14. Operation

May erklärte Rose, dass David zu nah an ihrem Herzen war. Ihn zu entfernen, wäre, als wollte man ihr Herz entfernen. Würde man diesen Draht kappen, gäbe es einen Blackout. Mit der Zeit, wenn sich mehr Erinnerungen darüberlagerten, würde David immer tiefer begraben liegen. Sie würde ihn immer weniger vermissen. Vielleicht.

May erzählte eine ganze Menge darüber, wie Rose gebaut war, wie sie funktionierte. Das hätte Rose wohl an einem anderen Tag interessiert, heute war es ihr gleichgültig. Sie würde sich für den Rest ihres Lebens halb tot fühlen – was, wenn May bezüglich der Lebenserwartung einer Gefährtin richtig lag, eine sehr lange Zeitspanne war.

Charlie war noch nicht mit den Schokoküchlein zurückgekommen.

»Er ist ein sensibler Typ. Gern mit sich allein. Das sehe ich«, sagte May.

Rose starrte aus dem Fenster. »Ja. Er ist etwas Besonderes.«

»Das bist du auch.«

»Kann ich dich etwas fragen?«

»Schieß los.«

»Als David mich zum ersten Mal angefasst hat, nur eine kleine Berührung an der Schulter, habe ich ihm einen Elektroschock versetzt. Es hat Wochen gedauert, einen Kuss vorzubereiten. Ich kannte Charlie eine halbe Stunde, als wir uns geküsst haben, und es ist nichts passiert. Wieso?«

May lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Sie hatte die Brille aufgesetzt, und als hätte sie einen Schalter umgelegt, war der ernste Unterton aus ihrer Stimme verschwunden. Ihre Persönlichkeit war wie ihr Blick, weich und verschwommen oder scharf und zielgerichtet.

»Tjaaaaa …« Sie ließ ihre Knöchel knacken. »Möglicherweise hat die Trennung von David einen Kurzschluss in deinem Sicherungssystem ausgelöst. Oder auch nicht. Der Annäherungs-Timer folgt keinem exakten Countdown. Er ist von vielen Umständen abhängig. Was für Gefühle man der Person gegenüber hat. Was man bezüglich ihrer Absichten erspürt. Was man miteinander erlebt hat. Vielleicht hattet ihr, du und Charlie, eine besonders intensive und intime Begegnung. Du wusstest, dass du ihm vertrauen kannst.«

»Er hat mir das Leben gerettet.«

May ahmte mit der Hand eine Pistole nach. »Bingo, Gringo. Das dürfte es gewesen sein.«

»Du hast mich heute oft angefasst«, sagte Rose. »Das bedeutet vermutlich, dass ich dir auch vertraue.«

May lächelte schlau. »Tja, das ist genau der Punkt. Funktioniert auch bei anderen Mädels so. Vermutlich haben diese Sakora-Typen nicht damit gerechnet, dass von Frauen eine sexuelle Gefahr ausgehen könnte.« Sie zwinkerte, schwere dunkle Wimpern flatterten hinter ihren dicken Brillengläsern. »Zeigt, wie viel Ahnung sie haben.«

Rose lächelte in ihre Schulter hinein. Sie sah sich im Labor um. Es war angenehm hier, kühl und dunkel. Sie überlegte, dass es schwierig sein musste, bei so schwachem Licht zu arbeiten, vor allem mit schlechten Augen.

»Du wirst blind«, sagte sie plötzlich, ohne zu begreifen, woher sie es wusste, aber trotzdem ihrer Sache sicher.

May lächelte wieder. Sie senkte den Kopf und Rose sah kristallklares Blau aufblitzen.

»Es ist ein Glaukom. Deswegen komme ich auch an das Gras.«

»Und es ist … ernst?«

May nickte.

Im Raum war es still bis auf das zufriedene Summen der Geräte und das leise Rascheln von Mays Atem. Rose legte eine Hand auf Mays Schulter. Sie spürte die Wärme ihrer Haut durch den Stoff des T-Shirts.

May setzte ihre Brille ab und säuberte sie an der Hose. Sie hob die eigenen, fehlerbehafteten Augen und richtete sie auf die makellosen, künstlichen Augen von Rose.

»Ich möchte dir was zeigen«, sagte sie.

Am hinteren Ende von Mays Labor befand sich eine weitere Tür, eine robuste diesmal, mit einem Zahlenschloss neben der Klinke. May gab einen Code ein, und die Tür öffnete sich mit einem Zischen. Dahinter säumten Metallregale eine kleine Kammer, deren einzige Beleuchtung von einer gläsernen Kuppel an der Zimmerdecke umschlossen war. Die Kammer war leer mit Ausnahme eines Gegenstands auf dem Tisch in der Raummitte – ein Glasgefäß, gefüllt mit einer transparenten Flüssigkeit. Das Ding, das darin schwamm, hätte eine seltene Blüte aus Reed’s Flora sein können.

