15. Elektrizität

Die Türen des Cadillacs standen offen, der Bass wummerte aus dem Subwoofer über den ansonsten leeren Parkplatz. Artie und Clay lehnten an der Motorhaube, zwischen sich eine rote Tüte Cajun-Erdnüsse. David döste hinter dem Lenkrad.

»He, Sun, bist du wach?«

Er blinzelte. Arties Schatten fiel über die Windschutzscheibe und verdeckte die Sonnenstrahlen.

»Jetzt schon.«

»Es ist vier Uhr nachmittags«, sagte Clay. Er schnickte eine Erdnuss in seinen Mund und zerbröselte die Schale auf dem Pflaster. »Hast du letzte Nacht nicht geschlafen?«

Jenseits der Grasfläche trainierte Saint Marys Lacrosse-Team. Ihre Rufe schwebten durch die Luft und wehten zu den Jungs herüber wie Blätter im Wind. Aus der Ferne waren sie wie eine Herde in der Serengeti, die mal in die eine, mal in die andere Richtung rannte.

David streckte sich. Seine Trunkenheit war nicht abzuschütteln. Er fühlte sich unwohl, weit entfernt, als läge die übrige Welt hinter rußgeschwärztem Glas.

Artie wischte sich die Krümel von der Hose. »Jedenfalls, sie hat gesagt, wir sollen uns am Samstag im Einkaufszentrum treffen.«

»Ist das deine Internetfreundin?«, fragte Clay.

»Genau, die Wikingerbraut.«

»Ich dachte, die existiert nicht in echt«, sagte David. Die anderen schienen ihn nicht zu hören.

»Verdammt, ich weiß nicht«, sagte Clay mit vollem Mund. »Tussen im Web aufzugabeln find ich öde, aber ich hätte wirklich gern ’ne Portion Titten für die Thanksgiving-Ferien.«

Artie lachte.

»Kumpel, du kannst keine Portion Titten haben.«

»Was?«

»Du kannst keine Portion Titten haben. Titten sind nichts, was man in Portionen aufteilen kann.«

David schloss die Augen. Die Sonne auf seinen Lidern fühlte sich gut an, träumerisch hinterließ sie ihre orangefarbenen Spuren auf seiner Netzhaut. »Hatten wir das nicht schon mal?«, fragte er.

Clay kicherte. »Was meinst du damit, du kannst keine Ration Titten haben? Du kannst eine Ration Warzenmelonen haben …«

Artie lachte so heftig, dass er die Erdnusstüte umwarf. Sie fiel gemächlich zu Boden und verteilte staubartiges rotes Pulver auf dem Beton.

»Hey, Jungs, wollt ihr weg von hier?«, fragte David.

Clay las die Tüte auf und rettete, was davon übrig war. »Erzähl mir mal mehr von der Wikingerin.«

»Ihr Profilbild ist ziemlich geil.«

»Nett.«

»Jungs, hört ihr mir eigentlich zu?«

»Ja. Blond oder so was in der Richtung. Eher wasserstoffblond.«

David stieg aus dem Wagen und schlurfte zur Schule. Jenseits des Sportplatzes kam ein Schüler von Saint Seb mit wedelnden Armen auf den Parkplatz zugerannt.

»Davie, wo gehst du hin?«, rief Clay. An seinen Lippen klebten Chilikrümel.

David ignorierte ihn.

Er ging ins Schulgebäude. Die Flure waren kühl und dunkel. Jemand knallte eine Spindtür zu, das Geräusch schallte durch die leeren Korridore und klatschte gegen Davids erschöpftes Hirn. Gedämpfte Musik drang aus der Aula. Dann flogen die Türen auf, an denen David gerade vorbeigegangen war, und Paul Lampwick spurtete keuchend und mit rotem Gesicht auf den Flur hinaus.

»Da  ...«, setzte er an und hustete. »Hey, David. Warte!«

»Nicht jetzt, Lampwick.« Er stopfte die Hände in die Taschen und ging weiter, aber Paul holte ihn ein.

»Ich hab gerade einen Anruf von Charlie Nuvola gekriegt – vom Telefon meiner Schwester aus.« Er schien eine Antwort zu erwarten, aber David sagte nichts. »Er hat wegen deiner Exfreundin angerufen.«

David blieb stehen. Paul wartete, bis die Information ankam. Schließlich drehte sich David um. »Was ist mit Willow?«

»Nicht Willow, die andere. Die Rote, über die alle reden.«

David versuchte diese Aussage in ihrer ganzen Unwahrscheinlichkeit zu begreifen. Es war wie fliegende Schweine oder sprechende Bären. Lächerlich.

