6. Der Campingplatz

Freitagabends trafen sich David, Clay und Artie auf dem Campingplatz. Er lag ein paar Kilometer nordöstlich des Sees, ohne Häuser in der Nähe. Für David war das ein Beweis gegen die Diagnose Dr. Rogers und seiner Eltern.

»Die denken, ich bin komplett verblödet durch Computer und Internet.«

»Verblödet?«, fragte Rose.

»Hirntot. Aber ich und die Kumpels hängen hier ab und tauchen in die Natur ein. Hier draußen kriegen wir eine Beziehung zueinander, verstehst du? Aber nicht andersrum oder so.«

»Andersrum?« Davids Sprachgebrauch stand im Widerspruch zu der Definition, die sie hatte.

»Schwul.«

Tiefer im Wald flackerten Lichter, und Stimmen drangen zwischen den Bäumen hindurch.

»Tatsache ist, ich leide nicht an Gefühlsverarmung. Auch wenn ich nichts gegen deine Anwesenheit einzuwenden habe.« Er blieb stehen und wandte sich ihr zu. »Die sollen mich ruhig für verrückt halten, solange das bedeutet, dass ich so was Geiles wie dich kriege.«

In der Dunkelheit war nicht zu sehen, dass Rose errötete. David streckte die Arme nach ihr aus, aber sie wich aus und stolperte dabei beinahe über eine Baumwurzel.

»Es tut mir leid«, sagte sie. »Noch nicht.«

»Scheiße.« David trat gegen den Boden, Schotter und Kieselsteine spritzten gegen Roses Knöchel. »In Ordnung. Letztlich hab ich vorher auch schon warten müssen.«

»Vorher?«

David setzte sich wieder in Marsch, und Rose beeilte sich, Schritt zu halten. »Oh, und hör mal. Die Jungs wissen nicht, dass du eine Gefährtin bist, und ich möchte es auch gern dabei belassen. Die würden ja denken, ich hab sie nicht mehr alle. Oder ich wär so daneben, dass meine Eltern mir eine Sexpuppe gekauft hätten. Tu also einfach so, als würdest du von außerhalb kommen, okay?«

»Iiyo.«

David blieb erneut stehen. »Warte mal. Was war denn das?«

»Nihongo de hanashitara dou darou?«

»Sprichst du Japanisch?«

Rose nickte.

David lachte. »Nicht so weit außerhalb. Amerikanisch.«

»Okay.«

»Super«, knurrte David und steuerte auf den Zeltplatz zu. »Das wird bestimmt funktionieren.«

***

Weiter vorne stießen sie auf ein anderes Auto, das mitten im Unkraut geparkt war. Es war schwarz wie Davids Wagen, glänzte aber weniger. Ein Mädchen saß auf dem Beifahrersitz, den Kopf seitwärtsgekippt, die Augen geschlossen.

»Clays Schwester«, sagte David. »Es ist ihr Auto. Clay hat noch keinen Führerschein.«

»Lädt sie auf?«

»Sie ist ohnmächtig.« Er schüttelte den Kopf. »Komm, es ist gleich hier unten.«

Der Campingplatz bestand aus dem Fundament eines verlassenen Hauses. Betonstufen führten zu einer grün überwucherten Grube mit Steinbrocken und Eisenplatten hinunter. In der Mitte warf ein Feuer irrwitzige Schatten auf die Wände. Drei Leute saßen auf den I-förmigen Eisenträgern – Clay, Artie und eine Gestalt mit Kapuzenpulli.

»Unser Sun God kommt«, dröhnte Clay und stand auf. »Wie liebenswürdig von dir, uns mit deiner Anwesenheit zu beehren.«

Er versetzte David einen Hieb gegen die Schulter und sprang in Boxerstellung zurück. Für einen so schweren Kerl war er flink.

»Auf, Sun. Los geht’s. Du und ich. Ich versohl dir den Schwimmerarsch.«

»Hau ab. Du hättest eine Herzattacke vor dem ersten Gong.«

Clay lachte und drückte David ein Bier in die Hand. Artie nickte zur Begrüßung.

