11. Funken

An jenem Abend saß Rose auf einem Gartenstuhl aus Plastik und starrte über den See. Ein gläsernes Haus erleuchtete das westliche Ufer – Davids Zuhause. Die hellen gelben Lichter überstrahlten die Sterne, aber der Mond war zu erkennen. Er war beinahe voll, ein Zwillingsgestirn des Uferlichts, wenn auch blasser. Rose erinnerte sich, dass sie im Internet gelesen hatte, die Sonne lasse den Mond leuchten, doch eine Seite sei immer dunkel, im Schatten verborgen. Heute Nacht, so stellte sie sich vor, war es das Licht von Davids Haus, das die helle Seite des Monds beschien und ihn funkeln ließ wie eine Silberplatte.

Sie fragte sich, was er gerade machte. Es war acht Uhr abends. Normalerweise schauten sie sich samstags um acht einen Film an. Vielleicht saß er am Computer. Oder fuhr draußen durch die Gegend. Ihr fielen Dutzende Sachen ein, mit denen er sich im Moment womöglich beschäftigte. Es war ein Leichtes, sich für David ein neues Leben vorzustellen. Aber nicht für sich selbst. Sie kannte ihn so gut und sich selbst überhaupt nicht.

Charlie saß lesend auf dem Sofa, als sie ins Wohnzimmer platzte. Er blickte erschrocken auf.

»Was ist los?«

»Ich werde ihn anrufen.«

Sie griff eilig nach dem Telefon. Sie hatte bereits die ersten drei Ziffern gewählt, bevor Charlies Finger auf die Gabel drückte und die Verbindung unterbrach.

»Warum hast du das gemacht?«

»Rose, wenn du ihn anrufst, werden sie dich hier aufspüren.«

»Aber was ist, wenn …«

Charlie schüttelte den Kopf.

»Das ist süß von dir«, sagte sie und legte den Telefonhörer auf.

»Gern geschehen.«

»Aber es ärgert mich auch.«

Rose ging zu ihrem Gartenstuhl zurück. Kurz darauf hörte sie die Fliegengittertür klappernd zufallen. Charlie setzte sich neben sie ins feuchte Gras, seine dunklen Locken bewegten sich leicht im Wind. Die Brise kräuselte die Oberfläche des Sees und hinterließ schattenhafte Spuren.

»Er ist das ganze Universum«, sagte sie. »Was soll ich tun?«

»Es gibt im Universum noch anderes außer David Sun, glaub mir.«

»Aber er ist …« Rose bemühte sich, den Gedanken in Worte zu fassen. »Er ist mein ganzes Universum, auch wenn er es nicht für andere ist.« Sie schaute sehnsüchtig über den See. Sie wäre gern hinübergeschwommen oder vom Steilufer gesprungen und zu seinem Fenster geflogen. »Ich wünschte, mir würde jemand sagen, was ich tun soll.«

Charlie seufzte. »So läuft das nicht. Du musst jetzt deine eigenen Entscheidungen treffen.«

»Aber ich brauche ihn.«

»Das denkst du nur. Du brauchst niemanden.«

Das Wasser plätscherte am Ufer. Die Bäume raschelten. Rose riss für einen kurzen Moment ihren Blick vom See los und betrachtete Charlie von der Seite.

»Brauchst du niemanden?«

»Nein.«

Er stand auf, wischte den Hosenboden seiner Jeans ab und machte Anstalten zu gehen. Dann stockte er, als hätte er etwas vergessen. »Du wirst dich eine Million Mal fragen: Was wäre, wenn. Was wäre, wenn ich etwas anders gemacht hätte? Was wäre, wenn ich anders wäre

»Und was passiert, wenn man das eine Million Mal gefragt hat?«

Charlie schwieg einen Augenblick, dann sagte er: »Du hörst einfach auf zu fragen. Und lässt dich auf etwas Neues ein.«

Sie wäre froh gewesen, wenn er ihr mehr erzählt hätte, aber jetzt ging er, und die Tür fiel mit einem Seufzer hinter ihm zu.

Was wäre, wenn er gerade jetzt unterwegs wäre und mich suchte?

Das war ein Was-wäre-wenn, dachte Rose. Fehlten nur noch 999999.

