12. Die Vergnügungsinsel

David und Clay saßen auf den Stufen des Pfingstrosenpavillons und tranken Whiskey aus einer Flasche. Drinnen dröhnte Tanzmusik. Clubbesucher gingen ins Haus und kamen wieder heraus, um zu rauchen. Jedes Mal, wenn sich die Tür öffnete, bekam David flüchtig die Tanzenden drinnen zu sehen, die sich unter den bunten Diskolichtern bewegten.

Er hatte den ganzen Abend mit Mädchen getanzt, und ihm taten die Füße weh. Keine von ihnen wollte knutschen, und als er versucht hatte, sich beim Tanzen an ihnen zu reiben, hatten sie ihn weggeschubst. Er versuchte es zu krampfhaft, mit Gewalt. Es wirkte hoffnungslos. Jetzt war es spät, und der Whiskey war fast alle. Clay steckte die Flasche in seine Jacke und rülpste. »Ich mach mich vom Acker. Läuft sowieso nichts heute Abend.«

David nickte.

Clay boxte ihn gegen die Schulter. »Du kommst klar, D?«

Wieder Nicken. Dann ein Achselzucken. »Ja, Mann. Passt schon.«

David saß noch lange auf der Treppe und wurde langsam wieder nüchtern. Ein Auto blendete ihn, als es auf den Parkplatz einbog und ihm mit seinen hochgestellten Scheinwerfern in die Augen leuchtete. Als er wieder sehen konnte, bemerkte er, dass ein ihm bekannter Mantel mit Hahnentrittmuster samt blondem Haarschopf das Pflaster überquerte. Sie hatte sich bei einem großen Typen mit Baseballjacke eingehängt – er sah älter aus, war vielleicht auf dem College. David schaute weg. Wenn er aufstand, würde sie ihn sehen. Er rutschte möglichst tief und wünschte sich, unsichtbar zu sein. Dann, gerade als er aufblickte, um zu klären, ob die beiden weg waren, stellte er fest, dass sie zu ihm herüberkam, mit ihren affektierten kleinen Schritten und den klappernden Absätzen.

»Hey«, sagte sie.

»Hey, Willow.«

»Was für ein Zufall, dich hier zu treffen.« Sie sah sich um. »Wo sind Clay und Artie?«

»Nicht hier«, sagte er. »Wer ist das?« Er deutete mit dem Kopf zu dem Typen in der Baseballjacke hinüber, der gerade seine Mailbox abhörte.

»Das ist Mike«, sagte sie und verschränkte die Arme. »Er geht aufs Clark College.«

»Dein Freund?«

»Mehr oder weniger.«

»Hat er was dagegen, wenn ich mit dir rede?«

Sie lächelte. »Wir sind nicht so. Wir haben eine offene Beziehung. Wir sind eigenständig.«

David nickte. »Ah. Cool.« Das war das Coolste, was ihm je untergekommen war. Ihr Altersunterschied hatte ihm nie etwas ausgemacht, aber jetzt wirkte Willow viel älter und reifer. Irgendwie war sie erwachsen geworden, seit sie sich getrennt hatten, und er war eigentlich ein Kind geblieben. Es war nicht fair, aber er kriegte trotzdem einen Ständer davon.

»Was hast du gerade vor?«, fragte sie.

»Wer weiß. Die Nacht ist noch jung.« Eigentlich war er müde, aber das konnte er nicht sagen. Nur Highschool-Kids gingen um Mitternacht.

»Sollen wir zusammen abhängen?«

»Mit ihm?« David deutete auf Mike.

»Nein, nur wir beide.«

Er zuckte die Achseln. »Ja, klar. Von mir aus.«

Willow klackerte mit wippender Mähne zu Mike zurück. Mike warf einen Blick zu David herüber und grinste. Davids Wangen wurden heiß. Was sagte sie zu ihm? Ach, Süßer, mach dir seinetwegen keine Gedanken. Wir waren mal zusammen, aber er ist noch ein halbes Kind. Als sie zurückkam, strahlte sie über das ganze Gesicht.

»Bist du mit dem Caddy da?«

»Logisch.«

»Gut.« Sie fasste ihn am Arm und drückte ihn. »Fahr mich spazieren. Danach können wir zu mir.«

Zu ihr. Sie meinte natürlich das Haus ihrer Eltern, aber wie Willow das sagte, klang es erwachsener.

Auf der Schnellstraße flog David förmlich dahin. Warum nicht? Sie waren zusammen gewesen, Willow und David, so war es, und so hätte es bleiben sollen. Die beiden bestaussehenden Leute in der Stadt – es war ganz natürlich. Wie oft hatten sie das im vergangenen Jahr gemacht? Einfach nur herumzischen, die Kurven mit 140 Sachen nehmen, die Lichter von Worcester vorbeirasen lassen? Sie steuerten nach Osten Richtung Marlborough, wendeten dann und fuhren zurück. Willow war gesprächig. Sie erzählte vom Schultheaterstück (mit einer Kostprobe ihres Cockney-Akzents), von ihren Plänen fürs College (sie würde Mike nach Clark folgen), davon, dass ihr Vater ihr einen neuen roten Ford Taurus kaufen wollte anstelle des alten weißen. Es war so leicht, ihr einfach nur zuzuhören. Das war Kommunikation. Das war Kontakt.

»Willst du reinkommen?«, fragte sie, als er bei ihr zu Hause vorfuhr.

