einen kleinen Umschlag. Darin befanden sich ein Text in eleganter Schrift und ein schwerer Anstecker aus Metall, dessen Bemalung ein Rotkehlchen darstellen sollte.

»Um unsere Solidarität mit der Familie Vogel zu bekunden«, las die Schulleiterin laut vor, »fordern wir Sie auf, diese Anstecker in Erinnerung an unsere liebe Nora zu tragen. Diese kleinen Vögel sollen nicht davonfliegen, sondern stecken für immer fest …« – sie blickte stirnrunzelnd auf die Karteikarte, drehte sie dann um – »… an unseren Herzen.«

Dünner Applaus ertönte. Ein Mädchen in der ersten Reihe befestigte die Brosche an ihrer Bluse, wodurch der Stoff nach unten gezogen wurde und ihren BH-Träger freilegte. Sie verdrehte die Augen, nahm den Anstecker ab, ließ ihn in ihre Handtasche fallen und zog den Reißverschluss zu.

»Und jetzt«, fuhr die Direktorin fort und steckte ihre Notizen weg, »möchte ich Sie dazu einladen, Ihre Erinnerungen mit allen zu teilen …«

Genau in diesem Augenblick flogen die Türen am hinteren Ende der Aula auf und gaben den Blick auf Mr Gauche frei, den Schulleiter von Saint Seb, gefolgt von vierhundert drängelnden, schwadronierenden, mit grauen Jacketts bekleideten Jungen in loser Aufstellung. Der Schulleiter rief: »Meine Herren, Ruhe. Ruhe, verdammt noch mal! Bei Gott, ich hau Sie durch diese Wand, Stubbs. Luther! Ist das Kaugummi?«

Die Mädchen verdrehten die Köpfe und bemühten sich, ihre Favoriten ausfindig zu machen. Die Jungs sortierten sich in alphabetischer Reihenfolge und strömten zu ihren Plätzen auf der anderen Seite des Gangs, wobei sie beinahe – aber nur beinahe – zum Anfassen nahe waren. Es war die unweigerliche Sitzordnung jeder gemeinsamen Versammlung seit ihrem Eintritt in die Oberstufe: David Sun saß gegenüber von Vonis Summer, die begeistert war, so dicht bei dem geilsten Zehntklässler zu sitzen; weiter hinten bildete Charlie auf ähnliche Weise ein Paar mit der dicken Cynthia Nuun; und in der letzten Reihe starrte Wallace Watts gierig auf die wunderbaren Beine seiner Cousine Willow, die ihr Bestes gab, ihn zu ignorieren.

Irgendwo im Mittelfeld entdeckte Charlie Paul Lampwicks hochgezogene Schultern. Er warf einen Blick zum entsprechenden Abschnitt bei den Mädchen hinüber und zuckte zusammen, als er merkte, dass ein schwarzes Augenpaar zurückschaute. Die dichten Wimpern blinzelten zweimal, bevor sich Rebecca mit schwingendem Pferdeschwanz abwandte. Charlie starrte auf seine Füße.

Gauche begab sich auf das Podium. Inmitten des Chaos versuchte Mr Branch es noch einmal mit den Schnüren, und beide Herren blickten nervös nach oben. Schließlich winkte Gauche den Hausmeister hinaus. »Nun denn«, dröhnte der Schulleiter, der nie ein Mikrofon benutzte. »Dies ist eine schwierige und traurige Zeit. Sicherlich mischen sich bei Ihnen allen außergewöhnliche Gefühle: Verwirrung, Empörung, Verunsicherung, Wut, ja, ähm, auch Unsicherheit.« Anders als Droit improvisierte Gauche seine Ansprachen. »Vielleicht möchten Sie mit jemandem darüber reden. Leider ist unsere ehemalige Schulpsychologin, Dr. Lightly, in Pension gegangen.«

»Wahrscheinlich wegen Schuldgefühlen«, zischelte irgendwer.