»Die Epidermis ist auf Latex-Grundlage«, erklärte May. »Die Eierstöcke sind logischerweise nicht funktionsfähig, und die Gebärmutter ist, na ja … etwas vereinfacht. Aber bitte, das bedeutet auch: keine Monatsblutungen.« Sie stupste Rose gegen den Bauch. Rose erkannte das Ding aus dem Anatomiebuch in Charlies Bibliothek. Sie dachte an die wissenschaftlichen Namen, die über Querlinien damit verbunden gewesen waren – Labia, Vulva, Klitoris, Uterus, Ovarien, Cervix.

»Hast du das entwickelt?«

»Ja.« May tätschelte ihren Bauch. »Es ist so was wie mein Meisterstück. Ich meine, es ist längst nicht perfekt. Aber es funktioniert nach dem Baukastenprinzip, und dementsprechend …« Sie verstummte kurz, beendete den Satz dann aber leise, fast als spräche sie zu sich selbst. »Dementsprechend kann man es installieren.«

Installieren, das hieß, man konnte es einbauen, ergänzend hinzufügen. Rose musste an Dinge denken, die sie sich selbst hinzugefügt hatte – keine Körperteile, sondern Gedanken und Ideen. Erfahrungen. Alles, was sie bei ihrer Geburt gewesen war – was sie wollte, was sie fühlte, wie sie sich selbst wahrnahm –, all das gehörte ihnen. Doch von diesem Augenblick an gehörte jede Entscheidung, die sie traf, alles, was sie sah und in sich aufnahm, zu einer neuen Person. Der Person, zu der ich mich entwickle, dachte Rose. Zu mir.

»Ich möchte es haben.«

May zögerte, bevor sie antwortete. »Für Charlie?«

Rose schüttelte den Kopf. Nicht für Charlie, nicht für David. Sie brauchte es nicht zu erklären.

»Gratuliere, Rose.« May legte ihr einen Arm um die Taille. »Du hast den Test gerade bestanden.«

***

Charlie war eine einsame Straße unter dem Highway entlanggelaufen, an einem leer stehenden Lokal und einem staubigen Grundstück vorbei. Ihm wurde bewusst, dass er neben einer Backsteinmauer an der Leichtathletikbahn bergauf marschierte. Er setzte sich dort auf die Tribüne und blickte über die graugrüne Grasfläche. Eine Gruppe Mädchen in kurzen Hosen und Kniestrümpfen kam den Zugangsweg hinuntergesprungen. Sie beachteten ihn nicht.

Vielleicht ziehe ich in eine Großstadt, dachte Charlie. Oder in ein anderes Land. Wo es einfacher ist, unsichtbar zu sein.

In der Ferne grollte Donner, und ein paar Mädchen schauten besorgt zum Himmel hinauf. Sie joggten in lockerer V-Formation um den Platz. Sie waren langbeinig und sexy. Regen begann auf die staubige Bahn zu prasseln. Tropfen klatschten auf die Metalltribüne. Die Mädchen kehrten gerade in einer Schleife zurück zu Charlie, als Rose den Weg vom Eingangstor entlangkam. Sie sah Charlie auf der Tribüne sitzen und rannte mit über den Schultern wippenden Haaren zu ihm. Ein paar Meter von ihm entfernt blieb sie stehen und band ihre Haare zu einem lockeren Pferdeschwanz zurück. Sie war fast nicht wiederzuerkennen im Vergleich zu dem verwirrten Androiden, der in jener Nacht vor über einem Monat neben ihm gekniet hatte.

»Hey, ich habe dich gesucht.«

»Ich bin eine Runde spazieren gegangen.«

Sie setzte sich neben ihn und legte die Hände zwischen den Knien zusammen. Sie erzählte ihm von May, von der Prüfung und von den weiblichen Geschlechtsteilen, die May einbauen würde.

»Dann bist du wirklich einzigartig«, war das Einzige, was ihm dazu einfiel.

»Dann bin ich wie alle anderen.«

»Du wirst nie wie alle anderen sein.«

Rose nickte. »Das stimmt. Ich werde immer anders sein.«

»Besonders.«

»Ja.«

»Umso besser.«

Rose lachte leise. Sie legte den Arm um Charlie, aber Charlie brachte kein Lächeln zustande. Rose würde sich verändern. Sie hatte sich verändert. Sie wuchs und erweiterte sich. Und er, Charlie, blieb derselbe. Es gab keine May Poling für Menschen, niemanden, der ihm verschaffte, was ihm fehlte, ihn ein wenig besser machte.