Als Charlie das Haus wieder betrat, öffnete sich die Tür zum Labor seines Vaters. Thaddeus’ Gesicht tauchte in dem Spalt auf – ähnlich einer Ratte, die ihre Schnauze aus dem Loch streckt.

»Hallo, Kumpel! Kannst du mal kurz reinkommen?«

Das Glasgefäß mit dem inzwischen kalten Wasser stand immer noch, in eine Decke gewickelt, neben dem Sofa. Charlie setzte sich. Thaddeus lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Tisch. Seine Miene war ernst, doch der Ausdruck in seinen Augen war sanft.

»Also. Wissen ihre Eltern, dass sie hier ist?«

»Nicht wirklich«, sagte Charlie. »Sie … macht nur grade einiges durch.«

»Ich vertraue dir«, sagte Thaddeus. »Nur sei vorsichtig. Vielleicht ist es dir nicht aufgefallen, aber da draußen sitzt ein ausgesprochen hübsches Mädchen. Und hübsche Mädchen, die soeben eine Trennung hinter sich haben, neigen zu emotionaler … lass dich einfach nicht als Lückenbüßer benutzen, hörst du?«

»Also bitte, Dad.« Charlie stand wieder auf. »Ich bin nicht ihr Lückenbüßer.«

»Sicher?«, sagte Thaddeus ruhig.

»Ich bin völlig okay.«

»Die schönsten Blumen haben oft das tödlichste Gift.«

»Wir sind bloß befreundet.«

Er wuschelte Charlie durchs Haar.

Wieder allein in seinem Zimmer, fragte sich Charlie, ob er nicht doch nur ein Lückenbüßer war. Rose war eine Maschine, klar. Ein Nachbau blieb ein Nachbau, egal, wie überzeugend er wirkte. Er musste sich also wirklich keine Gedanken machen. Und außerdem fühlte er sich wohl in ihrer Gegenwart, ein Beweis, dass sie ganz sicher kein lebendiges Wesen war. Wäre sie lebendig gewesen, hätte er sie nicht so gernhaben können.

Als Rose das nächste Mal die Fliegengittertür klappern hörte, ging die Sonne auf.

Charlies Flipflops klatschten auf das nasse Gras. Er trug einen ausgefransten Morgenmantel.

»Heißt du mit Nachnamen Hilton?«, fragte sie.

»Hä?« Seine Augen waren verquollen. Er sah auf den Namen hinunter, der auf den Morgenmantel gestickt war. »Ach, das. Mein Vater hat ihn von einer Botanikertagung in Boston.«

»Ach so.«

Rose wandte sich wieder dem See zu.

»Bist du die ganze Nacht hier draußen gewesen?« Ihre Arme waren von einer dünnen Tauschicht bedeckt, aber es schien ihr nichts auszumachen.

»Ich bin bei vierhundertzweiundsiebzigtausendsechshunderteinundvierzig.«

»Hä?«

»Was-wäre-wenns. So viele davon habe ich.«

»Oh.« Er räusperte sich. »Du fragst sie alle auf einmal?«

»Jep.«

»Und wie fühlst du dich?«

Rose streckte sich. In ihrem Kreislaufsystem platzten knisternd kleine Blasen mit träger Flüssigkeit.

»Es ist angenehm, ein Ziel zu haben.« Sie schaute ihn an. »Danke, dass du mich letzte Nacht aufgehalten hast. Als ich David anrufen wollte.«

»Kein Problem.« Charlie zog seinen Mantel enger um sich. »Ich bin drinnen, falls du irgendwas brauchst.«

»Ich bleibe hier.«

Die Sonne stieg über dem See auf. Charlie brachte Rose ein Sandwich und einen tragbaren CD-Player mit Kopfhörern. Als die Sonne hoch am Himmel stand und die Wolken verdampften, schien es Rose, als verschmorten ihre Okularsensoren vom allzu langen Schauen. Als Nächstes brachte Charlie einen alten, mit Spinnweben behangenen Sonnenschirm und steckte ihn neben ihrem Stuhl in die Erde. Käfer fraßen ihr unberührtes Sandwich. Als sich die Sonne dem gegenüberliegenden Seeufer näherte, entfernte Charlie den Schirm und legte Rose einen Schal über die Knie. Die ganze Zeit sagte er kein Wort.

