2. Das Date

Was Charlie an Frauen attraktiv fand, waren Grips und Persönlichkeit – Schönheit optional, Beliebtheit ein absolutes Nein. Nach nochmaliger Überlegung beschloss er, notfalls auch jemand Beliebten ertragen zu können. Seine Auswahlmöglichkeiten waren beschränkt. Saint Seb war von seiner Schwesterschule durch einen kleinen Abgrund getrennt, eine Grenze, die Saint Marys Mädchen selten überschritten, außer wenn sie zur Leichtathletikbahn hinter der alten Sporthalle wollten – und Leichtathletinnen waren groß, humorfrei und dem Vernehmen nach blasiert.

Charlie entschied sich für ein Mädchen aus der Theatergruppe. Zweimal im Jahr brachten die beiden Schulen gemeinsam ein Stück auf die Bühne, und Anfang September blieben die Mitwirkenden bis spätabends zum Proben in Saint Sebs Aula. Rebecca Lampwick war Mrs Higgins in der diesjährigen Inszenierung von My Fair Lady. Sie hatte große Titten, die sie als »die Zwillinge« bezeichnete, und ein Lachen, das hoch begann und lawinenartig in ihre tieferen Stimmlagen hinabstürzte. Charlie hatte sie erstmals im vorigen Jahr gesehen, als er nach dem Basketballtraining auf dem Weg zum Cola-Automaten die Aula durchquert hatte. Damals hatte sie die Mrs Lovett in Sweeney Todd gespielt, und ihr sattes Lachen und die schwarzen Augen schienen ihn von der Bühne aus zu verfolgen.

Nach zweitägigen Erkundungen unternahm er den ersten Schritt. Die Probe begann um vier, und von Viertel nach drei bis halb vier hingen die Mitwirkenden auf Klappstühlen vor der Bühne herum. Charlie betrat den Raum durch den Notausgang und durchquerte ihn bis zum hinteren Ende. Sie waren laut und unbekümmert und beachteten ihn nicht, bis er auf ihren lose gebildeten Kreis zusteuerte. Die Unterhaltung brach ab. Charlie stand da wie ein Mammutbaum im Unterholz. Er räusperte sich. Rebecca, die in spaßhafter Bariton-Stimmlage etwas zu Eliza Doolittle gesagt hatte, drehte sich zu dem Neuankömmling um und lächelte.

»Alles roger in Kambodscha?« (Dies in ihrer normalen hellen Stimmlage.)

»Hi.« Drei intensiv überarbeitete Lernkarten waren zu Charlies Beruhigung in seiner Tasche verstaut. Er konzentrierte sich und trug seinen Text vor. »Ich wollte nur mal fragen …, ob du womöglich Lust hast …, mit mir am Freitagabend … chinesisch essen zu gehen.«

»Jambischer Tetrameter?«, fragte Colonel Pickering. Professor Higgins kicherte.

An diesem Tag trug Rebecca ein wallendes Piratenhemd und Zigeunerinnenohrringe, eine Aufmachung, die Charlie albern fand. Aber aus der Nähe war sie sehr hübsch, und ihre Haut war so weiß und makellos wie eine Schneewehe. Die anderen warteten stumm ab. Sie waren eine inzestuöse Gruppe, misstrauisch gegenüber Außenstehenden, vor allem solchen wie Charlie, der seinem Status als Spinner zum Trotz in bestimmten Kreisen als Aufschneider galt. Charlie schluckte und studierte die Kratzer auf dem Fußboden. Er schaute erst wieder auf, als Rebecca etwas sagte.

Es gab vieles, was Charlie nicht über Rebecca wusste. Ihr zur Schau getragenes Selbstbewusstsein war gespielt. Sie fühlte sich fett und abstoßend, weil Jungs ihres Alters grundsätzlich nicht mit ihr redeten. Nur erwachsene Männer schienen sie zu mögen. Sie grölten ihr vom Auto aus hinterher, was dazu führte, dass sie sich wie eine Missgeburt fühlte. Im vergangenen Jahr hatte ihr der Geschichtslehrer an den Busen gegrapscht, während er sie von einer Modell-UN-Konferenz nach Hause fuhr, ein Geheimnis, das sich wie eine Schlinge um ihren Hals zusammenzog, sobald sie daran dachte.

Als Charlie seine Einladung stammelte, schien sich diese Schlinge so weit zu lockern, dass Rebecca sich herauswinden konnte. Ein normales Date mit einem Jungen ihres Alters kam ihr vor wie eine Begnadigung in letzter Minute.

