4. Rose

David wartete am Scheitelpunkt der hufeisenförmigen Auffahrt. Er fror, selbst in seiner Lederjacke. Seine Handschuhe lagen drinnen auf dem Dielentisch. Aber der Wagen würde jeden Augenblick kommen, und so lange konnte er die Hände in die Hosentaschen stecken.

Nur hätte er gern geraucht. Rauchen würde ihn beruhigen.

Er hörte ein Summen, das Eingangstor öffnete sich, und ein unbeschrifteter Lieferwagen rollte in die Einfahrt; die Bäume und Büsche spiegelten sich in seiner tiefschwarzen Oberfläche. Der Fahrer, ein schlanker Mann mit Brille und schütterem weißem Haar, stieg aus.

»David Sun?«

»Ja.«

»Coleo Foridae. Sakora Solutions.«

»Ah ja, richtig.« Davids Blick wanderte zum rückwärtigen Teil des Lieferwagens. »Ist sie dadrin?«

»Kann ich bitte einen Ausweis sehen?«

David händigte seine Brieftasche aus. Eine Seitentür öffnete sich, und zwei Techniker im grauen Overall stiegen aus. Auf die Schultern ihrer Uniform waren pinkfarbene blütenförmige Abzeichen genäht. Einer der Techniker öffnete die Hecktüren. Gemeinsam zogen sie ein glänzend poliertes, rautenförmiges Gehäuse heraus und stellten es aufrecht in die Auffahrt, sodass es schimmerte wie eine Rakete. Oder ein Ei. Auf Augenhöhe war es mit einer pinkfarbenen Blüte geschmückt, dem Sakora-Logo.

Der Fahrer reichte David ein Gerät zur digitalen Unterschrift. David signierte, und das Gerät piepste.

»Und jetzt?«, fragte er und musterte dabei das makellose Gehäuse.

Die Techniker stiegen wieder in den Lieferwagen, und der Fahrer setzte sich hinters Lenkrad. »Jetzt wird sie wach. Viel Spaß, Junge.« Der Wagen rumpelte die Einfahrt zurück.

Das Sakora-Logo hob sich wie ein Knopf von der Oberfläche des Gehäuses ab. David drückte darauf. Drinnen zischte etwas, die Wände des Gehäuses begannen wegzugleiten. Aus dem Inneren stieg Dampf auf, ein Mechanismus rotierte und surrte, und die Wände klappten auseinander, sodass das Ei jetzt zu einer üppigen pinkfarbenen Blüte wurde. Der Nebeldampf lichtete sich, und da stand sie, mit geöffneten Augen.

So wurde Rose geboren.

Als sie beide fünf Jahre alt waren, fragten Charlie und David ihre Mütter, woher die Babys kommen. Charlies Mutter versank in einem Sessel, setzte Charlie auf ihren Schoß und deutete auf die Bilder in einem Buch, von dem Charlie immer geglaubt hatte, es handele von Meerestieren. Sie half ihm, den wissenschaftlichen Bezeichnungen auf den Grund zu gehen.

Davids Mutter hatte eine eigenwilligere Antwort.

»Wenn zwei Menschen sich lieb haben, dann springt eine kleine blaue Fee vom Papa zur Mama und verbindet sie miteinander, wie mit einem Band aus Licht. Und manchmal lässt die Fee ein Baby im Bauch der Mama zurück.«

Würden die Feen noch mal Babys im Bauch seiner Mama lassen?, wollte David wissen.

»Nein, Davie.«

Warum nicht?

»Weil Papas Feen faul sind.«

Sie war unglaublich, unsagbar geil.