»Sie haben diesen Laden gesucht, diesen, na ja …« Er schaute den Gang entlang, um festzustellen, ob jemand im Anmarsch war. »David, war sie eine Gefährtin

David mahlte mit dem Kiefer und sagte nichts.

»Das ist okay, ich hab auch eine!«, sagte Paul und trat näher zu ihm heran. »Sie ist allerdings ganz anders als deine. Sie ist …«

»Halt die Klappe, Paul.«

»Aber wieso ist deine bei Charlie? Hast du sie weiterverkauft oder irgendwas? Ist das nicht gegen die Regeln?«

»Halt die Klappe, hab ich gesagt!« Er stieß Paul weg und schubste ihn gegen die Spinde.

»Aber …« Paul sah aus, als wollte er in Tränen ausbrechen. »Aber du bist nicht anders als ich!«

David entfernte sich mit steifen Schritten und blendete aus, was immer Paul als Nächstes sagte. Er spürte ein Kribbeln unten im Hals. Es verwandelte sich in ein wütendes Murmeln, ein Knurren. Als er die Treppe erreicht hatte, entstanden daraus Worte, eine Reihung teils geläufiger, teils erfundener Schimpfworte. Der Wortsalat platzte heftig und im Flüsterton aus ihm heraus. Er verkroch sich aufs Klo – das für das männliche Kollegium – und schrie sich vor dem Spiegel heiser. Er schrie durchs Fenster zu den trödelnden Nachzüglern hinaus, die den Pausenhof überquerten, zum heiligen Sebastian, dessen stachelige Ausleger sich ins Nirgendwo reckten, mit nichts verbunden waren.

Schließlich sackte er auf den schmutzigen Fliesenboden. Die drückende Luft war mit Worten geschwängert. Sie hingen dort, erstickend wie Giftgas.

Die Tür flog auf. Auf der anderen Seite stand Dr. Roger mit großen neugierigen Augen. Er sah aus, als sei er gerannt.

»Himmel«, sagte er, überrascht, hier einen Schüler vorzufinden. »Waren Sie das, der da geschrien hat?«

David konnte nicht sprechen.

Dr. Roger öffnete die Tür noch ein Stückchen weiter. »Kommen Sie raus«, sagte er. »Sie sehen aus, als bräuchten Sie jemand zum Reden.«

David holte tief Luft und nickte.

Es war spät; die gelbe Sonne ging bereits unter. Sie hatten bei Mays Werkstatt den Fünf-Uhr-Bus erwischt. Jetzt liefen sie den Pfad zum Campingplatz hinunter. Der Himmel leuchtete blutrot durch die herabhängenden Zweige, die sich, so schien es Charlie, wie Augenwimpern über die Grube senkten.

Rose setzte sich auf die blanke Erde und zog die Knie unters Kinn. Charlie setzte sich ein kleines Stück entfernt ebenfalls hin. Die kaputten Scheinwerfer lagen gegeneinandergelehnt neben der Feuerstelle, erloschen. Rose und Charlie beobachteten den Übergang des Himmels von blutrot zu violett und schließlich zu pechschwarzer Nacht. Der Mond war voll, eine funkelnde Münze.

»War Rebecca der Grund, weshalb du eine Million Was-wäre-wenn-Fragen stellen musstest?«, fragte Rose unvermittelt.

Charlie kniff die Augen zusammen, nicht sicher, wovon sie sprach. Dann stahl sich ein trauriges Lächeln auf seine Lippen. »Nein, nicht Rebecca. Als ich in der achten Klasse war, hat meine Mutter meinen Vater verlassen. Und ich habe mich gefragt, ob es meinetwegen war. Das heißt, ich weiß, dass es nicht so war. Aber … wahrscheinlich werde ich es nie genau wissen.«

Charlie blickte zum Himmel hinauf. Rose sah Charlie an. Sie verschränkte ihre Finger mit seinen und drückte seine Hand. »Das tut mir schrecklich leid, Charlie.«

Er sah ihr in die Augen. »Ich habe dich angelogen. Ich frage immer noch. Und ich werde nie damit aufhören. Nicht nach einer Billion Fragen. Nicht nach hundert Billionen. Aber …« Er drehte sich zur Seite, sodass sie sich direkt gegenübersaßen.