Zuletzt wurde es dunkel, und Rose rührte sich. Ihr Hirn war erschöpft, stotterte vor Anstrengung … wie Charlies Generator, dachte sie und lächelte in sich hinein.

Im Haus stand Thaddeus an der Küchentheke und aß Nudeln aus einer Schüssel, die dem Panzer einer Schildkröte ähnelte.

»Willst du auch etwas?«, fragte er und hob eine Gabel mit dem klebrigen orangefarbenen Zeug. »Ich mag es gerne kalt, aber ich kann dir eine Packung in die Mikrowelle legen.«

»Nein, vielen Dank.«

»Charlie ist mit seinem Fahrrad unterwegs. Er ist bestimmt bald zurück.«

»Okay.«

»Warst du wirklich die ganze Nacht da draußen?«, fragte er.

Rose nickte. »Danke, dass Sie mich bei sich aufgenommen haben«, sagte sie. Da war keine Stimme, die ihr sagte: Sei höflich zu Erwachsenen, aber sie erinnerte sich, dass so etwas erwartet wurde.

»Charlie erzählte mir, dass du mit einer hässlichen Trennung fertig werden musst.«

Rose nickte erneut. »Ja, Sir.«

»Wie hieß er denn?«

Rose machte Anstalten, den Namen zu nennen, aber sie kam nicht weiter als bis zum angetippten D. »Ich … ich habe heute schon so viel über ihn nachgedacht, mehr schaffe ich nicht.«

Über seine kalten Nudeln hinweg gab ihr Charlies Vater ein Zeichen der Zustimmung.

»Tja, tut mir leid, dass wir keinen Fernseher haben. Möchtest du ein Buch lesen?« Er wies mit seiner Gabel auf die Regale.

»Ja. Vielen Dank.«

Es war eine große Bibliothek, aber läppisch im Vergleich zu all dem, was David auf seinem Computer hatte. Rose beschloss, noch einmal etwas über Blumen zu lesen.

»Reed’s Flora«, sagte Thaddeus. »Interessierst du dich für Pflanzen?«

»Oh, ich interessiere mich für alles«, sagte Rose. »Die ganze Welt.«

Sie entdeckte eine Reihe von Fotos in einem zickzackförmigen Rahmen auf dem Regal. Auf einem Bild stand eine kleinere, blassere Ausgabe von Charlie mit freiem Oberkörper zusammen mit Thaddeus in einem Berg von weißem Flausch. Sie schmiegten sich aneinander. Im Hintergrund lag ein stiller, perlmuttfarbener See.

»Wir haben früher am jährlichen Eisbärenschwimmen im Olive Lake teilgenommen«, sagte Thaddeus. »Hast du das mal gemacht? Ist mächtig erfrischend.«

Rose schüttelte den Kopf.

»Wer ist das?«, fragte sie und zeigte auf eine dunkelhaarige Frau auf dem Foto daneben. Sie war mager wie ein kleiner Junge und trug eine große Brille mit schwarzem Gestell.

»Das ist Charlies Mutter«, sagte Thaddeus und spülte die Schildkröte über dem Ausguss ab. »Sie hat uns verlassen.«

»Das tut mir leid«, sagte Rose und berührte den Glasrahmen mit dem Finger.

Thaddeus zuckte mit den Achseln und stellte die immer noch schmutzige Schildkrötenschüssel auf das Abtropfgitter. »Du kannst ja nichts dafür.«