David hatte sich Sakoras Online-Persönlichkeitstest unterzogen – Lieblingsfilm, peinlichstes Erlebnis, selbst wirklich Persönliches wie etwa: »Wie oft masturbieren Sie täglich (Durchschnittswert)?« Aber es gab keine Frage: »Bevorzugen Sie Rothaarige?«, oder: »Stehen Sie mehr auf Titten oder auf Hintern?«

Die Gefährtin war nicht nur schön; sie war nach seinen Maßstäben schön. Wallende rote Mähne, voller Mund, smaragdgrüne Augen und ein kleiner weicher Körper, wie es ihm gefiel. Mit seiner Clique zusammen grölte David spindeldürren Supermodels hinterher. Für sich persönlich dagegen hatte er etwas für Mädchen übrig, die überall an den richtigen Stellen Rundungen hatten. Und dieses Mädchen hatte überall an den richtigen Stellen Rundungen.

Dieses »Mädchen«. Unter seiner weichen Haut steckte ein Skelett aus Fiberglas und ein Prozessor hinter seinen Augen. Aber sie erwiderte seinen Blick, richtete ihre Augen starr auf seine, mit leicht geöffneten Lippen, als sei er das Wunder der Technik. David war sprachlos.

Leicht schwankend machte er einen Schritt vorwärts. Er fühlte sich nie unsicher in der Gegenwart von Mädchen, aber irgendwie war die Situation jetzt anders. Sag was! Davids Gehirn, mit unbekanntem Terrain konfrontiert, geriet in eine Rückkopplungsschleife und fragte sich wieder und wieder, was es tun solle. Keiner der verlässlichen Eisbrecher schien geeignet, und so nahm David Zuflucht zu einer Standardgeste, der lahmsten, die man sich vorstellen konnte: einem Händedruck.

Währenddessen gab es in Roses Gehirn keine vergleichbaren Schwierigkeiten.

Wenn Davids Denkprozess eine Wiederholungsschleife war, war der von Rose ein Pfeil. Er zeigte auf David. Der Rest der Realität, soweit er sich nicht entlang des Pfeils ansiedelte, war unwichtig.

Ein Ethernet-Link verband Rose mit einer Datenbank in der japanischen Sakora-Zentrale. Während ihre smaragdgrünen Augen über den Rasen schweiften, formierten sich die Informationen zu einer Schlange und warteten auf Einlass. Gras. Blumentopf. Treppen. Auffahrt. Baum. Jeder Konzentrationspunkt bildete den Mittelpunkt eines eigenen Netzes. Baum stellte eine Verbindung her zu Grün, Pappel, Jahreszeiten, Papier …

Dieses komplexe Gebilde, durchdrungen von Roses unbeirrbarem Pfeil, war ein technisch-semantisches Wunderwerk. Und doch waren Roses Gedanken im Alter von drei Minuten so schlicht wie Dr. Rogers roter Holzvogel, der seinen Schnabel immer und immer und immer wieder in ein Glas Wasser tauchte.

David streckte seine Hand aus. Ohne Zögern ergriff Rose sie, schüttelte sie und übermittelte dabei eine Mitteilung:

»Hallo, David. Ich heiße Rose. Es ist mir ein Vergnügen, dich kennenzulernen. Wir beginnen nun die zweite Minute unserer Freundschaft. Laut meinem Annäherungs-Timer ist ein Händedruck jetzt angemessen.«

»Oh! Äh, okay. Ich …«

»Im Laufe der Zeit, während wir uns kennenlernen, werden wir Zugang zu intimeren Ausdrucksformen bekommen.« An dieser Stelle schwenkte Rose ihre Hüfte und zwinkerte. »Und ich freue mich wirklich darauf, dich näher kennenzulernen.«

In Roses Hirn meldete das Programm *mmonroe.exe: abgeschlossen.

David zog seine Hand zurück. »Äh, gut. Willst du mit reinkommen?«

»Ja, gerne.«

»Okay. Mach dich schon mal auf den Weg, inzwischen rolle ich deine Kiste nach hinten zur Garage.«

»Okay«, sagte Rose.

David beobachtete, wie sie die Treppe hinaufstieg, und bestaunte den Anblick. Sie bewegte sich wie ein lebendiges Mädchen, kein Zweifel.