»Yep. Ja. Fände ich echt gut. Danke.«

Die nächste Woche zog sich endlos hin. Als es am Freitag zum Schulschluss klingelte, war Charlie als Erster von seinem Platz verschwunden. Seine Vorbereitungen waren auf die Minute genau geplant und ließen keine Zeit zum Trödeln. Da er weder Auto noch Führerschein besaß, bestellte er ein Taxi für halb sieben. Ihre Reservierung war für sieben Uhr. Das ließ ihm kurze dreieinhalb Stunden, seine Verwandlung vollkommen zu machen.

Das Date erforderte, was Charlies Äußeres anging, eine private Generalüberholung. Charlie gedachte sein achtloses schulisches Erscheinungsbild abzustreifen und den schöneren, cooleren Typ zum Vorschein zu bringen, der, wie er wusste, darunter verborgen lag. »Zeig dich ihr von deiner besten Seite«, sagte das Männermagazin, das er erworben hatte. Für Rebecca würde er den Charlie enthüllen, den keiner kannte, den Charlie, den er aufgespart hatte.

Er stellte sich vor, er sei eine Larve, die sich im sanften Kokon der Duschkabine entpuppte. Er schrubbte seine Haut bis aufs Blut und widmete dem Bereich im Schritt (durchaus optimistisch) besondere Aufmerksamkeit. Er rieb sich mit nach Holz duftendem Eau de Cologne und fruchtiger Feuchtigkeitscreme ein. Da er sich selten rasierte, glich der Vorgang dem Abkratzen von Farbe. Sein neuer Rasierapparat unternahm mehrere Annäherungsversuche, bis alle rot gesprenkelten Strecken geräumt waren. Er hatte Jeans ausgewählt, ein weißes T-Shirt und die Wildlederjacke seines Vaters mit den Fransen am Revers – nicht, weil sie cool war, sondern gerade im Gegenteil. Sie war rebellenhaft, anders, und sie hatte einen ironisch-intellektuellen Charme – genau wie er selbst.

Um 18:27 tauchte Charlie auf, ein lederumhüllter, wuscheliger Falter, der (dank der Kombination von Eau de Cologne und Feuchtigkeitscreme) nach gebratenen Bananen roch.

Das Taxi hatte zwanzig Minuten Verspätung, und Charlie musste die Adresse dreimal wiederholen. Um 19:03 fuhren sie auf einen Parkplatz gegenüber von Denny’s.

Rebecca lebte in einem tristen Wohnblock an der Cay Street, gleich neben dem Highway. Als Charlie durch die Tür trat, entdeckte er sie in der hellen Eingangshalle, wo sie saß und eine Zeitschrift las. Sie trug ein tief dekolletiertes, aquamarinfarbenes Cocktailkleid aus einem festen, glänzenden, schuppenartigen Material – ein knalliges, ausdrucksstarkes Outfit, dessen Anblick Charlie etwas entspannte. Er rief ihren Namen, aber sie schaute nicht hoch. Er rief ihn noch einmal, dachte, er hätte eigentlich Blumen mitbringen sollen, und lief gegen die unsichtbare Glastrennwand, die die Eingangshalle in zwei Hälften teilte. Die Trennwand schepperte wie ein Gong, und Rebecca blickte auf, nur um zu sehen, wie Charlie sich die Nase hielt und unhörbare Flüche ausstieß. Sie rannte zur Tür am anderen Ende, und als diese sich öffnete, hörte Charlie ein Radio brummen.

»Oh Himmel, das tut mir ja so leid. Hast du dir wehgetan? Sie haben die Glaswand letztes Jahr eingebaut, wegen Einbrüchen. Du weißt schon, zur Sicherheit. Lass mich mal deine Nase anschauen.«

»Alles in Ordnung«, sagte Charlie, während sich seine Ohren feuerrot färbten. »Ehrlich.«

»Die sollten ein Schild aufstellen.« Rebecca lächelte. »Du siehst echt gut aus.«

»Du auch. Sollen wir in deine Wohnung raufgehen? Soll ich mich deinen Eltern jetzt vorstellen oder …?«

Rebecca lachte leise, das Lachen einer Schickeria-Lady. »Oh, jetzt ist gerade keine gute Zeit. Da oben herrscht das reinste Chaos, und mein Vater hatte einen langen Arbeitstag, deswegen …«

»Ach so. Okay.«

»Ist das unsere Karosse?«

»Genau. Ich hab noch keinen Führerschein, deshalb …«

»Nein, nein. Das ist genau richtig so.«

Sie lächelte wieder, und ein warmes Gefühl durchströmte Charlie, auch wenn genau in diesem Moment seine Nase zu pochen begann.

Das Abendessen fand im Pfingstrosenpavillon statt, einem pan-asiatischen Restaurant mit Tanz ab neun Uhr. Das Essen war preiswert und die Ausweiskontrollen lax, deshalb war es ein beliebter Ort für Dates.

