10. Die andere Seite

Der Raum war leer. Rose war allein in dem Raum. Rose war allein.

David war gerade gegangen. Sie war nackt, ihr Mund stand offen, ihr Atem ging in flachen, zittrigen Stößen. Der Pfeil in ihrem Kopf, unbeugsam, richtete sich dorthin, wo David gestanden hatte und jetzt ein gelber Lichtstreifen unter der Tür hindurchschien. Sie wusste nicht, wie lange sie auf die Stelle gestarrt hatte, bis ihre Hände sich bewegten. Die Hände sammelten ihr Kleid auf und hüllten sie in die schwarze Seide. Sie stürmte auf den Gang hinaus, stolperte über ein knutschendes Pärchen und rannte zum Fenster, gegen dessen Glasscheibe sie sich warf. Davids Nightbird war im Wegfahren begriffen, er steuerte auf die Zufahrt und dann in die Nacht.

»Die ist betrunken«, sagte der Junge.

»Dean, sei ein bisschen netter.«

Rose stürzte an ihnen vorbei und nach unten ins Gewühl. Sie begann verschwommen zu sehen, zunehmend rot. Falsch, teilte ihr Hirn ihr mit. Sie drängte sich durch die Menge. Manche glotzten. Verboten. Jetzt war sie draußen und stolperte in den Matsch.

»Langsam, langsam, alles in Ordnung?«, fragte jemand.

Geh zurück. Die Stimme verfolgte sie die Zufahrt zum Haus hinunter, hämmerte gegen ihre Schläfen, verwandelte die Welt – die Welt ohne David – in ein glühendes Inferno. Keine winzigen Lichtkreise mehr. Der Himmel war rot, die Nacht brannte.

Die Scheinwerfer eines Autos blendeten sie. Eine Hupe dröhnte. Sie stolperte in den Wald und wischte sich die Augen. Sie wusste nicht weiter. Ihr Richtungspfeil drehte sich um sich selbst und suchte ihren Freund, konnte ihn aber nicht finden. Und jeder Moment fern von ihm war falsch.

Sie hatte das Gefühl, ihr Kopf müsse explodieren. Ihr Gehirn kämpfte mit dem unmöglichen Wirrwarr. Sie war für David gemacht; sie war nicht für David gemacht. Sie musste zu ihm zurückkehren. Sie musste ihm Vergnügen bereiten. Ihr Zusammensein bereitete ihm Missvergnügen. Sie war unmöglich; das Leben war unmöglich.

Sie wusste nicht, wie lange sie umherlief. Der Morgen dämmerte mit entsetzlich grellem Sonnenlicht. Wie hatte sie das jemals schön finden können? Sie sehnte dunkle Wolken herbei. Und dies war der Zeitpunkt, an dem sie aus dem Gebüsch trat, das stille schwarze Wasser sah und eine Entscheidung traf, ihre erste eigene Entscheidung: zu springen.

»Dad! Dad!«

Charlie brachte sie in Thaddeus’ Labor. Sein Vater war nirgendwo zu sehen. Er legte sie behutsam auf die Couch. Im Wandschrank waren Decken. Er wickelte sie hinein, ließ das Wasser den muffigen Stoff durchtränken. Er warf einen Blick auf den Temperaturregler. Tot. Sie hatten immer noch keinen Strom.

Was sie brauchte, war Wärme, heißes Wasser. Die Bunsenbrenner wurden mit Gas befeuert, aber solange es keinen Strom gab, fehlte ihm ein Zündfunke.

»Bleib hier liegen.«

Ihr Blick war leer, die Haut hatte die Farbe frischen Zeitungspapiers. Bitte, lieber Gott, bitte lass sie nicht sterben.

In einer Küchenschublade fand sich eine Schachtel Streichhölzer. Der Brenner ging beim ersten Versuch an, die Flamme tanzte über dem Metallrohr. Er schnappte sich ein Glasgefäß vom Regal und füllte es mit Leitungswasser. Nicht groß genug, um ihre Füße hineinzustecken, aber er konnte es unter die Decken stecken, um sie aufzuwärmen. Ihr Atem klang rau, das konnte eine Lungenentzündung bedeuten. Aber zumindest atmete sie überhaupt.