»Wer ist denn die Feuerlocke?«

David legte Rose einen Arm um die Schulter. »Jungs, ich möchte euch Rose vorstellen.«

»Entzückend«, sagte Clay und verbeugte sich.

»Ich komme von außerhalb«, sagte Rose.

»Na dann, willkommen in unserem bescheidenen Dorf.« Clay breitete die Arme aus wie ein Jahrmarktausrufer. Er war schon betrunken. »Das reizende Westtown. Ein so langweiliger Ort, dass sein Name auf einen anderen Ort verweist. Ich bin Clay, und der Typ, der Humphrey Bogart nachmacht, ist Artie.«

»Ich dachte, du hast Hausarrest.« Artie redete mit David, glotzte dabei aber Rose an.

David setzte sich Clay gegenüber. »Freigang wegen guter Führung«, sagte er und gab Rose ein Zeichen, sich ebenfalls zu setzen. Er öffnete mit einem Plopp eine Bierflasche und nahm einen langen Zug.

»Woher kommst du?«, fragte Artie Rose.

»Osaka.«

»Vermont«, ergänzte David rasch. »Osaka in Vermont. Sie ist grade hergezogen.«

Die Gestalt mit der Kapuze trank ebenfalls einen Schluck aus ihrer Flasche. Ein paar lange dunkle Haarsträhnen hingen außerhalb der Kapuze. Wohlgeformte, blasse Beine endeten in pinkfarbenen Flip-Flops. »Kommst du dann auch auf die Saint M?« Ihre Stimme klang nett, aber sie sprach mit schwerer Zunge.

Anzeichen von Trunkenheit, lautete die Nachricht, die an Roses Prozessor gesandt wurde. Verboten. Rote Lichtpunkte tanzten um die Bierdosen, den Wodka und Arties Zigaretten. Nein. Nein. Nein.

»Rose wird zu Hause unterrichtet«, sagte David.

»Warum lässt du sie eigentlich nicht selbst antworten?«, sagte das Mädchen.

David sah Clay an. »Wer von euch hat Ms Persönlichkeit mitgebracht?«

»Becks ist die Freundin meiner Schwester.« Clay warf einen ärgerlichen Blick in ihre Richtung. »He, Becks, du könntest doch mal den Kartoffelsaft weitergeben, ja?«

»Und wenn nicht?«, gab sie zurück. »Und ich heiße Rebecca, John.«

»Becks hat schlechte Laune«, sagte Clay. »Sie ist sexuell frustriert. Das ist der Grund, weshalb sie den Wodka mit keinem teilen will.«

Er wollte sie kitzeln, aber sie schlug ihn weg.

»Ich bin schlecht gelaunt, weil meine Fahrerin ausgeknockt ist, und ich jetzt hier bei euch festsitze.« Rebecca wiegte ihre Flasche hin und her. Ihr Körper rollte sich in sich zusammen und bildete einen geschlossenen Kreis. Der Pfeil in ihrem Hirn hatte niemanden, auf den er sich richten konnte.

»Wo ist dein Freund?«, fragte Rose.

David, der gerade etwas sagen wollte, verstummte schlagartig. Die Jungs starrten erst Rose an, dann Rebecca, die die Flasche ein paar Zentimeter vor ihre geöffneten Lippen hielt.

»Kümmer dich um deinen eigenen Kram, blöde Ziege«, sagte sie schließlich.

»Entschuldigung. Ich wollte nicht …«

»Scheiß drauf«, sagte Rebecca und stand auf. »Nette Freunde, John.«

»Die beruhigt sich auch wieder«, sagte Clay, sobald sie verschwunden war. »Sie ist bloß besoffen.«

»Und wir nicht.« David streckte die Hände nach der Kühlbox zu Arties Füßen aus. »Also lasst uns was dran ändern.«

»Genau, verdammt!«, grölte Clay.

Rose sank auf ihrem Platz zusammen – ihre Körpersprache signalisierte Bedauern und Scham. David bemerkte es nicht. Er zerdrückte soeben eine Bierdose an seiner Stirn. Rose tat es leid, dass sie das andere Mädchen verärgert hatte. Aber David ging es gut. Das war wichtig. Als Einziges wichtig.