»Klar.«

Sie nahmen die rückwärtige Tür, sorgfältig darauf bedacht, keinen Lärm zu machen – die Watts hatten einen notorisch leichten Schlaf. Als sie die Treppe hinaufstiegen, bereitete David seine Nummer vor, mit der er bei Willow zu landen plante. Wahrscheinlich würden sie eine Weile quatschen, sich dann so langsam an frühere Zeiten erinnern, und er würde sagen, dass er nie wieder ein so heißes Girl wie sie gefunden hatte, und sie würde sagen, dass es ihr mit ihm genauso ging. Und dann würde er vielleicht seinen Arm um sie legen und sich zu einem Kuss vorbeugen …

Vor lauter Konzentration auf seine Pläne begriff er fast nicht, dass sie sich bereits küssten. Willow drängte ihn ungestüm gegen die Wand, zerrte ihn dann in ihr Zimmer und schloss die Tür ab.

»Mmmm.« Sie stöhnte in seinen Mund.

Kein Gerede, keine Mühe. Einfach zack. Bald lagen sie auf dem Bett. Es war schwierig, ihren BH im Dunkeln zu öffnen, und sie musste ihm sagen, dass der Verschluss vorne war, nicht auf dem Rücken. Dann aber lag er auf ihr, und es sah so aus, als könnte dies die Nacht der Nächte werden.

»Du musst ein Kondom benutzen«, flüsterte sie.

»Okay.«

»Hast du eins dabei?«

»Uh, nein.«

»Warte.«

Die Bettfedern quietschten, als sie sich nach dem kleinen Nachttisch reckte. Im Lichtspalt, der vom Badezimmer hereinfiel, konnte er erkennen, dass sie die Schublade öffnete und ein plastikumhülltes, rechteckiges Ding herausnahm.

»Weißt du, wie man das überzieht?«

»Ja, weiß ich. Klar!«

David riss die Plastikverpackung auf (er brauchte drei Versuche – Shit, waren diese Teile schwer aufzukriegen) und warf sie zur Seite. Er rollte das Kondom auf und fasste es an der Spitze, so wie man es ihnen in Sexualkunde beigebracht hatte.

»Nicht da. Nicht da!«

»Schon gut, ist in Ordnung. Nicht so laut. Du … kannst es mir ja zeigen.«

Jetzt also, dachte David. Er verspürte eine diffuse Wärme, Anspannung. Nichts Besonderes. Nichts Atemberaubendes. Er begann seine Hüften zu bewegen. Willow bewegte sich mit ihm, mit leisen, gurrenden Lauten. Mussten sie das Licht aus lassen? Es war schwierig, einen Orgasmus zu bekommen, wenn man nichts zum Anschauen hatte. Er stellte sich ihr Gesicht vor, ihren nackten Körper. Dann stellte er sich andere Körper vor, die andere interessantere Dinge machten. Sein Kopf spulte eine eigene Filmhandlung ab, bis er meilenweit vom Bett entfernt war. Erst dann fing er an, Spaß zu haben.

Als es vorbei war, verschwand sie im Bad. Er erhaschte einen kurzen Blick auf sie im Spiegel, bevor sie die Tür schloss. Einen Moment später hörte er die Dusche laufen. Er zog sich die Decke bis unters Kinn. Das Zimmer roch nach Obst und Zigaretten und nach Schweiß. Er fror.

Als die Badezimmertür aufging, machte sein Herz einen Satz. Wahrscheinlich wollte sie noch kuscheln, und der Gedanke an ihren warmen Körper und dass er vielleicht ihren Herzschlag nah bei seinem spüren würde, wärmte ihn.

»In Ordnung. Du musst jetzt gehen«, sagte sie. Sie stand, in ein Handtuch gehüllt, in der Tür.

»Was? Warum?«

»Morgen ist ein Schultag.«

»Willst du nicht kuscheln?«

»Wieso, du denn?«

»Nein. Ist für mich total in Ordnung.«

Er setzte seine Füße auf den Boden und begann nach seiner Unterhose zu suchen. Ihm wurde bewusst, dass er immer noch das Kondom übergezogen hatte.

»Was soll ich damit machen?«

Sie rümpfte die Nase. »Igitt. Ist mir egal. Nur komm nicht in meine Nähe damit.«

David wickelte das Kondom in ein Papiertaschentuch und steckte es in seine Tasche. Im Wagen drehte er die Stereoanlage voll auf. Sollten die Nachbarn doch davon wach werden. Ihm egal. Zu Hause spülte er den Papierbatzen in der Toilette runter. Und wenn der an die Oberfläche zurücktrieb und das Hausmädchen ihn fand? Oder seine Mutter? War das möglich? Witzig, darüber hatten sie in Sexualkunde nie etwas gesagt.

Er ging ins Bett. Es war ein gutes Gefühl, unter seiner eigenen Decke, in seiner eigenen, vertrauten Dunkelheit zu liegen. Er hatte Sex gehabt. Endlich. Und das Monate vor seinem siebzehnten Geburtstag. Nicht schlecht. Und es war große klasse gewesen! Er malte sich alles noch einmal aus: Willows sich windender Körper, ihr lustvolles Stöhnen, wie er sich selbst im Nachglühen aalte, während sie duschte. Er fand es besser, wieder in seinem eigenen Bett zu liegen. Der heimkehrende Champion, der sieghafte Held. Er fühlte sich wie ein Mann. Allein. Supergut.

David drehte sich auf die Seite und wartete auf den Schlaf. Als er schließlich kam, träumte er von einem warmen Körper, zwei Herzen, die im Einklang schlugen. Dann klingelte der Wecker, und es war Zeit für die Schule.

Sie hatten sich neben der erkalteten Feuerstelle zusammengerollt. Roses innerer Ofen verbrannte das überschüssige Adrenalin vom Vortag, und als Charlie am nächsten Morgen erwachte, war alles außer ihnen beiden mit Raureif bedeckt. Eine feuchte Haarsträhne klebte an Roses Hals.