David fand sie in der Eingangshalle. Sie hatte ihr Sweatshirt abgelegt und es sich um die Taille gebunden. Zuerst schien es, als bewunderte sie die Marmorsäulen, aber nein. Sie stand einfach da und starrte.

»Hey.«

»Hallo, David. Ich freue mich, dich wiederzusehen.«

»Ja. Willst du vielleicht in mein Zimmer raufkommen oder …?«

»Hast du Hunger? Ich könnte dir ein Sandwich zubereiten. Ich bin sehr gut im Zubereiten von Sandwiches.«

»Äh, klar«, sagte David. »Da geht’s zur Küche.«

»Äh, super.«

Kurz vor Sonnenuntergang erstrahlte die Küche der Suns wie ein Spiegelsaal. Das Sonnenlicht reflektierte so stark auf dem Herd und dem riesigen Gefrierschrank, beide aus rostfreiem Edelstahl, dass David die Augen zusammenkneifen musste. Rose ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. Sie machte sich ans Werk und steuerte direkt auf das Wurstfach zu. »Also, was möchtest du? Nimmst du Salami, Schinken oder …?«

»Schinken ist gut.«

Rose warf einen Blick über ihre Schulter. »Okay, setz dich, dann serviere ich dir das Essen.«

David setzte sich an die Küchentheke und fühlte sich wie ein kleines Kind. Rose schwirrte durch die Küche und blieb nur ab und zu stehen, um zu fragen, wo was zu finden war. Sie schien bereits weniger steif, menschlicher, sie wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und leckte einen Senfklecks von ihrem Daumen. Selbst ihre Sprache veränderte sich.

»Also, erzähl mir etwas von dir.«

David legte sein Kinn auf die Arme. »Was gibt’s da groß zu erzählen? Ich denke mal, ich bin ein ganz normaler Typ.«

»Womit beschäftigst du dich gern?«

»Weiß nicht. Filme anschauen. Chillen. Der Obercoolste sein.«

Die letzte Bemerkung war ein Scherz, aber Rose lachte nicht. Sie schnitt sein Sandwich auf und schob den Teller über die Theke, wobei das Programm *tvkoechinbettycrocker.exe abgeschlossen meldete.

»Das ist interessant.« Sie stützte die verschränkten Arme auf die Resopalplatte und legte ihr Kinn darauf.

David setzte sich auf. Rose ebenfalls. Er stützte sein Kinn auf die Faust. Rose ahmte ihn nach.

Er hatte mal ein Video über Affen in freier Wildbahn gesehen. Die Forscher hatten sich wie Affen verhalten, ins Gras gehockt, in den Achselhöhlen gekratzt und Schreie ausgestoßen.

»Du bist wie eine Forscherin«, sagte David.

Sie lächelte unbeirrt weiter. »Das verstehe ich nicht.«

»Wie eine Forscherin, die Affen nachahmt, um mehr über sie herauszukriegen.«

»Ich bin wie eine Forscherin, die Affen nachahmt, um mehr über sie herauszukriegen.«

David lachte. »Na bitte. Siehst du?«

Rose blinzelte.

Im selben Moment schoss eine Anfrage, in ein Photon verpackt, ins All, wurde von einem Satelliten zurückgeworfen und drang in die Sakora-Datenbanken in Osaka ein. In der Zeit, die sie zum Blinzeln brauchte, wurde eine Antwort in Roses Kopf zurückkatapultiert.

Vergleich – zwei Dinge zueinander in Beziehung setzen, um ein besseres Verständnis zu fördern.

Rose hatte jetzt ein besseres Verständnis von David, seiner Denk- und Sprechweise. Und das machte sie froh. Und ihre Freude war … strahlend wie Sonnenlicht, das von Edelstahlschränken reflektierte.

»Das ist echt gut«, sagte David mit vollem Mund.

»Danke.«

Rose bereitete sich selbst ein Sandwich zu. Es war schwierig, sie nicht anzustarren, insbesondere wenn sie sich zu einem niedrigen Schrankfach bückte. Anfangs sah David jedes Mal weg, wenn sie ihn ertappte, aber zuletzt glotzte er ungehemmt. Sie schien es so zu wollen. Und immerhin gehörte sie ihm.