***

Eine Stunde später hatte sich Rose noch immer nicht vom Fleck gerührt. Ihre Hautsensoren registrierten die nächtliche Kühle, aber sie hatte nichts, womit sie sich zudecken konnte. David schien auf der anderen Seite des Feuers warm zu sein. Seine Wangen und sein Hals waren gerötet, und feuchte Haarlöckchen klebten an seiner Stirn. Die Jungs redeten laut, lachten und boxten sich gegenseitig. Rose wünschte, David würde seinen Arm um ihre Schulter legen.

Artie trank nicht. Stattdessen rauchte er, starrte ins Feuer und warf die Zigarettenstummel in die Flammen. Als er sich die sechste oder siebte Zigarette angezündet hatte, redete er endlich.

»Hey, Rote. Was guckst du so finster?«

»Wie bitte?«

»Warum so trübsinnig?«

»Ich bin nicht trübsinnig. Ich warte.«

Artie bot Rose eine Kippe an, aber sie schüttelte den Kopf.

»Schon ulkig, David hat noch nie von dir erzählt.«

»Wir haben uns gerade erst kennengelernt.«

»Echt? Ihr macht nämlich den Eindruck, als wärt ihr ziemlich eng miteinander.«

Sie lächelte warm. »Wirklich?«

»Läuft was zwischen euch?«

»Läuft?« Fernseher liefen oder ein Wasserhahn. Das konnte er nicht gemeint haben. Artie rückte näher und setzte sich neben sie.

»Hör mal.« Sein Atem stank nach Tabak. »David und ich, wir teilen alles, verstehst du? Was ihm gehört, gehört letztlich auch mir. Weil wir beste Freunde sind. Kapierst du, was ich dir sagen will?«

Wieder schüttelte Rose den Kopf. Ein neues Gefühl stieg in ihr auf – so wie das, was sie im Auto empfunden hatte, nur unterschwelliger.

»Also, erzähl mal, was macht dich scharf?«

Er streckte die Hand aus und wollte sie ihr aufs Knie legen. Von hinten kam eine Stimme.

»He, Stubb. Ich weiß, hier ist ein Campingplatz, aber stell dein Zelt woanders auf, ja?«

Es war Rebecca, die immer noch ihre Flasche im Arm hielt.

»Was hast denn du für ’n Problem?«

»Ich habe keine Probleme, ich löse sie.«

Artie stand auf und reckte sich. »Wegen mir.«

»Häng dich an die anderen dran«, sagte Rebecca und deutete mit dem Kopf auf die übrigen Anwesenden. »Wenn du einen zum Betatschen suchst, probier’s mit David. In den bist du doch verliebt.«

»Leck mich.« Artie bückte sich nach seiner Zigarettenschachtel und machte sich auf den Weg zur Treppe.

»Hättest du wohl gern«, murmelte Rebecca. Sie setzte sich auf Arties Platz auf dem Eisenträger. »Hey. Tut mir leid wegen ihm. Der ist halt ’n bisschen pervers.«

»Danke, dass du ihn dazu gebracht hast, wegzugehen«, sagte Rose. »Bei ihm fühle ich mich … unwohl.«

»Überrascht mich nicht wirklich.« Rebecca schaute durch die Flammen zu den anderen Jungs hinüber, die gerade Daumenkampf spielten. »Schau sie dir an. Du und ich, Baby, wir sind total unsichtbar.«

»Wie meinst du das?«

Rebecca schnipste mit einem lackierten Fingernagel gegen ihre Flasche. Rose entdeckte eine Ziege mit Filzhut und ziemlich belämmertem Blick auf dem Etikett. Eine blöde Ziege?

»Das ist sowieso ein Haufen Wichser. Die halten sich ja für sooo witzig. Wir sind bestenfalls als Publikum hier.«

Rebeccas Gesicht war herzförmig, mit hübschen, aber müden Augen. Ein roter Anstecker in Gestalt eines Vogels war an ihrem Sweatshirt befestigt.

»Mir gefällt dein Top. Ist das eine Rose?«, wollte Rebecca wissen.