Charlie setzte sich auf den Boden, sein Gesicht nur ein paar Zentimeter von ihrem entfernt.

»Wie heißt du?«

Keine Antwort.

»Warum warst du da oben?«

Nichts.

»Verstehst du mich?«

In dem glockenförmigen Glas stiegen Blasen auf. Charlie wickelte das heiße Glas in ein Handtuch, damit sie sich nicht daran verbrannte, und schob es ihr an die Fußsohlen.

»Sag mir, wenn das zu heiß ist. Aber wir müssen dich warm halten. Ich will nicht, dass du mir erfrierst.« Die Wörter sprudelten hoch und aus ihm heraus wie Blasen in kochendem Wasser. »So haben sie es im neunzehnten Jahrhundert gemacht, weißt du, nur dass sie damals Kohlen in einem erhitzten Becken benutzt haben. Bist du schon mal im Old Sturbridge Village gewesen? Das ist eines von diesen nachgebauten historischen Dörfern. Da hab ich das gelernt.«

Eine Hand fiel unter den Decken hervor. An den Fingernägeln, auf schrumpeligen, eiskalten Fingerspitzen, klebten Reste von Nagellack. Charlie hörte auf zu brabbeln. Zähe Gallenflüssigkeit füllte seine Kehle. Wenigstens hatte sie aufgehört zu zittern.

Eine verfilzte Strähne mit kräftig rotem Haar klebte an ihrem Hals. Sie war wunderschön. Und irgendwie vertraut.

»Sind … sind wir uns schon mal begegnet?«

»Blau«, sagte sie so leise, dass ihre Stimme kaum hörbar war.

»Was hast du gerade gesagt?«

»Blau«, sagte sie wieder und starrte weiter zur Zimmerdecke hoch. »Jacke blau.«

Charlie schaute an sich hinunter. Er trug seinen alten blauen Parka.

»Ja.«

»Auf der Straße.«

» … ja«, sagte Charlie.

»Und ich hab dich gesehen … wie du dalagst.«

»Wie ich wo lag?«

Ihre Worte klangen träumerisch und langsam, wie die eines Schlafwandlers. Vielleicht schlief sie tatsächlich. Oder war in Trance.

»Auf der Straße«, sagte sie. »Mein zweiter Tag.« Ihre Augen begegneten seinen, blitzten grün auf. »Charlie.«

Und dann fiel es ihm ein. Das Auto, das ihn von der Straße gedrängt hatte. Das Mädchen, das gekommen war, um zu sehen, ob bei ihm alles in Ordnung war. Ihre roten Haare.

»Rose.«

Ein Lächeln, kaum sichtbar, kitzelte ihre Mundwinkel.

»Ja, das bin ich.«

Und so trafen sie aufeinander. Erneut.

Charlie streifte sich ein Sweatshirt über den nassen Oberkörper. Die trockenen Kleider fühlten sich gut an. Seine Haut war spröde und gerötet, als hätte die Kälte sie verbrannt. In der Dusche trommelte Wasser. Charlie zog dicke Socken an und versuchte sich nicht näher auszumalen, wie das schöne Mädchen – nach der wechselnden Tonhöhe der fallenden Tropfen zu schließen – sich nackt bewegte.

Ihr Kleid lag zusammengeknüllt auf dem Badezimmerboden und erinnerte ihn an den ledrigen schwarzen Seetang, der steinige Strände säumte. Sie hatte keine Schuhe angehabt, und ihre Füße und Knie waren schmutzverkrustet gewesen, als wäre sie tagelang durch den Wald gestreift. Eine Halbverrückte, die von einer Galaveranstaltung geflohen war.

Mit der Taschenlampe zwischen den Zähnen schob sich Charlie unter den Generator mit den Spinnweben und alten Hornissennestern. Er drückte die alten Transistoren, deren Glasgehäuse braun und fleckig war, heraus und ersetzte sie. Er kroch wieder unter dem Generator hervor und betätigte den flachen Schalter an der Rückseite. Ein Geräusch entstand, als fiele etwas Schweres in dem Metallkasten nach unten, der Ventilator begann sich stotternd zu drehen. Ein paar Schnaufer wie in einem Comicstrip, und der Generator lief wieder. Die Lichter im Haus gingen an, und er hörte, wie der Heizkessel im Keller ansprang.