»Du bist geschickt mit den Händen. Zumindest in der Küche.«

»Danke.«

David versuchte es auf einem direkteren Weg. »Und alles andere an dir ist auch nicht übel.«

Sie warf ihm unter ihrem Pony einen Blick zu und errötete.

»Oh. Also, ich finde dich … obercool.«

David lachte wieder. Er konnte nicht anders. Dies war vermutlich der lahmste Flirt in der Geschichte der Menschheit. Aber es gefiel ihm. Sie gefiel ihm. Sie schien … ehrlich.

Später, als Rose das Geschirr abspülte, schlängelte sich David an sie heran, wobei er sich fragte, ob ihr Atem schneller wurde oder er sich das nur einbildete. Sie duftete nach Erdbeerparfüm, und ihre Haut strahlte Hitze aus. Vielleicht war das Ganze ein Scherz. Sie war keine Roboter-Freundin. Sie war eine absolut attraktive Braut, die von einer Firma bezahlt wurde, eine geile Schauspielerin in schwarzem Top und hautengen Jeans. David legte seine Hand auf ihre Schulter und spürte für einen kurzen Moment ihre weiche Wärme. Dann versetzte sie ihm einen Stromstoß von zweihundertfünfzig Volt.

Ein blauer Lichtbogen wölbte sich durch den Raum. David hörte einen Knall und spürte einen heißen Schraubstock um seinen Arm. Seine Kiefer schlugen so fest gegeneinander, dass es sich anfühlte, als splitterten seine Zähne. Der Schraubstock lockerte sich, er flog rücklings gegen die Kühlschranktür. Ein beißender Geruch hing in der Luft, und der Raum schien zu verschwimmen, sei es durch den Qualm oder durch Davids Schielen.

Er starrte auf seine Hand. Es war kein Blut zu sehen, aber die Haut war flammend rot. Rose stand vornübergebeugt und hielt sich den Bauch, aber ihre Augen waren auf David gerichtet.

»Mann, was soll der Scheiß?«

»Ich bitte um Entschuldigung!«

»Himmelherrgott!« David schüttelte seine Hand. »Was, verdammt noch mal, war denn das?«

»Es tut mir so leid. Mein Annäherungs-Timer hat ein Sicherungssystem. Es war ein Fehler, dir das nicht eher zu sagen.«

Sie machte einen Schritt auf ihn zu, aber er wich hinter die Theke zurück.

»Was bist du eigentlich, ein bescheuerter Datenspeicher oder was?«

»Das ist nur vorübergehend. Es gibt einen Countdown. Nach zwei Minuten kannst du mir die Hand schütteln. Nach ein wenig mehr Zeit können wir uns küssen.«

Sie streckte die Hände nach ihm aus, aber David bewegte sich zum Spülbecken und machte dabei einen großen Bogen um sie. »Schätzchen, wenn du glaubst, ich würde mit meinen Lippen auch nur irgendwo in deine Nähe kommen, dann hast du sie nicht alle.«

Sie ließ ihre Arme sinken und wirkte – sofern das möglich war – betroffen.

David hielt seine Hand unter kaltes Wasser. Rose stand ein Stück entfernt, mit verschränkten Armen. »Es ist auch für mich schmerzhaft«, sagte sie leise.

»Was?«

»Der Schlag. Meine Schmerzrezeptoren spüren es, genau wie deine. Mir gefällt deine Berührung, aber …« In ihren Augen glänzten … Tränen? »Es ist nicht erlaubt.«

»Wer sagt dir, dass es nicht erlaubt ist?« Der Krampf in Davids Armmuskeln begann sich zu lösen.