»Eigentlich ist es eine Kirschblüte.«

»Du solltest den Leuten erzählen, dass es eine Rose ist. Passend zu deinem Namen. Goldig.«

Freundlichkeit, meldete Roses Hirn. Erwidere das Kompliment.

»Mir gefallen deine Haare«, sagte Rose, und das stimmte auch. Sie waren tintenschwarz.

»Meine Haare? Gott, warum denn das? Die sind schlicht und ergreifend langweilig schwarz. Du bist doch diejenige mit den tollen Haaren. Meine sind ganz gewöhnlich.«

»Ich hab so was noch nie gesehen.«

»Na schön, danke. Eigentlich hab ich drüber nachgedacht, ob ich sie verändern soll. Ein kleiner privater Neuanfang.« Rebecca fuhr mit dem Finger an einer Strähne entlang. »Hör mal, ich wollte vorhin nicht zickig sein. Du bist, glaube ich, nett, und David ist bestimmt ein guter Kerl.«

»Für mich ist er der Einzige«, sagte Rose. Etwas Warmes flackerte in ihr auf, und sie stellte sich Sonnenlicht vor, das auf Stahlschränken reflektierte.

Rebecca machte große Augen. »Du musst ja echt auf ihn abfahren. Wo habt ihr euch kennengelernt?«

»In seiner Auffahrt.«

»Ihr seid Nachbarn? Ich kenne einen Jungen, der am Horizon Lake wohnt.«

»War er dein Freund?«

Ihr Lachen klang trocken, kraftlos. »Für einen kurzen Moment vielleicht. Aber wir haben nicht zueinander gepasst.«

»Wie meinst du das?«

»Ich dachte, uns verbindet etwas, aber ich hatte mich getäuscht.«

Rose blinzelte. »Aber er war dein Freund. Du musst eine Verbindung schaffen.«

Rebeccas schmale dunkle Augenbrauen zogen sich zusammen. »So einfach ist das nicht.«

Rose schüttelte den Kopf. »Da haben wir eine Meinungsverschiedenheit.«

Rebecca stemmte eine Hand in die Hüfte. »Ach, wirklich? Na, meine Freundin Willow hat sich verdammt angestrengt, eine Verbindung mit deinem Freund David aufzubauen, und er hat sie auf den Müll geworfen wie ein …«

»Das ist nicht wahr«, sagte Rose.

»Du glaubst, du wärst die Erste für ihn? Schwester, da hat’s schon viele andere gegeben. Und das ist nicht meine persönliche Meinung, das ist eine Tatsache

»Das ist nicht wahr«, sagte Rose wieder.

Der Pfeil verband sie und David – er war unbeirrbar, ohne Abzweige oder Kreuzungen. Es gab grundsätzlich keine weiteren Verbindungen. Rebecca irrte sich entweder oder sie log.

Rose stand auf.

»Hey, tut mir leid«, sagte Rebecca. »Ich bin besoffen, und …«

Rose machte sich auf den Weg zur Treppe. Da oben würde ihre Ethernetverbindung klarer sein, ohne Störsignale.

David stieß eine leere Bierdose um und blickte auf.

»Wo ist denn Rose?«

Clay lag zusammengesackt auf den Treppenstufen, er schlief. Artie und das Mädchen, Becks, waren verschwunden.

»Clay.« David warf eine Bierdose nach seinem Freund. Sie flog gegen seinen Sneaker und trudelte ins Unkraut. »Clay, wach auf, Mann.«

David kam auf die Füße, indem er sich an der Wand abstützte. Er stieg die Treppe hoch mit Beinen weich wie Wackelpudding.

»Flipper«, murmelte er, oben angekommen, ins Gras. »Alle fahrn supergern … mit ’m Flipper.«

»David?«

Ein Paar neue Chucks standen ein paar Zentimeter vor Davids Nase. Er erkannte die pink geblümten Socken.