Langsam stand Charlie auf. Das Schlafen auf dem Erdboden hatte seinem Rücken übel mitgespielt. Schmutz und Kiefernnadeln hingen in seinen Haaren, im Gesicht, in den Kleidern. Dem Sonnenstand nach zu schließen war es noch früh am Morgen, aber er würde trotzdem wie ein Verrückter rennen müssen, um rechtzeitig in der Schule zu sein.

»Rose«, flüsterte er. Sie schlug die Augen auf. Da war kein verschlafenes Blinzeln. Einfach zack, und sie war wach, als hätte man einen Schalter betätigt.

»Ja?«

»Ich muss zur Schule.«

»Okay.«

»Bleib hier, ich bin dann in ein paar Stunden zurück.«

»Okay.«

Ein Lächeln glitt über ihre Lippen, und ihre Augen klappten wieder zu.

Charlie rannte nach Hause. Er fühlte sich leicht, beweglich. Er sprang über Steine, hüpfte über Wurzeln. Hätte er sich doch nur jemals auf dem Basketballplatz so gefühlt. Er erreichte die Hauptstraße und folgte ihr südwärts bis zu seiner Einfahrt. Eilig stieg er zum Seeufer hinab und steuerte auf die Rückseite des Hauses zu.

Thaddeus schlief auf dem Sofa. Im Geiste bedankte sich Charlie bei seinem Vater. Ohne Fragen zu stellen, hatte er ihnen Zeit und einen Fluchtweg erkauft. Er verdiente es, alles zu erfahren. Aber noch nicht jetzt.

Charlie holte sich ein paar saubere Klamotten und seinen Rucksack und kritzelte eine rasche Nachricht auf das Whiteboard, in der er zu erklären versprach, wo sie gewesen waren. Sein Fahrrad lag noch da, wo er es in der Auffahrt zurückgelassen hatte. Thaddeus würde ihm wahrscheinlich mit der alten Leier kommen, dass er es über Nacht nicht draußen lassen sollte.

Während er in Richtung Saint Sebastian radelte, fiel Charlie etwas ein. Würde Sakora seine Gorillas in die Schule schicken? Würden sie auf die Idee kommen, dort nach ihm zu suchen? Die Sonne schien, endlich rissen die Wolken auf. Sakora hin oder her – egal, was noch passierte, er würde es schon geregelt kriegen.

Unzusammenhängendes Datenmaterial, freigegeben durch die zusammengebrochene Satellitenverbindung, schwirrte in Roses Kopf umher, ordnete sich neu, suchte nach einem festen Ort. In menschlichen Kategorien gesprochen, hatte sie einen Albtraum.

Sie lag in einem ungeheuer großen Raum. Sie konnte sich nicht bewegen, ihre Arme und Beine fühlten sich steif an, abgestorben. Rings um sich herum sah sie Körper. Hunderte. Reihe um Reihe füllte den riesigen Raum. Männer in langen weißen Mänteln schritten auf und ab und machten Notizen. Einer von ihnen blieb neben Rose stehen, der Mann mit dem schütteren Haar, aber jetzt hatte er Fühler vorgestreckt wie ein hungriger Falter. In seinen Augen lag keine Wärme, nur teilnahmslose Beobachtung. Er griff mit einer Hand nach unten. Als sie wieder auftauchte, hielt sie etwas fest – Roses Herz. Es war ein Knoten aus sich kreuzenden Speichen, die sich langsam drehten.

Rose schaute nach unten. Ihre Brust stand offen. Drinnen blinkende rote Lichter, verkrümmte Haare und ein Loch, wo ihr Herz gewesen war. Sie konnte nicht schreien.

Schadstelle geortet.

Ausrichtung wird neu initialisiert …

Bitte warten.

30 % … 50 % … 85 %

Ausrichtung beendet.

David.

Rose setzte sich auf und griff sich an die Brust. Sie war im Wald. Die Sonne schien. Charlie … er war zur Schule gegangen. Aber etwas stimmte nicht.

David. Der Schmerz bohrte sich ihr ins Herz. Er hallte in jeder Synapse, jedem Netzknoten ihres Körpers wider. Von ihm getrennt zu sein – das war nicht nur eine Qual; es war eine Fehlfunktion, eine Sünde, eine Tragödie. Ihre Million von Was-wäre-wenns waren ausradiert.

»Nein«, sagte Rose, ihre Stimme klang erstickt und dünn. »Nein, ich will ihn nicht mehr brauchen wollen. Bitte!«

Sie lauschte, halb in der Erwartung, die innere Stimme wieder zu hören. Aber da war nichts. Nichts als ihre eigenen Gefühle.

Explosionen. Licht. Rose hätte sich gern die Haare ausgerissen und ihren Körper gegen die Steine geschmettert. Auch wenn sie allein war, sie war in sich gespalten. Wie oft konnte es einem den Verstand zerreißen, bevor er sich vollständig auflöste? Rose schloss die Augen und atmete. Bitte, dachte sie. Bitte, lass das weggehen.

Im Wald bewegte sich etwas.

Roses Sinne schalteten schlagartig auf höchste Alarmbereitschaft. Wieder ertönte das Geräusch. Blätter, die rhythmisch raschelten – Schritte. Ein großer Ast lag in der Ecke. Rose packte ihn und spürte sein stabiles Gewicht in ihren Händen. »Komm ja nicht näher!«

Jemand tauchte auf der obersten Stufe auf. Ein Paar weiße Sneakers mit herabhängenden Schnürsenkeln. Dunkle Haare wehten im Wind.

»Oh«, sagte das Mädchen. »Was machst du denn hier?«

Charlie radelte neben einem fahrenden Bus her, Staub wirbelte um seine Beine auf. Jungs in flatternden grauen Jacketts steuerten wie ein Taubenschwarm auf die Statue von Saint Sebastian zu, um deren oberste Stange noch immer die rotzipfelige Krawatte geschlungen war.