Rose blinzelte, zwei Tränen glitten ihr über die Wangen. »Ich habe es nicht geschafft, dir zu gefallen.«

»Schon gut, schon gut. Du kannst das Wasserwerk abstellen.«

»Das kann ich nicht. Die Tränen kommen unbeabsichtigt.«

Bei diesen Worten schmolz etwas in ihm dahin. Er seufzte und lächelte schwach. »Und dabei war es nur deine Schulter. Stell dir vor, ich würde deine Titten begrapschen.«

Sie lächelte über ihre Tränen hinweg. »Du machst Scherze.«

»Du hast also einen Sinn für Humor«, sagte er. »Alles in Ordnung bei dir?«

Sie nickte. »Ich spüre ein Gefühl der Verwirrung.«

»Ich auch.«

Sie wischte sich eine Träne ab.

»Möchtest du ins Kino gehen?«

»Ja.«

»Kann ich deine Hand nehmen?«

»Ja.«

David schob seine brennenden Finger zwischen ihre und drückte.

Roses Ei enthielt einen großen schwarzen Koffer – ihr Gepäck. David fand eine Eigentumsbescheinigung darin (er würde sich einen Rahmen besorgen müssen), eine Jeans, grüne Sneakers, schwarze Pumps, eine Jogginghose, drei Designer-T-Shirts, einen Tweedrock, Strümpfe, ein schwarzes Cocktailkleid (er konnte es kaum erwarten, sie in diesem Outfit zu sehen), karierte Boxershorts und ein langes Baumwoll-T-Shirt zum Schlafen (ja, auch das), Socken mit aufgedruckten Kirschblüten, ein Beauty-Kit mit zwanzig Gelpackungen, auf deren Etikett »Waschungen« stand, Schmuck, Make-up und eine blaue Plastiktüte mit Unterwäsche.

Es war auch eine DVD dabei, die Mr Sun auf dem Media-Center im Familienzimmer abspielte. Die Familie war im Kreis versammelt, die Eltern in den Sesseln, David und Rose auf dem Zweisitzersofa. Das Sakora-Logo erschien auf dem Bildschirm. Musik setzte ein und wurde lauter.

»Willkommen bei Sakora«, sagte eine weibliche Stimme. »Lösungen fürs Leben.«

Der Bildschirm verblasste und blendete über zu einem leeren Klassenraum. Eine Frau mit kastanienbraunem, ins Graue spielendem Haar und Bleistiftrock stand lächelnd an ein Lehrerpult gelehnt.

»Hallo und willkommen bei der Sakora Solutions Einführungspräsentation zum Gefährtinnen-Programm! Ich bin Dr. Paula Love, leitende Verhaltensspezialistin hier bei Sakora Solutions und Ihre Führerin durch diesen Kurs. In den kommenden sechzig Minuten …«

»Müssen wir uns das ganz anschauen?«, fragte David.

Mrs Sun brachte ihn zum Schweigen.

Dr. Love deutete auf die Schultafel, auf der drei Worte geschrieben standen. »Wussten Sie, dass mehr als vierzig Prozent aller Jugendlichen chronisch unter Gefühlsverarmung … generellem Unwohlsein … Niedergeschlagenheit leiden?«

»Nein, das wusste ich nicht«, murmelte David.

»In unserem digitalen Zeitalter werden zwischenmenschliche Beziehungen zunehmend durch elektronische Unterhaltungsangebote verdrängt.«

Ein junger Mann in Davids Alter rannte vor einem grünen Bildschirm entlang und tat so, als duckte er sich unter den Bildern von Computermonitoren, Handys und PC-Spielesystemen, die auf seinen Kopf herabprasselten.

»Ich fühle mich so gefühllos!«, rief der Junge. »Gefüüüühllos!«

Die Musik schaltete um von bedrohlich auf hoffnungsvoll. Dr. Love, jetzt in einem legeren Sommerkleid, spazierte durch einen sonnigen Park.