»Aber an ihrer Stelle haben wir nun einen Mann, der Schüler in ganz New England psychologisch betreut hat, zuletzt in Saint John in Shrewsbury und darüber hinaus im Rahmen des staatlichen Schulsystems in Worcester. Als er von unserem tragischen Verlust hörte, bot er an, seine freiberufliche Tätigkeit aufzugeben und eine Vollzeitstelle als Schulpsychologe bei uns anzunehmen. Bahnbrechend sind seine Forschungen auf dem Gebiet jugendlicher Gefühlsstörungen, welche wahrscheinlich eine Rolle beim tragischen Ableben von Ms Vogel gespielt haben. Letztere war, soweit ich sehen kann, eine … äh, tragische Akteurin. Dr. Roger?«

Dr. Roger erhob sich, schüttelte Gauches Hand und ergriff das Wort. Mit einem traurigen Lächeln ließ er seinen Blick über die Menge schweifen.

»Ich bin Dr. Roger. Einige von Ihnen haben mich schon persönlich kennengelernt, und mit der Zeit hoffe ich jeden einzelnen von Ihnen kennenzulernen. Jetzt aber erst einmal eine Frage: Wie geht es Ihnen heute?«

Schweigen.

»Nein, ich meine es ernst: Wie geht es Ihnen heute?«

Die Schüler schielten unsicher nach links und nach rechts.

»Sagen Sie es mir. Wie geht es Ihnen?«

Eintausendzweihundert Stimmen antworteten: »Gut.«

»Das ist die einfache Antwort«, sagte Dr. Roger. »Aber ich will, dass Sie nach der schwierigen Antwort suchen, die verrät, wie Sie sich tief drinnen wirklich fühlen.«

Danach hörte keiner mehr zu. Handys wurden heimlich zum SMS-Schreiben aus den Taschen geschmuggelt, Zettel herumgereicht, geflüsterte Anmachversuche weitergegeben. Liebespaare mit Gangplätzen (es gab derer vier) bemühten sich, die Hände über den Gang hinwegzustrecken und sich mit den Fingerspitzen zu berühren. Die weniger Date-Tauglichen stöpselten sich Kopfhörer in die Ohren oder musterten ihre Hände. Charlie fühlte, wie etwas seine Schulter traf, drehte sich um und sah Artie Stubb, der grinsend ein Gummiband festhielt. Charlie las die abgeschossene Büroklammer auf und spielte damit.

Als die Schüler entlassen wurden, stürmten alle schwatzend, lachend und unternehmungslustig in den Mittelgang. Eine Neuntklässlerin kreischte auf und schlug eine Hand von ihrem Hintern weg. Charlie hatte es nicht eilig, in den Unterricht zurückzukehren, und trödelte herum. Er sah Rebecca auf dem Weg nach draußen, flankiert von zwei Elftklässlerinnen. Sie wurden von Mr Throat, dem Geschichtslehrer, abgefangen, der Rebecca eine väterliche Hand auf die Schulter legte. Sie lachte, zuckte die Achseln und duckte sich weg, wobei sie plötzlich die entgegengesetzte Richtung einschlug und auf die rückwärtige Tür zuging.

Ihr Blick begegnete dem von Charlie. Ihr Grinsen war verschwunden, und aus irgendeinem Grund schien sie aufgescheucht und unangenehm berührt. Er öffnete den Mund, um etwas bisher nicht genau Überlegtes zu sagen, aber sie lief eilig weg zum Podium, wo Mr Branch endlich die Schnüre entzerrt hatte. Einmal noch sah sie mit knallrotem Kopf zu Charlie zurück, dann verschwand sie nach draußen auf den Parkplatz.

Das Zuschlagen der Tür hallte in dem jetzt leeren Raum wider. Charlie war allein, er hielt die Büroklammer fest in der Hand. Er warf sie. Die Klammer flog unkontrolliert und prallte vom Podium ab. Wie zur Antwort gab es einen Knall, ein Stück Seil schnalzte hoch ins Traversengestänge, und mit einem schwirrenden Geräusch fiel das Einsfünfzig-mal-drei-Meter-Transparent, auf dem Nora Vogels Klassenfoto zu sehen war, herab und landete metallisch krachend auf dem Boden.