Drinnen war nichts von Sakoras Gorillas zu sehen. Die oberste Fluraufsicht warf Charlie einen langen, finsteren Blick zu, als er vorbeiging, und notierte etwas auf dem Klemmbrett. Charlie senkte den Blick und lief eilig zu seinem Spind. Er holte seine Zweitgarnitur von Jackett und Krawatte heraus, die er dort aufbewahrte. Ein Abstecher in die Jungentoilette, um sein Spiegelbild zu überprüfen (Kiefernnadeln im Haar), und dann ab ins Klassenzimmer.

»Hey, pass doch auf, wo du hintrittst, du Affe.«

Charlie schaute hoch, aber niemand hatte ihn angesprochen. Stattdessen stand George Thomas über einen Jungen gebeugt, der auf dem Boden hockte. Der Junge bemühte sich, seine Mini-USB-Sticks einzusammeln, die über den Boden verstreut lagen. Einer war unter Charlies Tisch gelandet. Er gab ihn zurück und begegnete dem Blick des Opfers. Es war David Sun.

»Danke«, murmelte David.

Charlie glotzte mit offenem Mund. Dieser blasse, fertige Kerl, der da auf dem Boden herumkroch, konnte nicht David sein. Er sah aus, als hätte er kein Auge zugetan.

Es klingelte zum ersten Mal, und der zuständige Aufseher schlurfte herein, wie immer mit gelangweilter und grantiger Miene.

»Alles klar. Augen nach unten, Jungs.«

Charlie schloss PHYSIK 101 an. Sein Blick wanderte zu David, der den Kopf in die Hände gestützt hatte und total unglücklich aussah.

»Sun. Sind Sie wach?« Das Aufsichtspersonal kannte keine Gnade.

»Ja, Sir.«

David gab sein Passwort ein und schaute beharrlich zu Boden.

»Nuvola, Augen auf Ihre Arbeit.«

»Sorry.«

Doch bevor Charlie sich abwandte, sah David hoch. In seinen Augen lag nicht nur Erschöpfung, sondern noch etwas anderes. Ein tiefer sitzender Schmerz.

Nein, entschied Charlie. Man konnte nicht tun, was David getan hatte, und trotzdem betroffen sein. Man konnte nicht jemand wie ein altes Spielzeug wegwerfen, ihr das Herz aus dem Leib reißen, sie mutterseelenallein lassen und dann so tun, als würde man sie vermissen. So funktionierte das nicht.

»Was gaffst du mich eigentlich so an?«, fragte David.

»Überhaupt nichts.«

»Nuvola!«, fuhr die Aufsicht dazwischen.

Charlie hatte jetzt kein Problem mehr, sich abzuwenden. Er wollte David Sun nie wieder ansehen.

In der Mittagspause hörte er ein paar Jungen über Gefährtinnen reden. Einer von ihnen, ziemlich groß und mit Hakennase, trommelte beim Sprechen auf die Tischplatte und wippte dabei mit dem Kopf zu einer Musik, die nur er hörte.

»Weißt du, die verpassen dir einen Elektroschock, wenn du sie zu begrapschen versuchst.«

»Ja«, sagte einer mit rotem Bürstenschnitt. »Hab ich auch gehört.«

»Wozu ist eine Sexpuppe gut, wenn du keinen Sex mit ihr haben kannst?«, fragte ein Dritter, Luther Drake, den Charlie aus dem Basketballteam kannte.

»Nicht mal einen geblasen kriegen oder so?«, fragte die Hakennase.

Luther schüttelte den Kopf. »Fehlanzeige, Alter. Denk doch mal nach. Wo sie dir doch schon einen Schock verpassen, sobald du ihnen nur auf den Hintern klatschst, stell dir das mal vor! Ich hab gehört, drüben in Auburn war so ein Typ, dem haben sie den Schwanz gegrillt.«

»Schwachsinn.«

»Ohne Scheiß.«

Charlie trank seine Cola. Das Gespräch wechselte zur Kommunalpolitik.

»Freitag auf Clays Party gewesen?«

»Zeit lang. Und du?«

»Ja.« Hakennase schnaubte. »Ey, habt ihr das Teil gesehen, mit dem David Sun da war?«

»Die Rothaarige? Aus Kanada?«

»Ich dachte, die ist aus Maine.«

»Egal, Alter. Ich würd bis zum Nordpol fliegen, wenn ich die flachlegen könnte.«

Allgemeines Gelächter. Charlie fing an, seine Sachen zusammenzupacken. »Alter, die ist aber zu gut für ihn.«

»Genau, die Frau ist nicht mal mehr Suns Liga.«

»Wundert mich nicht, dass sie fremdgegangen ist.«

Charlie ließ sein Wechselgeld fallen. Es landete scheppernd auf dem Boden, 25-Cent-Stücke rollten unter den Tisch.

»Sie ist fremdgegangen?«, fragte Hakennase. »Woher weißt du das?«

Luther zuckte die Achseln. »David hat’s Clay erzählt, und Clay hat’s Butkus erzählt und Butkus mir.«

»Irre.«

»Hat’s wahrscheinlich mit einem Typen auf der Party getrieben – wo wir gerade vom Blasen reden. David ist dazugekommen, und er dann: ›Du Dreckstück, mit dir bin ich fertig.‹ Er ist mit einem Lacrosse-Mädel abgezogen.«

»Boah, verdammt.«

»Hey, Charlie«, sagte Luther. »Bei dir alles klar, Mann? Hast du irgendwas Komisches gegessen?«

»Der Typ sieht aus, als müsste er gleich kotzen.«

Charlie riss sich zusammen und lief zum Ausgang. Die kalte Luft war wie ein Schlag ins Gesicht. Der Wind kühlte die Feuchtigkeit ab, die sich in seinen Augen sammelte.