Charlie reckte die Fäuste in die Luft wie ein Profiboxer.

***

Rose saß im Wohnzimmer, in ein Handtuch gehüllt.

»Oh«, sagte Charlie und wandte die Augen ab. Sie war verflixt kurvenreich, und das Handtuch verdeckte nur wenig. »Entschuldigung.«

Sie hatte Thaddeus’ alte Sony-Kopfhörer aufgesetzt, das dicke Kabel ringelte sich hinüber zur Stereoanlage.

»Die sind ja wunderbar!«, rief sie. »Man hört nichts außer der Musik

Charlie regelte die Lautstärke herunter. »Ja. Die sind voll retro.«

Sie nahm die Kopfhörer ab und fuhr mit dem Finger an den Buchrücken entlang.

»Und was ist das?«

»Die gehören meinem Vater«, sagte Charlie. »Na ja, einige davon sind Fachbücher meines Vaters. Er liebt sie, mir sind sie allerdings ein bisschen zu trocken.«

Die Dusche hatte sie vollständig wiederbelebt. Ihre Wangen waren rosig. Sie war von oben bis unten rosig. Ihre Augen glänzten, auch wenn der Blick noch etwas unkonzentriert war. Sie klopfte mit dem nackten Fuß auf den Teppich.

Sie nahm ein Buch und klappte es nach oben auf, als wäre es ein Laptop. Ihre Augenbrauen hoben sich verwundert. Sie drehte den Buchrücken so, dass der Text lesbar war, und tippte mit der Fingerspitze auf die Seite. Sie runzelte irritiert die Stirn und tippte erneut.

»Was ist los mit dem Ding?«

»Wie meinst du das?«

»Die Links funktionieren nicht.«

»Da gibt’s doch keine Links. Das ist ein Buch.«

Sie ließ es auf den Boden fallen.

»Und was ist das?«

»Eine Kaffeemühle.«

»Und das da?«

»Ein Lehnsessel.«

»Und das?«

»Ein Tischbackofen. Habt ihr so was nicht bei euch zu Hause?«

»Nein, bei uns war das anders. Bei uns …« Die Worte blieben an ihren Lippen hängen. Ihr Fuß hörte auf zu wippen. Sie taumelte einen kurzen Moment und fiel dann auf die Knie.

Charlie ging neben ihr in die Hocke. »Rose! Ist alles in Ordnung?«

»Bei uns«, sagte sie und blinzelte.

»Bei wem?«

Die Schleier vor ihren Augen verschwanden, sie verzogen sich so schnell wie ein Sommerregen. Sie packte Charlie bei seinem Sweatshirt, ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Hast du mal ein Bier?«

»Wie bitte?«

»Oder Zigaretten? Die würde ich gern probieren.«

»Äh, nein«, sagte er. »Tut mir leid.«

»Verdammt.« Sie biss sich auf die Lippen. »Verdammt. Scheiße. Fuck. Fluchen finde ich super

Charlie schaute ihr prüfend in die Augen. Wenn sie eine Gehirnerschütterung hatte, musste eine Pupille größer sein als die andere. »Ist alles in Ordnung?«

Sie starrte ins Ungefähre, ohne ihn zu sehen. »Ich kann tun, was ich will! Meine Verbindung wurde getrennt.« Sie klopfte gegen ihre Schläfe. »Und ich habe eine Funktionsstörung. Wahrscheinlich fahre ich in Kürze automatisch herunter.«

»Rose, du musst ins Krankenhaus.« Charlie stand auf. »Du hast eine Gehirnerschütterung.«

»Das will ich nicht«, sagte sie. Ihr Blick wanderte suchend umher. »Ich will nur das tun, was ich will.«

»Ähhh …« Charlie versuchte sich zum Telefon zurückzuziehen. »Bleib einfach, wo du bist. Ich rufe einen Krankenwagen.«

Rose stand zielstrebig auf. Sie fasste Charlie mit einer raschen Bewegung am Gürtel.

»Hast du das schon mal gemacht?«

»W-was?«

Sie küsste ihn.