Er schlurfte in den benachbarten Raum, und Rose verzog sich mit zwei Büchern in einen Sessel, mit Reed’s Flora und Anatomie von James Reid. Als Erstes war die Flora an der Reihe, wo Die Rose nicht im Geringsten wie sie selbst, Rose, aussah, sondern etwas war, das im Boden wuchs und von Schmetterlingen verspeist wurde. Die Anatomie war interessanter. In der Mitte zeigte ein doppelseitiges Diagramm weiblich auf der linken und männlich auf der rechten Seite, ein Mädchen und einen Jungen, die sich über den Falz hinweg an den Händen hielten. Rose studierte ihre Seite und stellte fest, dass nichts anders war, abgesehen von einem schwarzen Gekritzel zwischen den Beinen der weiblichen Gestalt, das ihr selbst fehlte. Eine Linie, die zu der fraglichen Stelle führte, bezeichnete diese als Vagina. Sie schloss die Augen und staunte darüber, dass ein paar Haarbüschel sie und David auseinanderbrachten. Sie legte die Buchseiten aufeinander, sodass das Paar sich küsste. Die nächste Seite hätte aus Reed’s Flora gestohlen sein können. Es war ein detailliertes Schaubild des Wortes mit V. Dutzende von Linien führten zu Dutzenden von Teilen und stellten die Verbindung zu ihren Bezeichnungen her. Diese Blume war es, die David wollte und sie nicht besaß. Sie tastete mit der Hand zwischen ihren Beinen und fühlte lediglich eine Schnittstelle, deren Teile nicht miteinander verbunden waren. Es stand noch mehr im Buch. Unter Schmerzen las Rose weiter.

Der Sonnenuntergang war geradezu grell, aber Charlie fuhr mit dem Fahrrad in das blendende Licht, den Hang an der Nordseite des Sees hinauf zu der Stelle, an der er und Rose gefallen waren. Gefallen. Sich hatten fallen lassen. In ihre Gefühle füreinander hatten fallen lassen.

Er versuchte die Sache anders zu sehen, aber er spürte immer noch den Kuss. Seinen ersten Kuss. Zählte der, mit einem Roboter?

Seine Beinmuskeln schmerzten. Sie würden den ganzen Abend zittern, wenn er dieses Tempo beibehielt. Bergauf trat er kräftig in die Pedale, auf der gegenüberliegenden Seite ließ er sich von der Schwerkraft mitnehmen. Er mochte das Gefühl, die flüchtige Schwerelosigkeit, wenn der Wind vorüberpeitschte. So fuhr er eine ganze Strecke, immer an der Küste entlang.

Als er um die Kurve bog, sah er Scheinwerfer. Ein Trio schwarzer Wagen verließ die nächstgelegene Hauseinfahrt. Das war nichts Ungewöhnliches. Mindestens ein wichtiger Politiker wohnte hier, und Charlie hatte schon so manche Konvois gesehen.

Aber dies waren keine Staatskarossen. Im schwächer werdenden Licht erkannte Charlie das rosafarbene Kirschblüten-Logo.

Die ersten Wagen rumpelten so dicht an Charlie vorbei, dass er das Fahrrad auf die Schulter heben musste. Auf seiner Stirn bildeten sich kribbelnde Schweißperlen. Der dritte Wagen fuhr vorbei und hatte erst ein paar Meter zurückgelegt, als seine Bremslichter aufleuchteten. Das teure Fahrzeug wendete und kam neben Charlie zum Stehen. Eine Rückscheibe wurde heruntergelassen, und ein Mann mit sehr schmaler Brille und aschenem Haar sprach Charlie an. »Entschuldigung, kann ich einen Moment mit Ihnen reden?«

Die anderen beiden Wagen blieben ebenfalls stehen. Charlie klappte seinen Fahrradständer aus.

»Schießen Sie los.«

»Wir suchen nach einer Ausreißerin. Haben Sie eine junge Frau mit roten Haaren gesehen?«

»Wie alt?«

»Sechzehn. Sie ist meine Tochter, ich mache mir große Sorgen um sie.«

Ein kalter Schauer durchzuckte Charlie. »Tut mir leid. Ich hab niemanden gesehen, und ich bin seit einer Stunde mit meinem Fahrrad hier unterwegs.«

Der Mann fixierte Charlie. Die engen schwarzen Pupillen schienen ihn skalpellartig zu sezieren.

»Danke«, sagte er und streckte Charlie eine Visitenkarte entgegen. »Wahrscheinlich hält sie sich irgendwo in der Nähe dieses Sees auf, wenn Sie sie also bei Ihren Touren sehen, rufen Sie mich bitte an.«

Charlie warf einen Blick auf die Karte. Oberhalb der Telefonnummer stand in Prägedruck der Name. Coleo Foridae. Klang irgendwie griechisch.