Als sie ankamen, standen ein paar Mädchen von der öffentlichen Schule draußen im steinernen Pavillon und rauchten. Bei ihrem Anblick fiel Charlie sein Männermagazin Nice! ein und dessen »Zehn todsichere Dating-Tipps von echten Frauen«. Er erinnerte sich nur an einen, beigesteuert von Melinda, 21, aus Brooklyn: »Wenn wir das Lokal verlassen, finde ich es immer toll, wenn er mir seine Hand hinten auf die Taille legt. Es ist sexy und beruhigend. Ich hab dann irgendwie das Gefühl, dass er von mir Besitz ergreift – aber auf eine gute Art!«

Das war Charlies Ass im Ärmel, und der Gedanke daran ließ ihn ein wenig schneller auf das goldene Eingangstor zugehen.

Eine Bedienung in blütenbedrucktem Gewand führte die beiden zu einem Glastisch ziemlich weit hinten im Raum. Pavillon und Mehrwertsteuer inbegriffen waren die einzigen Worte in lesbarer Schrift auf der Speisekarte.

»Hier muss man wohl nach Nummern bestellen, was?«, sagte Rebecca. »Na, bei meinem Glück werde ich gekochte Ziegenfüße erwischen.«

»Die haben sie nicht auf der Karte, glaube ich.«

»Gut.«

»Magst du Yude Tamago?«

»Was ist denn das?«

»Gekochte Eier.«

Rebecca kicherte. »Ach, Charlie, ich find das gut, wie du redest.«

Charlie trank einen kleinen Schluck von seinem Wasser. Er war sich nicht sicher, ob sie über ihn lachte oder nicht. Was war komisch an …? Oh.

»Also, dann gefällt dir bestimmt die Nummer vier«, sagte er. Nummer vier war Chicken Dong.

»Hm?«

»Nummer vier. Auf der Speisekarte.«

»Ach so! Warum?«

»Äh, weil.« Charlie hustete in seine vorgehaltene Hand. »Weil das Chicken Dong ist.«

»Dong?«

»Das müsste gut zu Eiern passen.«

Rebecca blinzelte. »Oh. Okay, jetzt hab ich’s gerafft. Ha, ha.« Sie sprach es wie zwei Worte aus. Ha. Ha.

Charlie versteckte sich hinter der Speisekarte. Zu dem Zeitpunkt, als die Bedienung die Eier brachte, war er kurz davor zu gehen. Rebecca erzählte von ihren Interessen, Theater und romantische Literatur. »Ich meine damit die Literatur aus der Romantik«, sagte sie. Sie mochte Shaw lieber als Beckett, Lerner und Loewe lieber als Rodgers und Hammerstein, und sie hatte keine Zeit für Stanislavski. Sie spuckte diese Namen ganz selbstverständlich aus, aber für Charlie waren sie so fremd wie die verschnörkelten Zeichen auf der Speisekarte. Kauderwelsch.

Als die Reihe an ihm war, erzählte er ihr von der Epigaea repens, die er letzte Woche gesichtet hatte, eine Seltenheit zu dieser Jahreszeit.

»Ist das ein Vogel?«

»Eine Blume.«

Sie kannte keinen einzigen der Wissenschaftler, die er erwähnte – dermaßen unbekannt waren sie nicht –, und bezeichnete die Blumengebinde auf dem Ärmel der Kellnerin als »Lavendel«.

Sie sprachen dieselbe Sprache, aber was sie sagten, war wie Chinesisch und Morsezeichen. Ihre Körpersprache war nicht besser. Rebecca sandte Signale aus, die Charlie nicht verstand. Als sie sich über den Tisch lehnte und mit den Fransen an seiner Jacke spielte, wollte sie sagen: »Charlie, hab ich nicht großartige Brüste?« Charlie dagegen hörte: »Deine Klamotten sind spannend; erzähl mir mehr darüber!« Als sie die Schultern im Takt zur Musik bewegte, meinte sie: »Ich liebe diesen Song. Fordere mich zum Tanzen auf!« Charlie dagegen dachte, sie meinte: »Mir ist so langweilig, ich werde zappelig.« Und am Ende des Abends, als sie seine Hand drückte und im Licht der elektrischen Kerze traurig lächelte, um zum Ausdruck zu bringen: »Es tut mir leid, dass wir uns nicht so toll verstanden haben«, da hörte Charlie: »Jetzt wäre ein guter Moment, mich quer über den Tisch zu küssen.«