Um 13:45 Uhr kehrte Paul Lampwick von seinem Einzelgespräch bei Dr. Roger mit rot geränderten Augen zurück. Charlie schlurfte langsam zu dem Beratungszimmer und fuhr dabei mit seinen Fingern an den Spinden entlang.

»Charlie, kommen Sie rein.«

Dr. Roger stand auf, um ihm die Hand zu schütteln. Seine Handflächen waren weich und glatt. Er roch nach Aloe.

»Danke, dass Sie herübergekommen sind.« Er klang vergnügt, fast befreit. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich habe heute so viele Jugendliche gesehen, dass mir der Schädel brummt. Ich habe das Gefühl, ich sollte einfach einen kleinen Rekorder aufstellen, der pausenlos ›Ja, das ist völlig normal‹ wiederholt.« Er grinste.

Charlie entspannte sich ein wenig und setzte sich in seinen Lehnstuhl.

»Also, was gibt’s?«, fragte Dr. Roger.

»Nichts.«

»Nichts? Alles in Ordnung?«

»Alles in bester Ordnung.«

Dr. Roger runzelte die Stirn. »Gut! Ich freue mich, das zu hören.« Er blätterte in Charlies Akte. »Ihre Klassenkameraden haben ein paar freundliche Dinge über sie gesagt.«

Charlie blinzelte. »Ähm, ich bin Charlie Nuvola.«

»Wie bitte?«

»Ich glaube, Sie verwechseln etwas. Meinen Namen.« Charlie deutete auf die Akte. »Ich heiße Charlie Nuvola.«

Dr. Roger schaute nach unten, dann wieder zu Charlie. »Ist es so erstaunlich, dass Ihre Klassenkameraden nett von Ihnen gesprochen haben?«

Er zuckte die Achseln.

»Wären Sie weniger überrascht, wenn sie etwas Fieses über Sie erzählt hätten?« Dr. Roger wartete kurz. »Oder wenn sie überhaupt nichts sagen würden?«

Charlie verschränkte die Arme. Wieder dieses Gefühl, dass sich ein Deckel auf sein Gehirn legte.

»Das ist ganz in Ordnung, Charlie. Die unabhängigsten Köpfe sind oft auch die besonders Stillen. Die Sache ist nämlich die, dass wir Dinge für uns behalten, wenn wir nicht damit rechnen, dass sie irgendwer versteht.« Dr. Roger legte erneut eine kurze Pause ein. »Fühlen Sie sich gelegentlich so?«

»Tut das nicht jeder?«

»In meinen Notizen steht, dass Dr. Lightly Fixol verschrieben hat, ein Antidepressivum.«

»Sie hat es empfohlen. Nicht verschrieben.«

Dr. Roger klopfte mit dem Zeigefinger gegen seine Lippen. »Also, wenn Sie der Meinung sind, dass Sie es nicht brauchen – ich stimme zu.«

Charlie war erstaunt. »Ehrlich?«

»Ich glaube nicht daran, dass alle Probleme durch Medikamente lösbar sind, Charlie. Ich beobachte gerne menschliches Verhalten und Interaktionen.«

Charlie lehnte sich in seinem Sessel zurück und stieß einen langen Seufzer aus. »Gut.«

Dr. Roger blätterte eine Seite um. »Hier steht, dass Ihre Mutter vor einigen Jahren weggegangen ist.«

»Das stimmt.«

»Möchten Sie darüber reden?«

»Nicht wirklich.«

»Mutter weg. Nicht viele Freunde. Enge Beziehung zu Ihrem Vater?«

Charlies Blick sprang hinunter zum Teppich. »Ja.«

»Bis vor Kurzem?«

Charlie holte Luft. Er erwiderte den Blick des Arztes.