Rose war in der Nachahmung von Menschen geschickter, als sie ahnte.

»Du bist Davids Freundin.«

Rose ließ den Ast sinken. »Becca?«

»So nennt mich nur John. Er weiß, dass ich es nicht ausstehen kann. Tatsächlich heiße ich Rebecca.« Sie lächelte und freute sich, dass man sich an sie erinnerte. »Willst du mit dem Ding auf Jagd fürs Abendessen gehen?«

Rose starrte den Ast an und ließ ihn fallen. »Ich dachte, du wärst jemand anders.«

»Alles in Ordnung? Ich wollte dich nicht erschrecken.«

»Nein, alles okay«, sagte Rose und richtete sich gerade auf. »Tut mir leid, mir geht’s nur nicht besonders gut.«

»Erzähl.« Rebecca schob eine Metallstange beiseite und setzte sich. »Im Ernst. Was ist los?«

»Ich glaube, mit meinem Gehirn stimmt etwas nicht«, sagte Rose wahrheitsgemäß. »Ich fühle Verschiedenes gleichzeitig, aber es passt nicht sinnvoll zusammen. Es widerspricht sich sogar.«

Das andere Mädchen nickte. »Klingt, als wärst du grade in die Wüste geschickt worden.«

»In die Wüste?«

»Genau, in die Wüste. Will sagen, du hast eine Trennung hinter dir. Eure Beziehung ist vorbei.«

»Oh. Ja. Genau das ist passiert.«

»David, stimmt’s? Ich hab dir gesagt, der Typ ist ein Spieler.«

Rose sagte nichts. Rebecca schnippte ein Blatt vom Rand ihres Sitzplatzes und beobachtete, wie es zu Boden schwebte. »Wahrscheinlich drehe ich im Moment auch ein bisschen am Rad.« Sie lächelte schwach. »Genau deswegen hab ich mir ein paar Tage Auszeit genommen.«

Ein leichter Wind strich über die Lichtung. Rose dachte an den Abend zurück, an dem sie Rebecca kennengelernt hatte. Sie hatte vermutet, die andere habe ihren Freund verloren. Vielleicht hatte sie richtig gelegen.

»Wie macht man das?«

»Macht was?«

»Wie … wechselt man den Freund?«

Rebecca gab keine Antwort. Die beiden Mädchen saßen da und horchten auf den Wind in den Bäumen. Dann nahm Rebecca Roses Hand.

»Komm mit«, sagte sie.

»Wohin gehen wir?«

»Lass uns eine Runde Auto fahren. Du siehst aus, als bräuchtest du eine Freundin.«

Dieses Wort kannte Rose, und sie wich zurück. »Ich will dich nicht küssen.«

Rebecca stutzte, dann feixte sie. »Nicht diese Art von Freundin!«

»Ach so.«

»Komm, gehen wir.« Sie zog Rose zur Treppe.

»Aber ich muss warten …«, setzte Rose an. »Ich muss hier jemanden nach der Schule treffen.«

»Die Schule ist erst gegen drei aus, stimmt’s?«, sagte Rebecca und stellte ihren Handy-Wecker. »Bis dahin bringe ich dich zurück, versprochen. Du willst doch nicht den ganzen Tag nur hier rumsitzen, oder?«

Nein, das wollte Rose nicht. Insbesondere, wenn die Möglichkeit bestand, dass der Mann mit dem schütteren Haar auftauchte. »In Ordnung, gehen wir.«

Rebecca grinste. »Gut. Du und ich, Süße. Wir machen uns ’ne gute Zeit, nur für Mädels.«

Rebeccas Auto sah aus wie Charlies Fahrrad, hätte letzteres einen Motor und vier Reifen gehabt. Die graue Oberfläche war mit Rost durchsetzt. Rose wollte die Beifahrertür öffnen, aber sie klemmte.

»Ach ja. Die Tür ist hinüber. Du musst am Türgriff rütteln. Der Wagen gehört meinem Vater. Ich habe ihn die letzten paar Tage benutzt, weil … na ja, weil er ihn nicht benutzt hat.«

Im Wageninneren entdeckte Rose das Emblem auf dem Lenkrad.

»Das ist ein Cadillac?«

»Jep, ein echter Klassiker.« Rebecca ließ den Motor an. Er schien unter der Motorhaube zu mahlen und rüttelte das Fahrgestell durch.

»David hatte auch einen, aber seiner war … anders. Der war in ziemlich gutem Zustand.« Ihr wurde bewusst, dass das womöglich als Beleidigung aufgefasst werden konnte.

Falls Rebecca gekränkt war, zeigte sie es jedenfalls nicht. »Oh, unser alter Louis war wahrscheinlich auch mal hübsch. Er ist inzwischen lediglich ein bisschen abgestoßen an den Kanten.« Liebevoll tätschelte sie das Armaturenbrett. »Stimmt’s nicht, Louis?«

Der Motor knatterte als Antwort. Rebecca legte einen Gang ein und kurbelte am Lenkrad. Dann rollten sie durch das hohe Gras zurück auf die Straße, wo Louis’ Gerüttel noch schlimmer wurde.

Sie bewegten sich gemächlich vom See zu einem anderen Teil der Stadt jenseits der Schnellstraße. Rebeccas Haus stand am Rand eines riesigen leeren Grundstücks. Es hatte gewaltige Ausmaße, und Rose brachte das Gespräch darauf.

»Insgesamt vierzig Wohneinheiten«, sagte Rebecca mit matter Stimme. »Buffumville-Residenz, dass ich nicht lache.«

Sie nahmen den Aufzug bis ins oberste Stockwerk und gingen bis ans Ende eines schmuddeligen Flurs. An der Tür hing eine weibliche Pappfigur im Grasröckchen.