Im Laufe eines Lebens sind manche Küsse sicherlich besser als andere, und für jeden von uns ist wohl die Wahrscheinlichkeit gering, dass der erste Kuss der beste ist. Doch wenige Menschen hatten einen besseren ersten Kuss als Charlie Nuvola.

Er versank in ihren Lippen wie in einem Meer aus Seide. Der Duft ihrer Haut, die Wärme ihres Atems, die feuchten Haarsträhnen, die seine Stirn kitzelten. Er spürte ihre Brüste unter dem Handtuch, die Wölbung ihrer Hüften, den weichen, warmen Druck ihres Beins zwischen seinen Knien. Charlie verging und löste sich in ihr auf. Sie waren ein Dahinfließen aus Haaren und Atem und Haut und Frottee. Er ließ sich treiben und tauchte ein und nahm neu Gestalt an mit jeder Bewegung ihrer Zunge, und just als sein Körper die Wandlung von Wasser zu Feuer zu Blitz zu Geräusch vollendete, zog sie sich zurück.

Seine Lippen weigerten sich, Worte zu bilden. Sie hatten eine neue Bestimmung entdeckt.

»Keine Funken«, sagte Rose.

Charlie schüttelte den Kopf, mit einem Ausdruck der Entschuldigung in den Augen.

Sie lächelte. »Nein, nein. Das ist gut.«

Mit geöffneten Lippen küsste sie ihn erneut. Sie spürte, wie ihn unter ihrer Berührung ein Schauer überlief. Sie ließ sich Zeit, genoss es, zu experimentieren. Ihre Lippen hingen noch an seinen, als sie sich mit genussvoll geschlossenen Augen wieder zurückzog. Sie schlang die Arme um sich selbst, verloren in ihrem eigenen Genuss.

Charlie zitterte. Er war wie betäubt. »Ich … ich glaube, ich muss mich setzen.« Er lehnte sich gegen das Bücherregal, und seine Gedanken formten Klumpen wie Teig in einer Schüssel. »Ich dachte … du … also, ich dachte, du und David, ihr wärt …«

Das Lächeln verschwand von ihren Lippen.

»David?«

Ihre Augen verengten sich, als schaute sie in grelles Licht. Sie ließ sich auf die Couch fallen und begann zu schluchzen. Charlie starrte sie sprachlos an.

So fand sie Thaddeus, als er nach Hause kam.

Rose kauerte auf Charlies Bett. Er hatte ihr ein Sweatshirt und ein Paar alte Jeans zum Anziehen gegeben. Der Schlag der Hosenbeine schlackerte um ihre Füße. Trotz der heißen Dusche prickelte ihre Haut noch immer vor Kälte, Hals und Schultern taten ihr weh. Doch alles, was Rose wahrnahm, war die Stille. Keine Stimme in ihrem Kopf.

Der Sprung ins Wasser hatte, wie ihr schon vorher klar gewesen war, ihre Verbindung zu Sakora gekappt. Die Unterbrechung hatte sie physiologisch völlig aus der Bahn geworfen. Ihr emotionales Zentrum war destabilisiert. Einen Moment fröhlich, den nächsten verzweifelt, auf der Suche nach Freiheit, dann am Boden zerstört durch den Verlust. Sie war allein, isoliert, ohne die geringste Vorstellung, was sie tun sollte, was die Dinge um sie herum bedeuteten, ja, wer sie selbst war. Ihr Körper sehnte sich heftig nach Berührung und fühlte sich doch zurückgewiesen. Ihr war heiß und kalt, sie war erschöpft und doch ruhelos.

Mit anderen Worten, sie war todunglücklich.

Sie schaute sich um und sah Dinge, die sie nicht kannte. Bilder von merkwürdigen Orten, das Skelettmodell eines unidentifizierbaren Wesens. Wenn sie aber ihre Fragen abschickte, kamen keine Antworten zurück. Niemand sagte ihr, sie solle sich nach dem Duschen anziehen. Niemand sagte, sie solle sich nicht auf das Bett eines merkwürdigen Jungen setzen. Rose war frei. Aber statt Erleichterung empfand sie Einsamkeit. Bis heute war sie mit irgendetwas verbunden gewesen, und diese Verbindung war, im Guten wie im Schlechten, alles, was sie kannte. Jetzt war sie auf sich allein gestellt.