»Hey, Baby.«

»Du bist betrunken.«

»Weißt du, was ich an dir mag?« David hievte sich in eine sitzende Position. »Du klingst nicht mal sauer. Du stellst einfach fest, was klar ist. David, dein Kerl, ist besoffen. Schlicht und ergreifend.« Er schaute hoch. Rose stand mit verschränkten Armen da, die Haare wehten ihr ins Gesicht. »Was machst du hier?«

»Ich habe auf dich gewartet.«

»Oh.«

»Können wir zu dir nach Hause gehen?«

»Ja.« David musterte die Umgebung – tanzende Bäume in allen Richtungen. »Wir müssen bloß das Auto finden. Hast du vielleicht ’n eingebautes Navi? Nicht. Dachte ich mir.«

Die beiden stolperten durchs Unterholz, wobei Rose David eine Hand auf den Rücken legte, um ihn zu stützen. »Schätze, das ist ’ne erlaubte Berührung, oder?«, sagte David und lachte über seinen eigenen Witz. »Lassen wir die Hand nördlich vom Äquator, Fräulein. Ich will nicht, dass du irgendwas Neues ausprobierst. Ein Mädchen könnte die Gelegenheit ausnutzen, wenn ein Mann in … wenn er in so ’nem Zustand ist.«

Schließlich erreichten sie den Wagen. David ging in Richtung Fahrertür.

Nein, sagte Roses Hirn. »David, du kannst so nicht fahren.«

»Wieso denn nicht?«

»Es ist … verboten.«

David warf lachend den Kopf zurück. »Bei mir nicht. Komm schon, ich mach das jedes Wochenende. Es ist ungefähr drei Uhr früh. Keine Autos auf der Straße, und ich fahr wirklich langsam, versprochen.«

Rose rührte sich nicht. David bugsierte sich auf den Fahrersitz und ließ den Motor an. Er warf ihr einen Blick durch das offene Seitenfenster zu.

»Willst du laufen?«

»Ich will bei dir sein.«

»Dann steig ein.«

Sie schwenkten auf die leere Straße ein und fuhren im Schneckentempo zurück zur Route 20. Es waren keine anderen Autos unterwegs, und David fuhr tatsächlich langsam und warf hin und wieder einen Blick über die Schulter. Das Motorengeräusch erfüllte den stillen Raum zwischen ihnen.

»Und, hast du dich amüsiert?«, fragte David, als sie die Hauptverkehrsstraße erreichten.

»Ja.«

»Gut. Ich mich auch.«

»Findest du, dass Rebecca mehr für das Auge bietet als ich?«

»Wer?«

»Becks.«

»Wo hast du das denn her?«

»Findest du das?«

»Ich find sie nicht geiler als dich, falls du das meinst. Wieso? Eifersüchtig?«

Rose analysierte ihre Gefühle und fand sie uneindeutig. »Woran merkt man, dass man eifersüchtig ist?«

»Eifersüchtig bist du, wenn du die Person, die du vögeln willst, mit einem andern flirten siehst. Und du bist sauer deswegen und fühlst dich absolut tough. So, als könntest du ein Auto in Stücke reißen.«

»So fühle ich mich nicht.«

»Du brauchst sowieso nicht eifersüchtig zu sein. Du bist die Einzige für mich, Baby.«

Rose legte ihm die Hand aufs Knie, und diesmal klammerte sie sich nicht daran fest, sondern drückte es. Kein Elektroschock, Gott sei Dank. Es muss ihr besser gehen, dachte David. Klar geht es ihr besser. Es hat ihr vorher noch nie jemand einen Bären aufgebunden.

Rose sah dies:

Das Vorbeirasen der Bäume, die sich windende Straße, das pulsierende Aufblitzen der Katzenaugen an der Leitplanke. Blink. Blink. Blink. Und dann ein kurzes Aufleuchten, etwas Helles in der Dunkelheit zwischen zwei Katzenaugen. Es war das Vorderlicht eines Fahrrads, das sich zitternd auf dem Seitenstreifen entlangbewegte, während der Fahrer langsam bergauf fuhr. Aber die Perspektive stimmte nicht. Die beiden Fahrtrouten, in Roses Kopf als leuchtende, gepunktete Linien abgebildet, hätten sich nicht kreuzen sollen. Die Straße rutschte weg, und zum zweiten Mal stellte Rose sich vor, dass sie sterben könnte.