»Mein Vater hat am Freitagabend einen Junggesellenabschied für seinen Freund veranstaltet«, sagte Rebecca. »Das Motto war tropisches Inselleben.«

Drinnen in Rebeccas Wohnung war es feucht und roch bittersüß. Unförmige Möbelstücke standen wackelig auf einem schaumstoffähnlichen Teppichbelag, und orangefarbenes Licht drang in Streifen durch Jalousien, die von der Decke bis zum Boden reichten. Eine lange Küchentheke trennte den Teppich von einem Fliesenboden, dahinter flackerte ein Leuchtkörper summend im orangefarbenen Gehäuse an der Decke. Geschirr stapelte sich im Spülbecken. In einer Ecke sackte eine halb aufgeblasene Palme in sich zusammen.

»Willkommen auf der Vergnügungsinsel«, sagte Rebecca.

»Wo sind deine Eltern?«

Rebeccas Gesichtszüge verhärteten sich. Dann entspannte sich ihre Miene, und das Grinsen kam erneut zum Vorschein. »Meine Mutter ist weg. Dad ist am anderen Ende des Flurs. Aber keine Sorge. Der kommt frühestens um vier wieder zu sich. Er schläft wie ein Toter, glaub mir.«

Durch eine halb offene Tür sah Rose in einen dunklen, zugemüllten Raum. Eine Gestalt lag auf dem Bett, ein nacktes, behaartes Bein hing seitlich herunter.

»Komm, mein Zimmer ist hier hinten.«

Rebeccas Zimmer war klein, die Wände waren gepflastert mit Postern von rettungslos glücklichen Paaren, die im Begriff waren, Lieder zu schmettern. An eine Wand waren Dutzende von Programmzetteln geklebt.

»Sind die für Filme?«

»Nein, nein«, sagte Rebecca und zog die Nase kraus. »Sie sind für Theaterstücke. Musicals. Ich liebe sie. An den Wochenenden arbeite ich bei Denny’s, um mir Geld für Aufführungen in Boston zu verdienen. Obwohl, wahrscheinlich werden sie mich rausschmeißen, weil ich seit zwei Wochen nicht zur Arbeit gegangen bin.«

Rose setzte sich aufs Bett. Auf Rebeccas Nachttisch lag ein roter Anstecker in Form eines Vogels. Rose erinnerte sich daran von dem Abend, als sie sich kennengelernt hatten.

»Das ist hübsch.«

Rebecca warf einen langen Blick auf den Anstecker, ihr Lächeln schwand. »Gott, findest du das nicht kitschig? Ich hab es eine Zeit lang zu tragen versucht, aber es geht einfach nicht.«

Der Zettel mit dem Text lag halb begraben unter USB-Sticks und Make-up-Stiften. Das, was von der eleganten Schrift zu sehen war, lautete: … unsere Solidarität mit der Familie Vogel zu bekunden, fordern wir Sie auf, diese Anstecker in Erinnerung an unsere liebe Nora zu tragen.

Rebecca begann sich die Stiefel von den Füßen zu zerren. »Ich meine, wenn du jemanden in Erinnerung behalten willst, dann erinnere dich an ihn.« Stiefel eins löste sich. »Steck dir nicht einfach eine Brosche an und tu so, als wäre damit alles erledigt.« Stiefel zwei. »So, bist du bereit für die Überraschung?«

Rebecca wühlte unter dem Bett und brachte eine Plastikflasche zum Vorschein. Sie sah genauso aus wie die, an der sie sich auf dem Campingplatz festgehalten hatte, mit der witzigen Ziege samt Filzhut an der Seite.

»Meine Lieblingsmarke«, sagte Rebecca, die Roses Blick auffing. »Also, worauf trinken wir?«

»Ich kann nicht«, sagte Rose. »Ich …«

Das heißt – sie konnte. Da war keine Stimme, die es ihr verbot, kein tanzender Lichtpunkt.

»Ach, klar kannst du.« Rebecca schob die Lippen vor. »Trinken wir … trinken wir darauf, dass wir unabhängige Frauen sind. Die. Keine. Männer. Brauchen.«

Rebecca nahm einen Zug, die klare Flüssigkeit schwappte in der Flasche. Sie schüttelte sich, wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab und gab die Flasche an Rose weiter. Das Zeug dadrin roch wie Davids Garage. Rose trank einen Schluck. Zuerst schmeckte es nach nichts. Dann aber jagte ihr ein zweites leeres Schlucken, diesmal ein Feuerball, den Wodka die Kehle hinunter. Heiße Kohlen glühten in ihrem Magen. Sie musste husten.

»Na ja, es ist kein Grey Goose.« Rebecca griff nach der Flasche. »Okay, worauf trinken wir jetzt?«

Rose überlegte. »Lass uns auf … das Brechen von Regeln trinken.«

»Ha!« Rebecca nahm einen kräftigen Zug und reichte die Flasche weiter. Rose machte es ihr nach. Sie wischte sich den Mund ab und rülpste. Die Mädchen kicherten.

Bald verbreiteten die Kohlen in Roses Magen Hitze bis in ihre Gliedmaßen und ihr Gesicht. Die Wärme war eine angenehme Begleiterscheinung.

Dann trübte sich Rebeccas Stimmung plötzlich. »Also, ich hab sehr viel über dieses Mädchen nachgedacht.«

»Welches Mädchen?«

»Die, die sich umgebracht hat.« Rebecca hickste. »Ich kannte sie nicht besonders gut, verstehst du? Sie muss total einsam gewesen sein. In der Nacht, als sie starb, hatte ich übrigens ein Date. Ein grauenvolles Date. Der Typ war so süß, aber ich hab’s einfach nicht geschafft … ich kam mir vor wie jemand, der mitten in einer Aufführung seinen Text vergessen hat. Kannst du das irgendwie verstehen? Ich wär wirklich am liebsten gestorben.« Sie studierte die Bilder an ihren Wänden. »Was ist, wenn mir das passiert?«

»Wenn dir was passiert?«, fragte Rose. Irgendwie hatte sie Mühe, Rebeccas Worten zu folgen.