»Ich glaube, eines Tages wirst du aufhören zu fragen«, sagte Rose. Sie küsste ihn auf die Nasenspitze. Charlie nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen. Sie waren graublau, fast rauchfarben. Sie waren verblüffend. »Danke, Charlie. Du hättest mir nicht helfen müssen, weißt du.«

»Keine große Sache.«

»Du musstest von zu Hause abhauen, aus der Schule, musstest in eine illegale Werkstatt gehen. Natürlich ist es eine große Sache.«

»Himmel noch mal, Rose, sie hätten dich abgeschaltet«, sagte Charlie. »Das konnte ich nicht zulassen.«

Etwas in seinem Tonfall erinnerte sie an David – eine Bestimmtheit, eine Härte in den Worten. Aber die Worte waren natürlich ganz anders, Worte, die David niemals aussprechen würde. Sie dachte an jene Nacht, in der sie Charlie beinahe überfahren hatten. Herrgott, Rose. Sei einfach froh, dass wir das nicht sind. Charlie war die Wolke vor Davids Sonne. Die dunkle Seite seines Mondes, dachte Rose. In ihrem Kopf begann etwas zu zucken. Charlie war die Kehrseite von Davids Leuchten, die Schattenseite. Das Kennfeld begann sich zu drehen, in die dritte Dimension überzugehen. Und Roses unbeirrbarer Pfeil, der auf David zeigte, zeigte nun auch auf Charlie. Es war ein Gefühl, klar reflektiert.

Rose spürte, wie Wärme in ihr aufwallte – ein Universum, das sich rasch ausdehnte. Und plötzlich gab es in ihrer Welt Raum genug für eine weitere Person: jemanden ihrer Wahl. Ihren Charlie.

»Komm zu mir«, sagte sie.

Und sie küsste ihn.

Elektrische Spannung knisterte. Keine Spannung, die Schmerzen verursachte, sondern Energie, die nach außen abstrahlte. Rose öffnete die Augen. Die Scheinwerfer waren zum Leben erwacht. Sie brannten. Sie küsste Charlie erneut, presste ihre Hände gegen seinen Rücken. Charlies Hände bewegten sich über sie, ihre Beine, ihre Brust. Andere Hände, neue Hände, aber ganz und gar richtige Hände. Die Scheinwerfer brannten heißer, heller.

Sie gab ihm einen sanften Stoß und kam auf ihm zu liegen. Ihre Haare fielen über sein Gesicht, er spürte ihren Atem auf seinen Augenlidern, seinen Lippen. Sie küsste ihn und verschränkte die Arme hinter seinem Hals.

Mit ungelenken Bewegungen zogen sie sich aus, bis ihre Kleider als wirre Ranken im Staub lagen. Charlies Fingerspitzen und Zehen kribbelten. Sein Gesicht war taub. Er glaubte, ohnmächtig zu werden.

Ihre Körper verbanden sich miteinander, ein geschlossener Stromkreis. Ein Bogen blau-weißer Elektrizität sprang von Charlie zu Rose und wieder zurück, wie ein Band aus Licht. Eine blaue Fee. Sie waren vereint, miteinander verknüpft, zusammengeschweißt.

Und Charlie hatte eine Vision. Er sah seine Stadt wie vom Weltall aus, und er sah den winzigen blauen Funken, der ihn leuchtend mit Rose zusammenschloss. Und er sah dieses Licht weiterspringen zu jemand anderem, und wieder zu jemand anderem, zu David, Rebecca, Artie, seinem Vater, dem Mann mit dem schütteren Haar. Jeder von ihnen, sie alle waren durch Lichtbögen miteinander verbunden, und die Stadt leuchtete auf wie ein Stromnetz, ein unzerstörbares, leuchtendes Gewebe, das immer heller brannte, aber nicht seine Augen verbrannte, bis schließlich alles aus Licht bestand, alles, was da war, alles Lebendige. Charlies Herz flatterte. Er flog, schwebte unversehrt durch all das Blau. Er keuchte.

Die Scheinwerfer explodierten in einem Funkenschauer.

Später küsste ihn Rose auf die Stirn.

Sie lagen lange Zeit in der Grube, beobachteten die blauen Sterne, wie sie ihren langsamen Bogen über den Himmel beschrieben, und hatten das Gefühl, die Milchstraße schimmere allein zu ihrer Huldigung. Charlie war zu benommen, um zu sprechen. Er fühlte sich überwältigt, spacig, unberührbar. Schließlich schliefen sie ein.