Ihre Gefühle waren wie … Wasser, kurz vor dem Siedepunkt.

»Ich denke, mein Vater ist wieder einigermaßen entspannt«, sagte Charlie, als er ins Zimmer trat. »Das hat ein paar Erklärungen erfordert.«

»Was hast du ihm gesagt?«

»Dass du eine Freundin bist, die eine üble Trennung hinter sich hat.« Charlie stand an seinem Schreibtisch und traute sich nicht näher heran. »Das stimmt doch, oder? David und du, ihr habt Schluss gemacht?«

Sie nickte.

»Dann ist das der Grund, weshalb du …?«

»Weshalb ich was?«

Charlie räusperte sich. »Weshalb du versucht hast, dich umzubringen?«

»Ich habe nicht versucht, mich umzubringen.« Die Augen taten ihr weh, so als versuchte sie etwas angestrengt zu erkennen. Sie war dankbar für das stille dunkle Zimmer und für den stillen dunklen Charlie. Er war so anders als David. »Aber ich weiß nicht, was ich ohne ihn machen soll.«

»Na, ich denke, in den See zu springen ist jedenfalls nicht die Antwort darauf.«

»Ich weiß keine bessere.«

»Was ist passiert?«

»Er hat mich verlassen.«

Charlie scharrte mit den Zehen auf dem Teppich und hinterließ dabei eine Spur. »Das ist das Schlimmste, was jemand tun kann.«

Rose blickte auf. »Ja? Das hatte ich mir irgendwie schon gedacht.«

»Vielleicht kannst du jemand anderen finden?«

Rose schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht … manche Mädchen können vielleicht so einfach wechseln. Aber ich nicht. Ich bin nicht wie sie. Ich bin nicht normal.«

Sie schwiegen einen Moment. Es regnete, und die Bäume zitterten stumm vor dem Fenster.

Charlie sagte: »Hör zu, ich hab mir von jemandem sagen lassen, ich wäre … nicht normal. Ich weiß, wie sich das anfühlt. Es fühlt sich an, als würde vor einem eine Tür zugeschlagen.«

Sie nickte. »Ja, so fühlt es sich an.«

»Und du fühlst dich völlig allein. Von allem abgeschnitten.«

Rose beugte sich vor, ihre Haare verhüllten ihr Gesicht. »Ja. Abgeschnitten.«

Sie guckte ihn so eindringlich an, dass Charlie den Blick abwenden musste.

»Es tut mir leid, dass ich dich geküsst habe. Ich war durcheinander.«

»Völlig in Ordnung«, sagte er allzu schnell. »Das hab ich bemerkt.«

»Es ist eine Funktionsstörung.«

Charlie sog die Luft durch die Zähne ein. »Das hast du schon mal gesagt. Du weißt, dass das nicht stimmt, oder? Ich glaube ernstlich, dass du wahrscheinlich einen Arzt brauchst.«

Rose errötete. »Ich brauche keinen Arzt. Ich bin … eine Gefährtin

Das Wort prallte in seinem Gehirn auf eine alte Definition, die nicht passte. Sie hatte nicht treue Partnerin gemeint.

»Du … du machst Witze.«

Sie schüttelte den Kopf.

Charlie starrte vor sich hin. Seine körperliche Anspannung verflüchtigte sich. Seine Schultern sackten nach unten. Er tat einen zögerlichen Schritt nach vorn. Ihre helle Haut sah aus, als wäre sie warm, sie schien warm. Er hätte sie gern berührt – aus wissenschaftlichem Interesse –, aber er hielt sich erst einmal zurück. »Darf ich …?«

»Ich nehme an, ich hätte dir schon einen Elektroschock verpasst, wenn ich noch in der Lage dazu wäre.« Rose errötete.