»Mach ich, Mr Foridae«, sagte Charlie und steckte die Visitenkarte ein.

Coleo wandte sich an den Fahrer. »Fahren wir.«

Das Fenster schloss sich, und die Autos verließen die Straße. Charlie fühlte sein Herz bis zum Hals schlagen. Irgendetwas war mit diesem Foridae – die Art, wie er seine Augen in Charlie bohrte. Charlies Fahrradreifen schlingerten über den nassen Asphalt.

Die Karawane steuerte nach Norden, zur Spitze des Sees. In dieser Richtung gab es keine weiteren Häuser. Die Straße machte einen Bogen zum östlichen Ufer. Und am östlichen Ufer gab es nur ein einziges Haus.

Das von Charlie.

Das Wettrennen dorthin konnte er nicht gewinnen, nicht mit dem Fahrrad. Aber er musste es zumindest versuchen. Den Weg am Südufer entlang zu nehmen, würde zu lange dauern. Er musste umkehren und sie auf dem Weg nach Norden überholen, und das hieß querfeldein fahren. Charlies altes Gefährt besaß keine nennenswerten Stoßdämpfer, es ratterte und klapperte über die Feldwege. Kiesel flogen hoch und schwirrten gegen die Speichen. Dornengestrüpp verfing sich in Charlies Socken, er atmete tief durch und kämpfte sich voran.

An der Steigung erspähte er die Wagenkolonne. Sie hatte an der Gabelung von Cliff Road und Route 20 haltgemacht. Coleo stand an die hintere Stoßstange gelehnt, mit dem Handy am Ohr. Ein glücklicher Umstand. Charlie überholte die Wagen und lenkte das Vorderrad hangabwärts. Hier gab es keinen Weg mehr, nur unebenen, durchwurzelten, von Steinen übersäten Grund. Charlie verfluchte Thaddeus dafür, dass er nichts von Handys hielt. Vielleicht konnte er Rose ja über Telepathie erreichen. Lauf weg und versteck dich! Sie sind unterwegs und wollen dich holen!

Er erreichte die Hauszufahrt, Kies spritzte fächerförmig vom Hinterrad auf. Er sprang vom Fahrrad und ließ es fallen. Dann stürzte er ins Wohnzimmer. Thaddeus saß an der Küchentheke und löste das Kreuzworträtsel in der Tageszeitung.

»Wo ist …«, keuchte Charlie. Seine Lunge fühlte sich an, als wäre sie voller Sand. Vor seinen Augen tanzten Sterne.

Roses Kopf tauchte hinter der Sofalehne auf. »Charlie! Ich lese gerade ein ganz erstaunliches …«

»Komm mit.« Charlie packte sie bei der Hand. »Wir müssen weg.«

»Jetzt?« Thaddeus schaute nicht von der Zeitung auf. »Du bist doch gerade erst gekommen. Setz dich und iss etwas.«

»Charlie …« Ihre Augen suchten seine. »Was ist los?«

»Wir müssen weg, Dad.« Charlie zog sie auf die Füße.

Thaddeus blinzelte über den Rand der Zeitung. »Stimmt irgendwas nicht?«

»Erzähl ich dir später«, rief Charlie über die Schulter zurück, und dann waren sie draußen in der Nacht und rannten.

Vom Wald hinter dem Haus beobachteten sie, wie die Scheinwerfer des Konvois sich um die Kurve schoben. Das Terrassenlicht ging an. Thaddeus kam in Shorts und T-Shirt an die Haustür.

»Sie suchen mich«, flüsterte Rose. Ihr Atem war heiß und nah.

»Ja.«

Eine Gruppe von drei Männern kam die Hauszufahrt entlang, mit Mr Foridae an der Spitze.

»Das ist er«, sagte sie leise. »Der Mann, der gesagt hat, er würde mich stilllegen.«

Charlie und Rose waren in der Dunkelheit nicht auszumachen, trotzdem duckte sich Charlie noch tiefer. Falls man sie entdeckte, konnten sie im Wald verschwinden, aber die Bäume standen nicht dicht genug, um sich dazwischen zu verstecken. Binnen kürzester Zeit würde man sie einfangen.