»Studien belegen, dass junge Männer zwischen dreizehn und siebzehn besonders gefährdet sind. Die Zahl der Fälle von allgemeiner Antriebslosigkeit, seelischer Abstumpfung, sogar Selbstmord ist im Steigen begriffen. Und genau aus diesem Grund gibt es das Gefährtinnen-Programm von Sakora Solutions.«

Über Dr. Loves Schulter hinweg waren ein Junge und ein Mädchen zu sehen, die Hand in Hand gingen.

»Indem die Gefährtin die Funktionen von Bestrafung und Belohnung nutzt, unterbindet sie gestörte soziale Verhaltensweisen und fördert gesunde menschliche Interaktion.« Der Junge klatschte anzüglich grinsend auf den Hintern des Mädchens. Ein Funke (in der Post-Production hinzugefügt) sprang auf seine Hand über. Der Junge zog sich schmollend zurück.

»Das hab ich anders in Erinnerung«, murmelte David.

Dr. Love sprach weiter. »Der Annäherungs-Timer der Gefährtin misst den Grad der zwischenmenschlichen Beziehung über die Zeit …«

Mr Sun sah auf die Uhr. »Vielleicht können wir einen Teil überspringen.« Er drückte auf die Vorwärts-Taste. Dr. Love (im Hosenanzug) spazierte durch die Säle einer riesigen Bibliothek.

»Puh, diese Kleidung«, sagte Mrs Sun.

»Deine Gefährtin hat Zugriff auf fast eine Million Schriftzeichen und enzyklopädische Einträge, einschließlich einer gigantischen Datenbank mit Stichworten zu nonverbaler Gesichts- und Körpersprache. Aber sie muss noch immer eine Menge lernen!« Dr. Love lächelte steif. »Da sich unsere Welt ständig verändert, sind Gefährtinnen nicht mit Umgangssprache, Fachsprache oder technischen Begriffen programmiert. Doch dank Sakoras ABC-Protokoll wird die Gefährtin neue Wörter und Sätze schnell aufnehmen und in ihren Wortschatz einfügen.«

»So was wie ›geil‹ und ›abgefahren‹?«, sagte David.

Rose blinzelte. »Abgefahren?«

»Musst du nicht unbedingt sagen«, sagte David.

Ein Mann im weißen Laborkittel gesellte sich zu der Ärztin. Die Bildunterschrift lautete Dr. Samuel Froy, leitender Entwicklungsingenieur.

»Ah, hallo, Sam. Wollen Sie den Leuten zu Hause nicht ein bisschen darüber erzählen, wie das Gehirn einer Gefährtin funktioniert?«

»Sehr gerne, Paula.« Dr. Froy hatte einen starken fremdländischen Akzent, deshalb klang es wie: »Säähr gährne, Paula.«

»Das Gehirn einer Gefährtin besteht aus zwei Teilen – einem Gefühlskern, in dem ihr Verlangen nach Ihnen angesiedelt ist, und einem strikten Moralkodex, der dieses Verlangen kontrolliert. Ebenso wie unsere Informations-Datenbank ist dieser Moralkodex über einen Ethernet-Link verbunden mit …«

»Die öden mich an mit diesem technischen Kram«, sagte Mrs Sun und las die Rückseite der DVD-Hülle. »Gibt es einen Teil mit Special Features?«

»Warte mal, er sagt gerade was Wichtiges«, sagte Mr Sun.

»Es handelt sich hier um ein empfindliches Gleichgewicht«, sagte Dr. Froy soeben, »zwischen Impuls und Kontrolle. Aus diesem Grund darf Ihre Gefährtin nie einen mit Blei ausgekleideten Raum betreten oder vollständig ins Wasser getaucht werden. Wenn man das tut, unterbricht man den Link, was zur Folge haben wird, dass die Einheit … außer Betrieb gesetzt wird.«

Zur Veranschaulichung kehrte der Film zu dem Mädchen im Park zurück, das in einer erstaunlich realistischen Animation in einem Feuerball explodierte.

»Ach, du meine Güte«, sagte Mrs Sun.

Rose blinzelte.