Es würde keine Rose mehr geben, keinen ersten Kuss, nicht mal einen dritten Tag.

Die Reifen quietschten. David fluchte. Das Lenkrad wirbelte herum und entglitt seinen Händen, Rose warf sich über ihn und schützte seinen Körper mit ihrem eigenen. Ein Schrei, ein Schlag, die Welt drehte sich.

Und dann war es vorbei, und David lag in ihren Armen.

Er atmete schwer. Seine Brust hob sich stoßweise atmend gegen ihre. Rose drückte ihn, vergrub ihr Gesicht an seinem Hals und spürte, wie sich die weiche, erhitzte Haut seiner Wange an sie presste. Er roch nach einer Mischung aus scharfem Schweiß und süßer Erde. Dann, als der Moment der Krise vorüber war, lud sich Roses Körper zu einem Elektroschock auf. Sie wich zurück, fühlte David aber immer noch in ihren Armen, während die Welt wieder ins Blickfeld rückte.

»Himmelherrgott«, sagte David.

Der Wagen stand jetzt in entgegengesetzter Richtung, die Straße war in Licht getaucht. Etwas Blaues lag auf der Mittellinie. Ein paar Meter weiter wand sich eine Metallspinne um die Leitplanke. Das blaue Ding rührte sich nicht.

»Oh Mann«, sagte David. »Das war knapp.«

In dem ganzen Chaos war der Motor ausgegangen. David drehte den Zündschlüssel, der Motor begann zu surren, er fuhr an. Langsam entfernten sie sich von dem blauen Ding auf der Straße.

»David.«

»Was ist?«

»David!«

Er bremste so abrupt, dass sie beide auf ihren Sitzen nach vorne flogen. Der Wagen stellte sich quer zur Straße.

»Da liegt ein Mensch auf der Straße«, sagte Rose.

»Ja, schrecklich«, sagte David. »Komm, wir fahren besser.«

»Wir können ihn nicht da liegen lassen«, sagte Rose. »Oder?«

Sie sah ihn an. Sein Gesicht war noch immer gerötet, sein Atem ging schwer, aber die Hände lagen ruhig auf dem Lenkrad. Der Alkoholnebel war aus seinen Augen verschwunden. »Wieso nicht?«

Rose hatte keine Antwort darauf. Sie befragte sich immer und immer wieder, aber die Anfragen kamen unbeantwortet zurück. In den Datenbanken fand sich dazu keine Verhaltensregel.

»Genau deswegen fährt man nachts nicht mit dem Fahrrad auf einer dunklen Straße«, sagte David. »Herrgott, Rose. Sei einfach froh, dass nicht wir das sind, und lass uns von hier verschwinden.«

Erneut begann er den Wagen zu wenden. Rose rutschte auf ihrem Sitz hin und her und richtete den Blick weiter auf das Ding, den Menschen, der da draußen lag. In einer blauen Jacke. Sein (oder ihr) Fahrrad um die Leitplanke gewickelt wie ein Haufen glänzende Spaghetti.

Wie furchtbar, hier draußen alleine zu sterben. Besser, dass du hier drinnen im Auto bist. Besser, dass du du bist und nicht er.

Während sie wendeten, streiften die Scheinwerfer das in die Leitplanke verhedderte Fahrrad, und ihr Licht wurde von dem verbogenen Aluminiumgestänge zurückgeworfen.

Aber wenn nun David da draußen wäre?

Der Mensch auf der Straße bewegte sich. Als David beschleunigte, öffnete Rose die Tür und sprang. Sie landete hart auf ihren Handgelenken. Tausend Miniaturfrakturen schossen ihr wie Blitze in die Glieder, und sofort machten sich eine Million Mikrobots an die Reparatur.

Sie hörte David schreien, und die Reifen quietschen. Die Bremslichter leuchteten auf. In ihrem orangeroten Licht hockte sie sich neben den gestürzten Jungen mit dem wuscheligen Haar und der dicken Brille, der sich jetzt stöhnend langsam umdrehte.