»Was ist, wenn ich eines Tages wach werde und entscheide, dass ich es nicht mehr schaffe, allein zu sein? Und ich muss einfach nur … ich hab sogar mal dran gedacht, Tabletten zu schlucken, genau wie sie. Aber ich hatte dann zu viel Angst. Ich frage mich, ob mich irgendwer vermissen würde. Würde es überhaupt was ändern?« Rebeccas bereits gerötete Wangen nahmen eine noch dunklere Färbung an. Sie guckte unter ihren Wimpern hervor zu Rose hoch. »Hast du jemals solche Gedanken gehabt?«

»Ich bin in einen See gesprungen«, sagte Rose. »Um die Stimmen in meinem Kopf zum Schweigen zu bringen.«

Rebecca kniff die Augen zusammen. »Was?«

Rose stellte ihre Füße auf den Boden, der sich unverhofft wackelig anfühlte. Irgendetwas Komisches passierte gerade. Farbige Flecken tanzten vor ihren Augen, rote, gelbe, blaue, und verschmolzen miteinander. Die bunten Lichter waberten umher und flimmerten. Rose roch auf einmal Senf. Sie spürte Regen auf ihrer Haut. Sie sah Primzahlen, die von einhundert abwärts zählten.

»Mir geht’s nicht besonders gut.« Sie versuchte aufzustehen, lag aber plötzlich auf dem Boden. Die Landung tat nicht weh, aber jetzt erfüllte der Geruch von Zigarettenrauch ihre Nasenflügel. Keuchend rollte sich Rose auf den Rücken. Ein Gewicht lastete auf ihrer Brust. Sie war von Eis bedeckt. Die bunten Lichter waren verschwunden, aber es blieb der Geruch nach Rauch, zusammen mit Zwiebeln und chemischer Bleiche.

Sie schloss ihre Lider und versuchte diese Wahrnehmungen auszulöschen. Als sie die Augen wieder aufschlug, stand Rebecca über sie gebeugt.

»Rose? Rose?«

Als Rose ihren Namen hörte, verschwanden die Gerüche und der Druck auf ihrer Brust. Rebecca schüttelte sie sanft. Sie sagte etwas, aber irgendwo zwischen ihrem Mund und Roses Ohren verhedderten sich die Worte. Wortsalat.

»Rose? Zum-Glück-solltest-warte-besser-jetzt-richtig-zwei?«

Rose konzentrierte sich, aber sie bekam den Sinn nicht heraus. »Ich habe dich nicht verstanden.«

»Du-Geld-richtig-treten-fühlst-blass-schlecht?«

Stöhnend rollte sich Rose auf die Seite. Die Nebelschleier begannen sich zu lichten. Rebeccas Worte rückten wieder an die richtige Stelle.

»Alles in Ordnung, Rose?«

»Ich … denke schon.«

»Du siehst aus, als würdest du gleich kotzen. Auf. Komm mit.«

Rebecca legte ihr einen Arm um den Rücken, und ehe Rose sich’s versah, wurde sie den Flur entlang zur Toilette geführt und auf dem türkisfarbenen Kachelboden abgesetzt.

»Okay, da wären wir«, sagte Rebecca. Sie raffte Roses Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und hielt sie ihr vom Gesicht weg. »Los geht’s.«

Rose beugte sich über die Kloschüssel. Das kühle Porzellan beruhigte ihre brennende Haut. Dann brachen schlagartig die glühenden Kohlen aus ihrem Magen hervor. Der Wodka kam schwallweise wieder zum Vorschein. Es ging so lange, bis ihr Tränen aus den Augen liefen. Dann, als es vorbei war, sackte Rose gegen die Wand, die Hitze war aufgezehrt. Sie zitterte.

Rebecca klappte den Klodeckel nach unten und drückte auf die Spülung. »Nicht schlecht, Herr Specht. Mir scheint, du darfst wirklich nichts trinken, was? Man könnte glatt denken, du hättest einen Schlaganfall gehabt oder so.«

Die Umrisse des Raums nahmen wieder klare Gestalt an. Das Waschbecken, die Toilette, der feste Boden.

»Ich glaube, ich hatte einen Kurzschluss«, sagte Rose. Sie schüttelte den Kopf. Zumindest war kein bleibender Schaden entstanden.

Rebecca richtete sich auf. »Also, wir sollten wahrscheinlich zusehen, dass du etwas in deinen Magen bekommst. Und ich in meinen. Als ich dir beim Würgen zugeschaut habe, hab ich mich irgendwie so dumpf gefühlt. Komm mit. Ich mache uns Sandwiches.«

»In Ordnung.« Rebecca half Rose auf die Füße. Irgendetwas nagte an Rose. Als Rebecca die Schranktüren auf der Suche nach Brot öffnete, fiel es ihr ein.

»Rebecca?«

»Ja, junge Frau?«

Sie schluckte. »Was ist ein Sandwich?«

Nach jeder Nahrungsaufnahme musste Rose ihr Essen weiterverarbeiten. Das, so lautete die Vorschrift, sollte sie grundsätzlich nicht in Gegenwart von Menschen tun, und sie beschloss, sich an diese Regel zu halten.