»Das sind momentan schwierige Jahre. In die Eltern-Kind-Beziehung geraten Spannungen, ganz besonders in einem Alleinerziehenden-Haushalt.«

Charlie schüttelte den Kopf. »Nein, das trifft auf uns nicht zu. Wir sind Freunde.«

Dr. Roger nickte langsam. »Gut. Gut.« Er nahm einen Schluck aus dem Wasserglas auf seinem Schreibtisch. »Und Freunde sind immer füreinander da. Passen aufeinander auf. Bestimmt passen Sie manchmal auch auf ihn auf.«

»Manchmal. Was ist dagegen einzuwenden?«

»Nichts. Ich bin sicher, das hat Sie sehr selbstständig gemacht, was von Vorteil ist. Bedeutet, dass Sie reif sind. Natürlich bedeutet es auch, dass Sie sich oft auf sich selbst verlassen müssen. Ihre eigenen Eltern sein müssen. Selbst entscheiden müssen, was gut oder schlecht ist, richtig oder falsch. Ich bin mir sicher, dass Sie Listen schreiben. Vielleicht in einem Tagebuch? Oder vielleicht auch nur in Ihrem Kopf, wenn Sie allein sind. Listen mit Grundsätzen. Prinzipien. Dingen, auf die Sie sich stützen, die Sie für sich allein entscheiden.«

Charlie dachte an seine Liste glücklicher Momente, sagte aber nichts. Dr. Roger redete weiter.

»Die meisten Menschen haben nie eigenverantwortlich handeln müssen, deshalb sind sie nicht klug genug, nicht stark genug. Was sie wiederum ichbezogen und rücksichtslos macht. Und manchmal hat man den Eindruck, dass es … das Beste ist, Menschen und ihren zweifelhaften Grundsätzen einfach aus dem Weg zu gehen. Allein zu sein wird selbst zu einem Grundsatz, nicht wahr?«

Charlie spürte einen Kloß im Hals. Er versuchte zu schlucken, konnte aber nicht.

»Doch Alleinsein ist hart. Es ist einsam, und es ist traurig. Hin und wieder stoßen Sie vielleicht auf jemanden, der anders ist. Anders, so wie Sie. Dennoch müssen Sie allein sein. Denn wenn Sie nicht müssen, sind Sie womöglich völlig grundlos allein. Dann ist es womöglich nicht aus freien Stücken.« Dr. Roger beugte sich vor und sah Charlie in die Augen. »Charlie, ich bin hier, um Ihnen zu sagen, dass Sie nicht allein sein müssen. Niemand sollte jemals allein sein. Das ist ein Grundsatz, den ich habe.« Er faltete die Hände. »Glauben Sie, Sie könnten einen Grundsatz von mir übernehmen?«

Charlie blinzelte. Er spürte etwas Kaltes auf seinen Wangen. Er berührte sie mit den Fingerkuppen, und als er die wegnahm, waren sie feucht. Entsetzt starrte er auf die Tränen.

»Charlie, ich glaube nicht, dass Sie Depressionen haben.« Dr. Roger klappte Charlies Akte zu und schob sie beiseite. »Was plausibel scheint, ist, dass Sie sich isoliert fühlen. Ihre Beziehungen zu der Welt um Sie herum sind gestört, weil diese Sie im Großen und Ganzen enttäuscht hat.« Dr. Roger lehnte sich wieder zurück und legte die Fingerspitzen seiner aufgestellten Hände gegeneinander. »Wenn ich Ihnen eine Behandlung empfehlen könnte, wären Sie bereit, sich darauf einzulassen?«

David musste den ganzen Tag an Rose denken. Er beschloss, in der letzten Stunde Sport zu schwänzen und nach Hause zu gehen. Er verdrückte sich durch die Hintertür und lief im Laufschritt zum Parkplatz. Eine Reihe Autos stand auf der Wiese hinter der Aula, einer davon war ein weißer Ford Taurus mit dem Kennzeichen WATTSI. Eine Frau im Rentierpulli ließ gerade einen Wortschwall auf zwei müde Bühnenhelfer los. Es war Mrs Hynes, Saint Marys Theaterregisseurin.