Es gab Bindungen. Alles war miteinander verbunden. Und er würde sie nicht verlieren. Niemals.

Charlie rollte sich zur Seite, als er die Sonne auf seinem Gesicht spürte. Er presste die Wange in den feuchten Sand, und als seine Augen bereit waren, öffnete er sie langsam. Ein silbriger Falter saß auf Roses Jacke und trocknete seine Flügel im Wind.

Charlie setzte sich auf. Die plötzliche Bewegung erschreckte den Falter und ließ ihn davonfliegen. Charlie schaute nach rechts, nach links, stand auf. Ein kalter Wind wehte durch die Grube. Spuren im Sand führten von der Treppe zu der Stelle, wo Rose geschlafen hatte. Männerschuhe. Sie hatten sie geholt. Sie war weg.

Charlie war allein.

Er würde May aufsuchen. May würde wissen, was zu tun war. Doch die Water Street war gesperrt. Charlie bremste, als er knapp davor war, und kam an der hölzernen Polizeiabsperrung zum Stehen. Mehrere Streifenwagen parkten gegenüber von Mays Gebäude, ihre Signallichter drehten sich stumm. Männer in Uniform liefen vor der offenen Eingangstür herum, und Nachbarn lehnten sich glotzend aus ihren Fenstern. Eine kleine Menschenmenge hatte sich an der Absperrung versammelt, Charlie musste seinen Hals verrenken, um über die größeren Gaffer hinweg etwas sehen zu können. Männer schoben Handkarren und trugen große Kartons zu schwarzen Transportern – sie holten ihre Ausrüstung zurück.

»Was ist hier los?«, fragte er.

»’ne Razzia«, sagte ein Mann. »Oder so was. Sieht so aus, als hätte jemand ’n Meth-Labor aus der Wohnung da gemacht.«

Er spürte, wie ihm etwas gegen den Rücken schlug. Er drehte sich um. Eine kleine Person mit bunt gemaserter Kapuzenjacke stand ein Stück abseits der Menge. Sie hatte mit einem Kieselstein nach ihm geworfen.

Charlie zog sich zurück und bewegte sich unauffällig zu May hinüber. Ihre Augen waren hinter einer großen becherlupenartigen Sonnenbrille verborgen. Sie sah Charlie nicht an, während sie sprach.

»Nicht zu nahe. Sie sollten uns nicht zusammen sehen.«

Charlie hatte zu zittern begonnen. Irgendwie hatte er es bis hierhergeschafft, ohne Selbstgespräche zu führen. »Sie haben Rose geholt. Irgendwie haben sie uns gefunden, und haben sie mitgenommen.«

»Jemand hat ihnen einen Tipp gegeben.«

»Wer?«

»Ich wette, es war der Typ in dem Cadillac. Der ist zusammen mit den Bullen vorgefahren.«

Charlie schaute zu den beiden Streifenwagen hinten auf der Parkfläche hinüber. Zwischen ihnen stand ein schnittiger Sportwagen – viel zu schick für das Worcester-Polizeikommissariat.

»Das ist der Wagen von David Sun.«

May stopfte die Hände in die Taschen. »Was hat er gegen mich?«

»Gegen dich nichts«, sagte Charlie. »Tut mir leid, May. Deine Werkstatt.«

Sie zuckte die Achseln. »Schon gut. Ich kann noch mal neu anfangen. Sie können uns den Laden dichtmachen, aber sie können uns nicht aufhalten.«

»Könnte es passieren, dass sie dich verhaften?«

May wandte sich Charlie zu und grinste. »Nur wenn sie mich erwischen.«

Als sie die Straßenecke erreichte, drehte sie sich um, hob rasch die Hand zum Peace-Zeichen und verschwand.

Charlie machte sich auf den Weg zum Parkplatz.

»David.«

Die Streifenwagen waren leer. David Sun saß hinter dem Lenkrad seines Cadillacs, die Arme verschränkt. Als er Charlie sah, zuckte er zusammen. Das Seitenfenster fuhr surrend herunter.

»Nuvola.«

Charlies Stimme war leise, ruhig. »Steig aus dem Wagen.«

David starrte ihn mit ausdrucksloser Miene an. Gehorsam stieg er aus.

»Wo ist Rose?«, fragte Charlie.

»Was?«

Charlie stieß David gegen das Auto.

»Ich hab gesagt, wo ist Rose!«

Davids Augen verengten sich. »Du kannst mich mal.«

»Wohin haben die sie gebracht?«

»Das geht dich einen Dreck an«, sagte David. Er packte Charlie vorn an der Jacke und stieß ihn weg.