Als die DVD zu Ende war, zogen sich Mr und Mrs Sun ins Speisezimmer zurück, um die Mahlzeit zu sich zu nehmen, die Lupe zubereitet hatte. David stand in der Küche und wärmte eine Pizza in der Mikrowelle auf. Rose war allein in der Diele. Mit David Pizza zu essen bedeutete, dass sie zuerst ihr Mittagessen verarbeiten musste, und dazu musste sie ungestört sein. Ihr Körper hatte das Essen auf Dämpfe reduziert, die entweichen mussten. Rose gab einen Rülpser von sich.

Sie sah Mr und Mrs Sun durch die Glastüren, die das Speisezimmer von der Eingangshalle trennten. Kerzenlicht schimmerte auf ihren beiden Weingläsern.

Im Familienzimmer sah David fern und bugsierte dabei ein Stück Pizza in Richtung Mund.

»Mögen mich deine Eltern?«, fragte Rose.

»Weiß ich nicht.«

»Würdest du es denn gern wollen?«

»Ist mir eigentlich egal.«

»Mir auch.«

Sie setzte sich und lehnte sich zurück, wobei sie darauf achtete, Davids Schulter nicht zu berühren. Auf dem Bildschirm explodierte ein Hubschrauber.

»Hör mal, du musst mir nicht immer alles nachmachen.«

»Wie meinst du das?«

»Ich meine, du musst nicht immer nur das denken, was ich denke.«

»Willst du denn nicht, dass ich mit dir einer Meinung bin?«

»Na ja, schon, aber …« Er runzelte die Stirn und überlegte. »Schau, du willst doch, dass ich dich mag, stimmt’s?«

Rose hüpfte von ihrem Kissen hoch. »Oh ja! Mehr als alles andere.«

»Okay. Dann möchte ich, dass du dich normal benimmst. Und normale Leute denken ihre eigenen Gedanken. Sie sind einfach nicht ständig einer Meinung.«

Rose nickte. »Was meinst du, wie oft soll ich anderer Meinung sein als du?«

David ließ einen langen, langsamen Atemzug entweichen. »Okay, stell dir das folgendermaßen vor.« Er nahm eine Handvoll Fruchtgummis aus der Schale auf dem Tisch. Einige waren sauer, und einige waren süß. »Probier von jeder Sorte einen.«

Rose steckte erst den einen, dann den anderen in den Mund.

»So. Welcher schmeckt besser?«

»Ich weiß nicht.«

»Also, ich mag die süßen lieber.«

»Süßer ist besser.«

»Sagst du das bloß, weil ich es gesagt habe?«

»Ja.«

David seufzte.

»Gut, ich habe gerade beschlossen, dass ich die sauren lieber mag. Jetzt sind wir also verschiedener Meinung.«

»In Ordnung«, sagte Rose. »Sauer ist besser.«

David raufte sich die Haare. »Himmelherrgott!«

»Tut mir leid! Ich versuche es noch mal.« Sie suchte sich einen sauren Gummi heraus. Er schmeckte unangenehm. Meinungsverschiedenheiten waren unangenehm. David gefielen Meinungsverschiedenheiten. Folglich … »Ich habe mich entschieden, dass ich sauer wirklich lieber mag.«

»Tatsächlich?«

»Ja.«

David grinste. »Stark. Siehst du? Du magst sauer lieber, und ich ziehe süß vor. Das sind gegensätzliche Meinungen.«

»Und so willst du es haben?«

»Ja.«

»Gut.«

Sie hielt David die Schale hin. Er nahm eine Handvoll Fruchtgummis und steckte sie sich in den Mund. »Ich mag dich.«

»Ich mag dich auch.« Sie setzte sich so, dass ihre Schultern sich berührten. »Du kannst jetzt deinen Arm um mich legen, wenn du willst.«

»Bist du dir sicher?«

»Ich bin mir sicher.«

Er schlang einen Arm um ihre Schulter, und Rose schmiegte sich an seine Körperkonturen, die Schale geschickt auf den Knien balancierend.

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