Er setzte sich neben sie und fasste sie behutsam am Arm. Er drückte ihre Fingerspitzen, strich ihr mit den Daumen über den Unterarm. Ihre Haut fühlte sich echt an, weich und nachgiebig. Selbst die starre Struktur darunter fühlte sich an wie echte Knochen. Und doch stimmte etwas nicht. Er ertastete feste Höcker in gleichmäßigen Abständen und Knoten von etwas, das an Kabel erinnerte, an ihren Gelenken. Dort, wo sich ihre Ohren an den Schädel fügten, befanden sich winzige Nähte, und selbst ihre Haare wuchsen gitterförmig angeordnet wie bei einer Puppe aus der Kopfhaut. Trotzdem – nur bei ganz genauer Betrachtung merkte man, dass sie kein völlig normales menschliches Wesen war.

Charlie war geradezu überwältigt von der liebevollen Sorgfalt, die Roses Schöpfer bis ins Detail auf ihre Ausstattung verwendet hatten, einschließlich kleiner Unvollkommenheiten. Vor allem die ovale dunkle Stelle am äußeren Rand ihrer rechten Handfläche – ein Leberfleck. Ihre Haut schien sich zu erwärmen, als er sie anfasste, und als er aufschaute, sah er, dass sie die Augen geschlossen hatte. Ihre Gesichtszüge waren ruhig, ihre Lippen leicht geöffnet.

Charlie ließ Roses Hand fallen.

Überrascht schlug sie die Augen auf. Sie atmete vorsichtig, als wäre sie ein wenig verwirrt. Charlie erhob sich. »Du bist … beeindruckend.«

»Oh. Vielen Dank.«

»Es ist echt unglaublich«, sagte er und musterte sie. »Als ich den Katalog gesehen habe, hatte ich ja keine Ahnung.«

»Katalog?«

»Den Sakora-Katalog. Ich hab einen vom Schulpsychologen bekommen.«

Rose riss die Augen auf. »Ach. Dann leidest du also auch unter Gefühlsarmut.«

Charlie wandte die Augen ab. »Tja. Ja, wahrscheinlich.«

»Bedeutet das dann, dass du eine Gefährtin hast?«

»Nein«, sagte Charlie mit flammend roten Ohren. »Wir … ich fand das irgendwie albern.«

»Albern?«

»Ja. Ich meine, das ist doch irgendwie ziemlich plump, findest du nicht? Elektroschocks?«

»Na ja, es geht nicht nur um Elektroschocks.« Rose nestelte an den Kordeln ihres Sweatshirts. »Das ist eine sehr komplexe Sache, die Beziehung, die sich da entwickelt. Sie braucht Zeit und Geduld und tiefgreifendes Verstehen.« Ihre Miene verdüsterte sich. »Verstehst du, es ist nicht, als würdest du … einen Lichtschalter anknipsen.«

»Und was ist es dann? Du hast da einfach ein System, das dir vorgibt, wie man sich verliebt, oder?« Charlie schüttelte den Kopf. »Das ist so, als würde man einen Hund trainieren. Man muss schon ein Idiot sein, um …«

Rose sprang auf. »Entschuldigung, David ist kein Idiot.«

Ihr Ton erschreckte ihn, aber er hatte sich schnell wieder gefasst. Hätte ein echtes Mädchen so mit ihm geredet, es hätte ihn fix und fertig gemacht. »Aber du behandelst ihn so, indem du erwartest, dass er aus Strafe und Belohnung lernt.«

»Wir waren« – sie verschluckte sich an dem Wort – »sind ineinander verliebt.«

»Genau dosierte Lust ist keine Liebe.«

»Woher willst du dich da so genau auskennen? Warst du denn jemals verliebt?«

Ihr allwissender Ton reizte ihn. »Ich dachte, ihr Dinger sollt freundlich im Umgang sein.«

»Aber nicht mit dir

»Ach ja, stimmt. Weil ich dir nicht zugeteilt bin.«

»Und wenn du es wärst, würde ich immer noch denken, dass du ungehobelt bist.« Sie ballte die Hände zu Fäusten.

»Aber dann müsstest du trotzdem sagen, dass du mich liebst.« Charlie deutete mit dem Finger auf sie. »Und das wäre eine Lüge.«

»Eine Lüge? Und wie würdest du das hier gerade nennen?«

»Einen Streit!«

»Na, es ist jedenfalls sehr interessant!«

Sie standen sich fassungslos und in hitzigem Schweigen gegenüber. Sie waren so plötzlich explodiert. Die Luft knisterte. Roses volle Lippen öffneten sich, sie atmete erregt. Charlie musste sich zwingen, den Blick von ihr loszureißen.