»Sag mir, wo sie ist, oder ich schwöre bei Gott …«

»Verpiss dich, Nuvola. Hier geht’s nicht um dich.«

David drehte sich um und wollte wieder in den Wagen steigen. Charlie wirbelte ihn herum und schlug ihm in den Magen. Davids Augen traten aus den Höhlen. Er krümmte sich hustend und spuckte Gallenflüssigkeit aufs Pflaster.

»Du Huren...«

David brachte den Satz nicht zu Ende, er konterte mit einem Kinnhaken. In Charlies Unterkiefer explodierte der Schmerz. Seine Füße hoben ab, er wurde rückwärts geschleudert, prallte gegen den Poizeiwagen und sackte zu Boden. David war über ihm.

»Ich schlag dich grün und blau.«

Charlie war wieder auf den Füßen. »Du hast sie weggeholt.« Er boxte gegen Davids rechten Arm. »Du hast sie weggeholt

Sie rangen miteinander. David rammte seinen Kopf gegen Charlies Brust und schlug ihn wild in den Magen.

»Du hast sie mir geklaut!«, schrie er. »Sie gehört dir nicht!«

»Sie gehört dir nicht!«

Sie lagen am Boden und wälzten sich zwischen den Autos. Noch nie hatte Charlie sich so eins mit seinem Körper gefühlt. Jeder Hieb, den David landete, war großartig. Jeder Faustschlag, den er platzierte, eine Freude. Er spürte, wie er losließ, wie alles aus ihm herausfloss, genau wie das Blut, das aus seiner Nase lief und auf den Gehweg tropfte, vorne auf Davids Hemd, und sich mit dem Blut von Davids Lippe vermischte.

»Leck mich! Leck mich!«, kreischte David.

Charlie brüllte eine Litanei von unverständlichem Zeug zurück. David presste seine Hand gegen Charlies Stirn. Sein Knie landete hart in Charlies Magen. Charlie rammte seinen Ellbogen in Davids Schulter und boxte ihn in die Seite. David stieß ihn so heftig von sich, dass Charlie seine eigene Faust ins Gesicht bekam. Er konnte nicht mehr sagen, wo David aufhörte und er anfing.

Dann merkte Charlie, dass jemand grob an seiner Jacke zerrte. Er wurde nach hinten gerissen und landete auf dem Hintern. Ein uniformierter Polizist stand über ihm.

»Was ist hier los, verdammt noch mal?«

Ein zweiter Bulle hielt David fest, der sich in Charlies Hosenbein verkrallt hatte. Davids Mund war in einer seltsamen Grimasse verzerrt, und Charlie sah Tränen über seine Wangen laufen.

»Aufhören! Aufhören!«, schrie der zweite Polizist. »Himmelherrgott, Kerl. Krieg dich wieder ein.«

Charlies Wut flaute ab. Sein Herz hämmerte, er schnaufte heftig, aber er war jetzt ruhig. Es war vorbei.

Er wischte sich die Handflächen an der Jeans ab. Sie waren mit Steinchen verkrustet. Sein Hemd war blutverschmiert.

Der eine Polizist legte Charlie eine schwere Hand auf die Schulter – keine freundliche Geste.

»Was zum Teufel habt ihr euch dabei gedacht? Ihr könnt euch doch nicht einfach mitten auf einem Parkplatz krankenhausreif prügeln! Wenn ihr das auf dem Schulhof machen wollt, gerne. Dann hat euer Direktor das Problem. Hier ist es meines.«

Der zweite Polizist gab David frei, der aufgehört hatte, sich zu wehren. Er starrte zu Boden, schniefte und spuckte Blut aus.

»Willst du sie einbuchten?«

Der erste Polizist rieb sich das Kinn und schüttelte dann den Kopf. »Nö.«

Der andere Polizist nickte.

»Aber wenn ich euch zwei noch mal auseinanderbringen muss, beförder ich euch beide in den Streifenwagen, verstanden?«

Charlie nickte.

Der Bulle ließ seine Schulter los und marschierte zu der Straßenabsperrung zurück. Sein Kollege folgte ihm. »Zwanzig Eier darauf, dass es um ein Mädel ging.«

David und Charlie saßen auf der Bordsteinkante und sahen zu, wie die Sakora-Leute den Rest von Mays geklauten Gerätschaften in den Lieferwagen luden. Sie blieben sitzen, bis die Straße leer war und die neongrün beleuchtete Uhr über der Bank 1:00 anzeigte. David legte seinen Kopf in die Hände.