»Was wird dein Vater tun?«, flüsterte Rose.

Die Männer stellten sich vor. »Dad, bitte«, sagte Charlie kaum hörbar.

Von dem Gespräch war nur Gemurmel zu hören. Charlie identifizierte die Worte Tochter und verschwunden. Thaddeus’ Miene war steinern, unergründlich. Zuletzt ergriff er das Wort.

»Ich habe sie nicht gesehen«, sagte er laut. Damit wir es hören, dachte Charlie. »Aber ich werde sicherlich die Augen offen halten. So ein Mädchen, das ganz allein unterwegs ist – sie würde wahrscheinlich nach Einbruch der Dunkelheit nicht hier draußen bleiben. Ich wette, sie würde sich auf den Weg in die Stadt machen.«

Coleo nickte, sagte noch etwas. Die Männer kehrten zu ihren Autos zurück.

»Oh nein.«

Rose erstarrte. »Was? Was ist los?«

Coleo bückte sich und untersuchte etwas auf dem Boden. Charlies Fahrrad. Er schaute auf und suchte mit durchdringendem Blick den Wald ab. Seine Augen wanderten über Charlie und Rose hinweg, beschrieben einen sanften Bogen – und sprangen zurück.

»Rühr dich nicht.«

Charlie starrte in die grauen Augen hinter der Drahtbrille. Coleo wandte sich einem seiner Leute zu, sagte etwas, das Charlie nicht hören konnte, und bestieg seinen Wagen.

»Er weiß, dass Dad lügt«, sagte Charlie.

»Was machen wir jetzt?«

»Vom Haus wegbleiben. Zumindest ein Weilchen.«

Charlie fühlte einen warmen Druck auf seinem Knie. Roses Hand hielt seine Jeans fest. Er sah ihre blasse Silhouette, ihr Atem war wie ein Flüstern. Vielleicht war es nur das Adrenalin oder die Angst, aber Charlie hatte plötzlich das Gefühl zu fliegen.

»Ich weiß, wo wir hinkönnen«, sagte sie und nahm seine Hand. »Komm mit.«

Sie rannten durch den Wald, ihr Weg schlängelte sich zwischen den niedrigen Zweigen hindurch. Rose hörte Charlie keuchen. Das Adrenalin in ihrem System trieb sie voran, doch Charlies Körper war weniger leistungsfähig, er ermüdete rasch. Sie lief langsamer, drückte seine Hand und zog ihn weiter.

Am Waldrand erreichten sie eine vertraute Nebenstraße. Die Leitplanke hatte eine Lücke, und es wuchsen drei kleine Bäume hier – Jungbäume war das Wort in Reed’s Flora –, die selbst betrunkene Kids in einem vorbeirasenden Auto im Dunkeln wiedererkennen konnten.

»Hier ist es«, sagte Rose.

Sie liefen eilig einen kurzen Weg hangabwärts und erreichten schließlich den Campingplatz. Ohne ein brennendes Feuer war die Grube ein offener Schlund, der den Sternen entgegengähnte.

Hand in Hand stiegen sie, gemächlicher nun, die Betonstufen hinunter. Ein rötliches Leuchten stieg aus der Grube auf – irgendwer war vor Kurzem hier gewesen. Der Boden war mit zerdrückten Bierdosen und Zigarettenkippen übersät.

»Alles in Ordnung?«, fragte Charlie.

»Ich denke nur an letztes Mal zurück.«

»Bist du sicher, dass keiner weiß, wo wir hier sind?«

»Keine Erwachsenen.« Rose setzte sich auf eine der Steinbänke. »Ich glaube nicht, dass heute Nacht noch jemand zurückkommt.«

»Aber es war heute jemand hier.« Charlie machte einen Bogen um eine verirrte Flasche. »Hey, schau dir das an.« Er beugte sich hinter eine Bank und brachte zwei schmutzige Scheinwerfer zum Vorschein. Das Logo von Sun Enterprises, ein gelber Halbkreis mit Strahlenkranz, war seitlich aufgedruckt. »Vielleicht können wir uns ja ein bisschen Licht machen.« Er trug die Scheinwerfer in die Mitte der Lichtung und fingerte an den vom Wetter mitgenommenen Schaltern herum. Nichts. »Ich schätze mal, die sind hinüber.«

Charlie setzte sich neben Rose.