»Denkst du, ich sollte es lassen?«

»Nein, ich finde es auf jeden Fall gut.«

Die Mädchen rannten auf der Bahn vorbei, und Rose folgte ihnen mit den Augen. »Also dann.« Sie nickte, nicht mehr als ein winziges Senken des Kinns, und kletterte von der Tribüne. »Ich treffe dich in einer Stunde wieder.«

»In einer Stunde«, sagte Charlie. »Viel Glück.«

»Danke.«

Sie zögerte, und Charlie wünschte, ihm fiele noch etwas anderes zu sagen ein. Der Augenblick fühlte sich nicht an, als ginge es um ein »Bis dann«. Es fühlte sich nach Abschied an. Und dann wandte sich Rose ab und spurtete über den Platz, und für ein paar Schritte lief sie Seite an Seite mit den Mädchen in ihren taubengrauen T-Shirts, bis sie sich von ihnen löste und jenseits des Tors verschwand, ein rotes Aufblitzen.

Rose lag auf dem Tisch. Der Himmel hinter den Jalousien hatte einen rosafarbenen Dämmerton angenommen. Sie trug ein weites Baumwollhemd, das hinten zusammengebunden war. Sie fröstelte.

»Das kriegst du wahrscheinlich nicht einfach mit einer Taschenlampe hin«, sagte sie.

May hatte einen Vorhang aus hellem, durchsichtigem Kunststoff um das Bett gezogen, eine antiseptische Abtrennung. Sie trug weiße Handschuhe und ein Haarnetz – das, was sie ihr Cafeteria-Bedienungs-Outfit nannte.

»Nicht unbedingt.« Sie stellte das Glasgefäß auf dem Arbeitstisch ab. Daneben standen ein Werkzeugkoffer, dessen Inhalt sie Rose nicht sehen lassen wollte, und ein kompliziertes Schlauchgebilde, das mit einer langen, senkrechten Stange auf Rädern verbunden war, Roses Infusionsgerät.

»Ich schläfere dich jetzt ein«, sagte May und richtete die Jalousien aus. »Diesmal keine Träume. Keine Visionen. Ein kompletter Blackout.«

»Du schaltest mich ab?«

»Ja.«

»Was passiert, wenn ich nicht wieder hochfahre?«

Trotz des beruhigenden Drucks von Mays Berührung zitterten Rose die Hände.

»Es wird alles klappen.«

»Ich weiß nicht, wovor ich mich fürchte«, sagte sie.

May drückte ihr ein letztes Mal den Arm und nahm ihre Vorbereitungen wieder auf. Eine Binde aus schwarzem Material wurde am Ende einer dicken schwarzen Schnur befestigt. Eine Narkosemaske. An der Unterseite saßen zwei Noden, winzige, flache Leuchten, und als May die Maske über Roses Gesicht schob, kamen die Noden genau über ihren Augen zu liegen.

»Entspann dich einfach. In ein paar Sekunden bist du eingeschlafen.«

Rose schloss ihre Augen unter der Maske. Weiches Licht pulsierte durch ihre Lider. May summte vor sich hin, während sie arbeitete. Es war eine sanfte Melodie, die Rose nicht kannte, und sie versuchte sich auf ihre Sanftheit zu konzentrieren und sich davon in den Schlaf lullen zu lassen.

»Leuchte, leuchte, kleiner Stern, bist so unerreichbar fern«, sang May, während sie arbeitete, leise vor sich hin. »Dort am hohen Himmelszelt, leuchtest du, wie’s dir gefällt.«

Das Licht pulsierte, May summte, und Rose schlief mühelos ein.

Als Rose zu sich kam, war sie allein. Der Vorhang und das chirurgische Besteck waren verschwunden. Undeutlich nahm sie die blinkenden Lichter an Mays Stereoanlage wahr. Es war dunkel und kühl. Im benachbarten Zimmer lief Musik.

Rose streckte sich, sie spürte den Stoff des Gewands über ihren Körper gleiten. Etwas war anders. Ein Schauer der Erregung lief ihr das Rückgrat hinauf. Die Operation. Sie zog den baumwollähnlichen Stoff weg und schob eine Hand zwischen ihre Beine. Ihre Finger ertasteten etwas Stachliges. Haare. Und dann …

»Oh!«

Das gleiche Gefühl der Erregung durchzuckte sie, stärker diesmal. Wieder bewegte sie die Hand. Rose hatte das Gefühl, in warmem Wasser zu versinken, Lichter, die über dem See tanzten, Atemholen zwischen Blitz und Donner. Sie zitterte. Davon hatte ihr niemand erzählt.

Charlie und May, draußen im Wartezimmer, hörten sie. Charlie schaute von seiner Zeitschrift hoch.

»Ist sie das? Ist sie wach?«

May lehnte sich zu den Steuerelementen der Stereoanlage hinüber, und indem sie am Knopf drehte, erhöhte sie die Lautstärke und übertönte die Geräusche aus dem Labor.

»Lehn dich zurück, Speedy. Sie ist noch nicht fertig.«

Charlie zögerte, dann ließ er sich wieder in seinen Sessel fallen.

»The way you, hmm hmm …«, sang May leise vor sich hin und richtete den Blick auf ihre Zeitschrift, »… da da sip your tea …«

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