»Also, wir können die Ascot-Szene nicht ohne Mrs Higgins spielen! Wieso hat sie sich einfach verdrückt? Sie weiß doch, dass wir heute Probe haben.«

David wollte quer über das Gelände laufen, aber Mrs Hynes hatte ihn schon entdeckt. Sie winkte in seine Richtung, und ihre finstere Miene zerfloss in ein honigsüßes Lächeln. Ihre violetten Absätze versanken im Dreck, während sie zu ihm herüberhoppelte.

»David! Ach, was bin ich froh, dass ich Sie erwischt habe. Hören Sie, die Badesaison fängt erst in ein paar Wochen an. Was halten Sie davon, sich für My Fair Lady um eine Rolle zu bewerben?«

David rückte seine Tasche zurecht und warf einen sehnsüchtigen Blick auf sein Motorrad, das nur ein paar Meter entfernt stand. Mrs Hynes war ihm unheimlich. Sie war ja ganz nett, aber sie schien unter schwerem Sexmangel zu leiden. Letztes Jahr hatte er ihre Titten gesehen, als sie sich nach einem heruntergefallenen Kaffeebecher bückte, und er fragte sich manchmal, ob das ein Versehen gewesen war. Das Erlebnis hatte bei ihm Spuren hinterlassen.

»Ist die Bewerbungsfrist nicht vorbei?«

»David, mein Schatz, das Ganze ist eine Katastrophe. Meine Mrs Higgins ist VERMISST. Alle Mitwirkenden sind total gefühlsduselig, seit dieses Mädchen gestorben ist. David, Sie wissen, dass sie auch eine Rolle haben wollte, oder? Sie hatte keine Bühnenqualitäten, und das hab ich ihr gesagt. Gestörte Persönlichkeit, klare Sache, armes kleines Ding. Und diese gefärbten Haare, pfui Teufel. Egal, jedenfalls ist Orson ausgestiegen, was ein Trauerspiel ist, denn er ist der beste Tänzer der Schule, und ich erinnere mich, dass Sie letztes Jahr für die Rolle des Anthony vorgesprochen haben, und Sie hatten eine sehr passable Singstimme, also, was meinen Sie, na? Machen Sie’s?« Sie klimperte mit ihren falschen Wimpern.

»Ich würde ja gern, Mrs Hynes, aber ich hab sehr viel für die Schule zu erledigen.«

Sie schaute ihn von der Seite an und lächelte. »Ich glaube, Sie laufen weg, weil Sie sich mit einem Mädchen treffen.«

»Ich habe einfach wirklich nur viel zu tun.«

»Ich weiß, was Sie vorhaben. Ach, man müsste noch mal jung sein. Natürlich ist es auch nicht so lange her, dass ich in Ihrem Alter war …« Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter, und in Davids Magen geriet etwas ins Schlingern.

»Also dann, ich muss jetzt los.«

»Sie kommen aber zur Aufführung, nicht wahr?« Ihre Hand glitt nach unten und umklammerte seine Finger.

»Na klar«, sagte er und machte sich los. Zu seinem Motorrad rannte er in Höchstgeschwindigkeit.

***

Rose saß am Computer des Familienzimmers.

»Hey, was treibst du so?«

Sie drehte sich um, als sie seine Stimme hörte, und lächelte. »Hallo.« Sie stand auf und legte ihm die Arme um den Bauch.

»Oh, sind wir zu Umarmungen fortgeschritten?«

»Freundschaftliche Umarmungen, ja«, sagte sie und drückte sich an ihn.

Freundschaftlich aus deiner Sicht, dachte David.