Schließlich schüttelte sich Rose, fuhr sich mit den Händen durchs Haar und räusperte sich.

»Danke für die Kleider, Charlie. Auf Wiedersehen.«

»Wohin gehst du?«

Sie lief rasch an ihm vorbei in den Gang. »Zurück zu David. Ich bin mir sicher, dass er, nachdem er eine Nacht darüber geschlafen hat, begreift, dass sein Verhalten verletzend war.«

»Darauf würde ich mich nicht verlassen.«

Sie warf einen Blick über die Schulter zu ihm zurück, ihre Augen waren flammende Pfeile. »Hier haben wir eine Meinungsverschiedenheit.« Sie griff nach ihrer Jacke.

»Fein, geh nur«, sagte Charlie. »Du hast sowieso angefangen zu nerven.«

»Und du, Charlie, bist wie ein Fruchtgummi.«

Entlang der Südseite des Sees und quer über den Rasen hinter dem Haus kehrte sie zurück wie eine Taube auf dem Heimflug. Das feuchte Gras quietschte unter ihren Schuhen, während sie sich der Ligusterhecke näherte, mit der die Grundstücksumzäunung kaschiert war. Auf der anderen Seite des Zauns redete jemand. Rose steuerte eine kleine Lücke im Blattwerk an und spähte hindurch. Mr und Mrs Sun befanden sich auf der hinteren Terrasse. Bei ihnen stand ein Mann im Anzug mit schütterem grauem Haar. Ihre Stimmen klangen leise, verschwörerisch.

»Ist das jemals vorher passiert?«, fragte Mrs Sun.

»Bedauerlicherweise kann ich dazu keine Informationen preisgeben, aber ich kann immerhin so viel sagen, dass diese Unverträglichkeit keinen absoluten Präzedenzfall darstellt. Unser Selektionsprozess ist zwar sehr sorgfältig, einige Klienten allerdings sind für das Programm einfach nicht geeignet.«

»Unser Sohn war nicht geeignet für Ihr Programm?« Mr Sun verschränkte die Arme. »Klingt eher, als funktionierte Ihr Programm nicht. Ende der Durchsage.«

»Wie Ihnen mitgeteilt wurde, befinden wir uns noch im Teststadium.«

»Ja, korrekt.«

»Wie gesagt, ich kann ein Ersatzmodell anbieten …«

»Oh, das glaube ich nicht«, warf Mrs Sun ein. »Ich glaube nicht, dass David dazu bereit ist.«

»In diesem Fall bekommen Sie Ihr Geld zurückerstattet, sobald wir das Gerät zurückerhalten.«

»Ä-hem«, sagte Mr Sun. »Ich will mein Geld jetzt zurückhaben.«

»Sir, das Gerät befindet sich in Ihrer Obhut, und wie in Ihrem Vertrag eindeutig festgehalten ist …«

»Hören Sie, vergessen wir das Geld«, sagte Mrs Sun. »Was passiert mit ihr – mit dem Gerät –, wenn Sie es zurücknehmen?«

Der Mann mit dem schütteren Haar holte Luft. »Sie wird stillgelegt.«

Rose schluckte.

»Sie können sie nicht … jemand anderem zuweisen?«

»Schatzi, wen interessiert das?«, fragte Mr Sun. »Lass sie das Ding als Schrott verkaufen.«

»Ich kann mir nicht helfen. Sie – das Gerät war so lebensecht.«

Leise trat Rose zwischen den Bäumen hindurch den Rückzug zur Straße an. Als sie asphaltierten Grund erreicht hatte, begann sie zu rennen.

Charlie öffnete die Tür. Rose hatte die Kapuze hochgezogen, um ihr Gesicht zu verbergen. Sie hatte die Hände in den Taschen vergraben und zitterte.

»Kann ich, also … kann ich hierbleiben?« Ihre Augen suchten flehentlich seinen Blick.

Charlie schluckte. »Klar«, sagte er und trat zur Seite. »Komm rein.«

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