Charlie schlug also zu. Rebecca, die überhaupt nicht mit einem Kuss rechnete und ganz bestimmt nicht, bevor die Rechnung kam, wandte den Kopf zur Seite auf der Suche nach der Bedienung und drehte ihn genau in dem Moment zurück, als Charlies Gesicht einen schlecht gezielten Vorstoß in ihre Richtung unternahm. Sie zuckte mit einem kleinen Aufschrei zurück, was Charlie noch weiter vom Kurs abbrachte. Er versuchte das Unternehmen abzubrechen, landete aber mit dem Ellbogen in der Sojasoße. Schließlich küsste er sie tatsächlich – ein hingeschlabberter Kuss aufs Kinn –, bevor er ihr fast in den Schoß fiel, der sich mitsamt dem Rest von ihr gut und gern zwanzig Zentimeter vom Tisch entfernt hatte. Für den Betrachter sah es aus, als sei ein Cowboy mit Afrofrisur über den Tisch hinweg auf seine unwillige Dame zugesprungen, während sich Charlie in Wirklichkeit elegant vorgebeugt hatte (lediglich im falschen Moment) und seine Dame nicht unwillig war (lediglich äußerst überrascht). Charlie landete vor ihren Füßen, und drei qualvolle Herzschläge lang starrten sich die beiden in stummem Entsetzen an, bis der gesamte Raum in Beifall ausbrach.

Charlie setzte sich wieder auf seinen Stuhl, und sie warteten, ohne sich noch einmal anzuschauen, bis die Rechnung endlich bezahlt war. Als sie das Lokal verließen, wobei sie im Vorübergehen mehrfaches Zuprosten von den Tischen aus ignorierten, überlegte sich Charlie, dass er wenigstens noch den Hand-auf-die-Taille-Trick hatte. Als er aber seine Hand anbringen wollte, war die große Schleife hinten an Rebeccas Kleid im Weg, und da er seine Handfläche ja nicht auf ihren Hintern legen konnte, drückte er sie stattdessen mitten auf ihren Rücken zwischen die Schulterblätter.

Für Rebecca, die dazu neigte, sich für jedermanns Elend verantwortlich zu fühlen, war es, als würde ihr Date sie gewaltsam zur Tür hinausbefördern. Sie hatte das Gefühl, Charlie gedemütigt zu haben. Der bestürzte, gekränkte Ausdruck in seinen Augen, als sie ihren Aufschrei losließ – wahrhaftig, einen Aufschrei! –, zerfraß sie innerlich. Noch dazu hatte sie dafür gesorgt, dass er sich während des Essens gelangweilt hatte und unwohl fühlte. Jetzt hielt sie sein versteinertes Schweigen für Verärgerung, und sobald sie den Pavillon erreichten, ließ sie sich auf eine der Betonbänke fallen und fing an zu schluchzen. Charlie wollte ihr Raum lassen und wandte sich ab, und er missdeutete Rebeccas hervorsprudelnde Erklärungen als unartikuliertes, aber empörtes Geflenne.

Sie blieben allein, bis das Taxi kam. Charlie öffnete Rebecca die Tür. Im Taxiradio lief Johnny Cash, und sobald sie vor Rebeccas Wohnblock vorfuhren, murmelte sie ein heiseres »Danke« und verschwand. Ihre Rockschöße wedelten hinter ihr her wie ein Fischschwanz.

Während die Scheinwerfer des Taxis über das ruhige Gelände schwenkten, tauchte Rebecca an ihrem Zimmerfenster auf. Sie ließ das Glas milchig anlaufen, indem sie es anhauchte, und schrieb mit der Fingerspitze etwas, das wie die sieben Ziffern einer Telefonnummer aussah. Das Gebäude rückte in die Ferne, und Charlie versuchte die Zahlen zu erkennen, wobei er sich wunderte, weshalb Rebecca sie geschrieben hatte (er hatte ihre Nummer bereits). Nur die mittleren drei waren leserlich, 0-1-1, gefolgt von einer möglicherweise umgedrehten Fünf. Als das Taxi in die Cay Street einbog, strengte sich Charlies Hirn ein letztes Mal an, bevor er aufgab und die Augen vor den geisterhaften Bäumen und dem ganzen grauenhaften Abend verschloss.

Rebecca kroch unter ihre Daunendecke und starrte durch das Fenster auf den Mond. Ihr Handy, das sie auf dem Nachttisch abgelegt hatte, fiepte unentwegt. Sie brachte es zum Schweigen – sie würde ihre Nachrichten morgen abrufen.

Ihr brummte der Schädel vom Weinen, und da ihre Brust sich eingeschnürt und eng anfühlte, konnte sie sich nur schlecht entspannen. Während der Schlaf sich in ihren Gedanken einnistete, wanderten diese noch einmal zum Abend zurück, und ihr dämmerte, dass so sorry, spiegelbildlich gelesen vom Rücksitz eines davonfahrenden Taxis aus fünfzig Metern Entfernung eventuell keinen Sinn ergab.

Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012