Charlie schlug die Augen auf und glaubte den Morgen dämmern zu sehen. Es war, als ginge die Sonne auf. Dann war das seltsame Licht plötzlich verschwunden, die Nacht brach herein, und er fühlte sich, als sei er von einem Auto niedergewalzt worden.

»Ist bei dir alles in Ordnung?«

Das Mädchen hatte wallende rote Haare. Ah, ein Engel, dachte Charlie.

»Ich glaube schon.«

»Du bist nicht tot.« Ihr heißes Flüstern war dicht an seinem Ohr. Durch alle Schmerzen und Kälteschauer und den Schock hindurch beruhigte ihn ihr Atem an seinem Hals. Charlie untersuchte sich selbst auf gebrochene Knochen. Er wackelte mit den Zehen.

»Ich heiße Rose.«

»Charlie.«

»Hey, Kumpel, alles klar bei dir?«

Eine Gestalt stand ein paar Schritte entfernt. Das Gesicht war in der Dunkelheit nicht zu erkennen, aber die Stimme kam Charlie bekannt vor.

»Ich glaube schon.« Er hob den Kopf ein wenig an. »Wo ist mein Fahrrad?«

Das Vorderrad des alten Bikes bestand nur noch aus einem wirren Haufen Speichen. Charlie stand langsam auf. Er streckte eine Hand aus, um sicheren Halt zu finden, aber das Mädchen, Rose, wich zurück, als hätte sie Angst, ihn anzufassen.

»Können wir dich ins Krankenhaus bringen?«, fragte sie.

»Nein«, sagte Charlie. »Ich hab was gegen Krankenhäuser.«

»Sollen wir dich nach Hause fahren?«, wollte der Autofahrer wissen.

Charlie streckte sich, dass sein Rücken knackte. Eigentlich erwartete er eine Entschuldigung, aber das war bei diesem Mr Gute Manieren nicht wahrscheinlich. Das Mädchen dagegen, sein Schutzengel, war ganz schön zerknirscht. Sie verschränkte die Hände, als wollte sie beten, ihre Wangen waren zartrosa wie Erdbeersoße auf Softeis. Sie war sehr hübsch. Aber die Welt war voller hübscher Mädchen – Mädchen, die sich von Jungs in schnellen Autos nach Hause fahren ließen, nicht von Jungs mit kaputten Fahrrädern.

Charlie versuchte den Vorderreifen, der rettungslos in der Leitplanke festklemmte, freizubekommen. Das Vorderrad war hinüber, aber abgesehen von ein paar Schrammen war das Rad ansonsten unbeschädigt.

»Das ist noch ein Fahrrad von der guten alten Sorte, Kumpel«, sagte der Autofahrer.

Charlie knurrte. Er wollte weg hier, nach Hause in sein Bett, anstatt mit besoffenen reichen Kids zu reden.

»Na schön, bist du sicher, dass du nichts brauchst?«

»Mir geht’s gut. Danke.«

»Na dann, okay. Gute Nacht.«

Das Mädchen, Rose, zögerte einen Moment.

»Es tut mir so schrecklich leid.«

»Ist schon in Ordnung. Ich hätte nicht so spät mit dem Rad herumfahren sollen. Das war blöd.«

Er begann sein lädiertes Rad auf die Straße zu schieben, aber ein plötzliches Stechen in der Hüfte ließ ihn mit einem Knie einknicken. Rose packte seine Hand, um einen Sturz zu verhindern. Charlie spürte etwas – wie beim Ablecken der Kontakte einer alten Batterie oder beim Kauen auf Alufolie, ein winziges Kribbeln, das seinen Arm hinauf und ins Herz schoss. Dann sah er wieder vollständig klar. Sie zog rasch die Hand weg, als sei sie selbst erschrocken. Sie starrten sich an, Charlies Hand pochte warm und angenehm.

»Ich …«, setzte Charlie an, aber bevor er weiterreden konnte, war sie weg, sie rannte zu dem Wagen zurück und stieg ein. Erst jetzt erkannte er David Suns Cadillac.

Sie rasten davon und hüllten Charlie in rotes Licht, das nun nicht mehr an die Morgendämmerung erinnerte, sondern nur an die Bremsleuchten eines Arschlochs.

Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012