»Wie lange sollen wir hierbleiben?«

»Zumindest heute Nacht. Oder? Vielleicht beobachten sie unser Haus.« Charlie trat eine Bierflasche weg. Sie prallte gegen einen Stein und rollte dann harmlos in die Feuergrube. »Gott, ich bin ja so blöd. Warum hab ich mein Fahrrad nicht versteckt?«

»Du bist nicht blöd.«

Rose dachte, ein Kuss auf die Wange würde ihn womöglich ein wenig entspannen, aber Charlie wich aus.

»Sorry«, sagte er, als sich ihre Blicke trafen. »In Gegenwart von Mädchen bin ich ein ziemliches Nervenbündel.«

»Ich bin kein richtiges Mädchen.«

Charlie grinste breit. »Stimmt ja, das vergesse ich immer wieder.«

Sie nahm seine Hand, die schlaff und kalt war. Ihm war unbehaglich, aber Rose kümmerte sich nicht darum. Sie fror und hatte Angst, und Charlie gab ihr ein Gefühl der Sicherheit. Wie … Dunkelheit, dachte Rose. In der man sich verstecken kann.

»Ich weiß, du hast keine … du kennst dich nicht damit aus«, sagte er, »wie es zwischen Jungs und Mädels meistens läuft. Aber du solltest dir darüber im Klaren sein, dass Mädchen Typen wie mich normalerweise nicht mögen. Genau gesagt, tun sie es nie.«

»Ach? Wieso denn nicht?«

Charlie zuckte mit den Achseln. »Ich tauche nicht auf ihrem Radarschirm auf. Ich … ich weiß einfach nicht, wie. Wie man sich in Gegenwart anderer Leute verhält.«

»Wieso nicht?«

»Wieso nicht? Na, ist doch klar.«

»Mir nicht.«

Charlie erwiderte ihren forschenden Blick. Seine Miene war grimmig. »Weil Typen, die es wissen, sich wie Idioten benehmen.«

»Aha.«

»Die versuchen immer, cool oder witzig rüberzukommen. Sie sagen und tun absolut nichts Echtes. Nichts Ehrliches. Und so will ich nicht sein.«

»Wie willst du denn sein?«, fragte Rose leise. Charlie redete sich vor ihren Augen in Rage, etwas Heißes, Beißendes brodelte in ihm.

»Ich weiß es nicht! Einfach nur … ich eben! Aber Mädchen interessiert das nicht. Die wollen bloß Spaß haben und sich blenden lassen. Versuch doch mal, mit ihnen zu reden, dann gucken sie dich an, als hättest du sie nicht mehr alle!« Er stand da und stopfte sich die Hände in die Taschen. »Es ist bescheuert.«

»Die Mädchen?«, flüsterte sie.

»Meistens.«

»Und die Jungs sind blöd?«

»Ja.«

»Und was ist mit dir?«

»Ich bin …« Charlie schrie es förmlich in den Himmel. »Ich bin … anders!«

»Besonders?«

»Ja.«

»Also besser.«

»Ja!«

Seine Antwort klatschte gegen die Betonwände und kam zu ihm zurück – ein kaltes, flaches Echo.

»Ich meine …«, sagte er und seine Stimme klang jetzt etwas sanfter. »Nicht besser, nur …«

»Lieber Himmel, Charlie. Ich wundere mich, dass du nicht mehr Freunde hast.«

Er schaute sie scharf an, hob und senkte die Schultern, bis zuletzt ein Lächeln die verkrustete Oberfläche durchbrach.

»Das sollte Sarkasmus sein«, sagte Rose. »Habe ich das richtig gemacht?«

»Ja.«

Charlie setzte sich wieder. Rose verschränkte ihre Finger mit seinen. Charlie änderte sich nicht. Charlie war Charlie, egal, was passierte. Und das gefiel Rose.

»Auf meinem Radarschirm tauchst du auf.«

Er lachte. Der grollende Klang gefiel Rose.

Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012