»Sieh mal, was ich heute gelernt habe.« Sie hatte ein Blatt Briefpapier seines Vaters zu einem Vogel gefaltet. »Wenn du ein Teil mit einem anderen genau richtig zusammenfaltest, entsteht daraus die Gestalt von etwas Neuem. Ist das nicht interessant?«

»Du hast Origami gelernt?«

»Bis jetzt kann ich nur den Vogel«, sagte sie. »Soll ich dir zeigen, wie es geht?«

»Später«, sagte David. »Komm, lass uns ein bisschen fernsehen.«

An diesem Abend klopfte David an die Glastür und winkte seinen Eltern zu, die gerade beim Essen saßen. Mr Sun zeigte auf seine Uhr, was bedeutete: »Zur Sperrstunde zurück«, und Mrs Sun lächelte mit traurigen Augen, was bedeutete: »Wenn du heute Nacht rauchst, bricht es mir das Herz.«

»Komm, lass uns fahren«, sagte David.

Das Licht der Garagenlampen war so hell wie eine Nahtoderfahrung. Die Corvette und der Maserati schlummerten Seite an Seite. Davids Motorrad folgte als Nächstes, zusammen in einer Box mit Roses Ei. Zuletzt kam sein Cadillac Firebird.

David liebte schnelles Fahren. Es putschte ihn auf. Die Schwerkraft, die ihn in seinen Sitz presste, war wie eine Barriere, zu deren Durchbrechen er sich selbst aufstachelte. Er fuhr schneller, drückte noch fester aufs Pedal, um herauszufinden, was auf der anderen Seite war.

Rasch waren sie draußen auf der dunklen Straße. David nahm die erste Kurve mit Tempo hundert.

»Macht das nicht voll Laune?«, fragte er, während er das Gaspedal bis zum Boden durchtrat.

»Ja«, sagte Rose zögerlich.

Die schwarzen Bäume flogen vorbei, zunehmend ununterscheidbar voneinander. David kannte diese Straßen mit dem Muskelgedächtnis und nahm nur winzige Korrekturen vor, er lockte das Auto, schmeichelte ihm, gab ihm, was es wollte. Er fragte sich, ob Sex sich genauso anfühlte.

Dann spürte er eine Berührung an seinem Knie. Bei dieser Geschwindigkeit war es Irrsinn, die Augen von der Straße zu nehmen, aber er sah lange genug nach unten, um zu sehen, dass Roses Hand sein Knie umklammerte. Wilde Panik schoss durch seinen Körper. Jetzt ein Elektroschock, und sie würden sich um einen Baum wickeln, bevor er, David, auch nur »Autsch« sagen konnte. Aber es kam kein Schock, nur der Druck von Roses Hand und das Rascheln ihres Atems.

Schließlich verlangsamte er das Tempo und bog in eine holprige Seitenstraße ein. Er grinste. »Na, fandest du das auch gut?«

Rose war aufgewühlt, und ihr Atem ging schwer, eine exzellente Imitation menschlichen Schreckens. Ihre Hand krampfte sich noch immer um Davids Knie.

»Wir hätten einen Unfall haben können.«

»Unwahrscheinlich«, sagte David. »Ich hab das Ding ziemlich unter Kontrolle.«

»Wir hätten einen Unfall haben können«, wiederholte Rose und verweilte bei dem neuen Ausdruck. Hätten können. »Wir hätten aufhören können zu funktionieren.« Sterben, verschönerte ihr Verstand. Außer Betrieb setzen. Stilllegen.

»Ja. Kann schon sein. Aber das macht zum Teil den Nervenkitzel aus.«

David brachte den Wagen zum Stehen und stellte den Motor ab. »Komm. Von hier aus gehen wir zu Fuß.« Sie stiegen aus dem Wagen. »Du zitterst ja«, sagte er.

»Das ist nur überschüssiges Adrenalin. Es wird sich jeden Moment verflüchtigen.«

»Na gut, dann komm.« Er machte sich auf den Weg zum Wald. Rose folgte ihm. Der See war ölig schwarz zwischen den Bäumen sichtbar. Roses Hirn erzeugte einen neuen Vergleich, indem es Umrisse gegeneinanderlegte. Sie zitterte … wie eine sich kräuselnde Wasseroberfläche.

Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012