»Was haben sie dir erzählt?«, fragte Charlie.

David holte Luft. »Dass sie sie mir zurückbringen könnten. Und außerdem ihre Erinnerung löschen.«

»Die Erinnerung daran, dass du sie rausgeworfen hast?«

»Ja.«

»Sie wäre zu dir zurückgekommen«, sagte Charlie. »Sie hätte dir verziehen. Anfangs zumindest.«

David spuckte auf den Bordstein. »Ich glaube nicht, dass die sie zurückbringen.«

»Nein«, sagte Charlie. »Blutet deine Lippe immer noch?«

»Ein bisschen.« Er stand auf.

»Wohin gehst du?«

»Nach Hause.«

Charlie fuhr mit dem Fahrrad nach Hause. In die Pedale zu treten war eine gezielte Anstrengung. Thaddeus fragte ihn nicht, wo er gewesen war, und am nächsten Morgen, als er zur Schule aufbrach, tätschelte ihm Thaddeus den Rücken und warf ihm ein aufmunterndes Lächeln zu.

Eine Tür tat sich auf, Charlie wollte ihm etwas sagen, und dann schloss sie sich wieder, zu schnell für Charlie, um tatsächlich zu sehen, was auf der anderen Seite war.

David kam an diesem Tag nicht in die Schule, auch nicht am darauffolgenden. Als er wieder auftauchte, grüßte er Charlie auf dem Flur mit einem Kopfnicken, ein denkbar knappes Zeichen der Beachtung. Charlie wusste es an jenem ersten Tag noch nicht, aber das Nicken sollte zu einer Art Tradition werden. Im Lauf der nächsten Wochen nickte David Charlie jeden Morgen zu, wenn er zur ersten Stunde kam, und Charlie ließ ein halb artikuliertes »Hey« hören. Es war der eine leise Wellenschlag im Teich ihres Alltagslebens, in der ansonsten gleichbleibend glatten Oberfläche ihrer Existenz. David war immer noch David; Charlie war immer noch Charlie. Genau wie vorher.

Zum Ende des Schuljahres ging Charlie in die Theateraufführung. Rebecca, die sich doch noch entschieden hatte mitzumachen, war großartig, auch wenn sie nur in zwei Szenen auftrat. (Willow Watts Eliza Doolittle war grauenhaft.) Auf dem Programmzettel stand In liebevoller Erinnerung an Nora Vogel. Charlie wartete am Bühneneingang mit einem Blumenstrauß aus Lavendel und Pfingstrosen auf Rebecca, und sie gingen nach draußen vors Schulgebäude von Saint Seb, wo sich eine Schar Tauben, vertrieben durch die auf der Wiese parkenden Autos, auf den Metallstangen der Statue niedergelassen hatte, neben der alten Krawatte, die immer noch darin verfangen war. Grinsend rannte Charlie auf die Tauben zu, er johlte und wedelte mit den Armen. Die aufgescheuchten Vögel flatterten in einem grauen Federwirbel hoch. Rebecca lachte schallend, als er die Aktion noch einmal wiederholte. Die Vögel ließen sich schon wieder nieder, mit Ausnahme einer Flattergestalt mit roten Flügelspitzen, die sich in einem Windstoß emporschraubte.

Eines Abends dann war Charlie mit dem Fahrrad draußen unterwegs, als er blinkende Polizeilichter am anderen Ende des Sees entdeckte. Er radelte den Berg hinunter auf zwei Streifenwagen zu. Davids Cadillac war von der Straße abgekommen und praktisch im See gelandet. Der vordere Teil hing halb unter Wasser. Die Leitplanke war durchbrochen, und Reifenspuren zogen zwei gerade, schlammige Linien von der Straße zum Seeufer. Ansonsten schien kein großer Schaden entstanden zu sein. David saß auf der hinteren Stoßstange des Krankenwagens, eine Decke um die Schultern, blass, aber unverletzt. Der Wagen war nur zum Teil versenkt; David hatte offenbar wieder so weit Kontrolle über ihn gewonnen, dass er bremsen konnte, bevor er vollständig ins Wasser fuhr. Aus Charlies Blickwinkel schien es allerdings, als hätte der See den Wagen gestoppt, als wäre das Wasser nicht Wasser, sondern eine undurchdringliche Barriere, die zu zertrümmern die Luxuskarosse nicht stark genug war.

Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012