»Ich bin sofort wieder da.«

Sie meinte sich an den Weg zur Toilette zu erinnern, aber an dem kurzen Gang befanden sich fünf gleich aussehende schmutzigweiße Türen. Die erste führte in eine vollgestopfte Wäschekammer. Beim zweiten Versuch stolperte Rose in ein fremdes Schlafzimmer. Es war belegt.

»Oh! Entschuldigung.«

Rose zog sich zurück und wollte die Tür hinter sich schließen, aber dann musste sie den Kopf doch noch einmal hineinstecken. Ein Mädchen stand in der Ecke, ihre blonden Haare fielen ihr über die Schultern aufs gelbe T-Shirt, die Arme baumelten schlaff an den Seiten herunter.

»Hi«, sagte Rose zögernd. »Ich bin Rose.«

Das Mädchen blinzelte und drehte sich langsam um. »Hallo. Ich heiße Lily.«

»Hi, Lily.«

Lily blickte starr – und sie sah Rose nicht an. Sie sah nirgendwohin. Ihre Augen schauten einfach, ohne zu sehen. Ihre Stimme, und vor allem dieser Blick, kamen Rose irgendwie bekannt vor.

»Sind wir uns schon mal begegnet?«, fragte sie. Waren sie natürlich nicht. Wie denn auch? Rebecca war das einzige weibliche Wesen, das Rose kannte, mit Ausnahme von Davids Mutter und Lupe, und zudem hätte sie sich an Lilys erstaunlich blondes Haar erinnert.

Lily legte den Kopf zur Seite, ihre Ponyfransen schwangen mit. »Wir beginnen nun die zweite Minute unserer Freundschaft. Zu diesem Zeitpunkt ist ein Händedruck angebracht.« Sie streckte die Hand aus.

Rose hielt sich an der Tür fest. »Du bist eine Gefährtin?«

»Ich heiße Lily.« Lilys Hand schwebte zwischen ihnen. »Es ist mir ein Vergnügen, dich kennenzulernen.«

Rose wusste, dass es noch andere ihrer Art gab, aber sie hatte nie damit gerechnet, einer Gefährtin tatsächlich zu begegnen. Sie hatte gedacht, die anderen wären weit weg, ungefähr da, wo die Stimme herkam. »Ich bin wie du«, sagte Rose. »Ich bin eine Gefährtin. Wir sind gleich.«

»Wie nett. Erzähl mir mehr von dir. Ich bin daran interessiert, unsere Freundschaft zu vertiefen.« Lilys Augen blickten durch Rose hindurch, über sie hinaus. Sie waren von einem künstlichen Hellblau. Kalt und tot. Rose schauderte.

»Was ist los mit dir?«

»Meine letzte Überprüfung zeigte keine Fehlfunktionen.« Lily kicherte. »Soll ich dir ein Sandwich machen?«

Rose wich zur Tür zurück. »Ich muss jetzt gehen. Es war nett, dich kennenzulernen, Lily.«

»Es war mir ein Vergnügen, dich kennenzulernen, Rose. Ich hoffe dich bald wiederzusehen.«

Der Rock der anderen Gefährtin war aus billigem Synthetikmaterial, mit elastischem Bund. Spontan griff Rose danach, wobei sie sich bemühte, die geschmeidige Haut von Lilys Bauch nicht zu berühren, und zog den Rock vom Körper weg. Sie schaute an ihr herunter. Lily war glatt. Unvollständig, wie Rose. Eine Barbie-Puppe.

Rebecca bog um die Ecke, als Rose gerade die Tür schloss.

»Hey, ich hab mich schon gewundert, wohin es dich verschlagen hat. Warst du grade im Zimmer meines Bruders?«

»Entschuldigung. Ich dachte, es wäre die Toilette«, sagte Rose.

»O Gott. Hast du Pauls Dingsda gesehen?«

»Was?«

»Sein Sex-Spielzeug?« Rebecca schüttelte sich. »Mir graust es davor.«

»Wie lange hat er das denn schon?«, erkundigte sich Rose.

»Ungefähr zwei Monate. Es heißt ja, sie werden mit der Zeit immer menschlicher, aber da drinnen ist es wie in Das Dorf der Verdammten. Wie soll irgendwer dieses Ding für eine lebendige Person halten?« Sie legte Rose ihren Arm um die Schulter. »Lass uns Fernsehen schauen oder sonst irgendwas machen.«

Im Wohnzimmer verkrümelte sich Rebecca in die Sofaecke und platzierte eine Tüte Kartoffelchips auf ihrem Knie. Die beiden sahen einen Film über einen rot gewandeten weiblichen Geist, der Hinweise auf den versteckten Brief mit seiner Selbstmordankündigung hinterließ. Rose probierte die scharfen, knusprigen Chips und zerkaute sie zu einem geschmackfreien Brei.

»Leidet dein Bruder an Gefühlsarmut?«

Rebecca zuckte zusammen. »Wie kommst du auf diese Idee?«

»Bekommen Jungs nicht genau deswegen Gefährtinnen?«

Rebecca wühlte in der Chipstüte und förderte eine Handvoll Krümel zutage. »Die haben da so ein Programm. Der Schulpsychologe hat gesagt, Paul braucht eine, aber wir konnten uns das nicht leisten. Weil sie die erst testen, hat man sie ihm quasi geliehen.«

»Ist er nett zu ihr?«, fragte Rose.

»Weiß ich nicht. Ich nehme es mal an. Er hat versucht, sie in diese Werkstattklitsche zu bringen, um ihren Elektroschocker umzubauen.«

»Werkstattklitsche?«

»In Worcester.« Rebecca knüllte die leere Chipstüte zusammen und warf sie in den Müll. »Anscheinend gibt es eine Werkstatt, wo sie die Elektroschocker entfernen, damit die Jungs ihren Spaß haben können. Die Wissenschaft kennt wahrscheinlich keine Grenzen.«

Rose starrte auf den Fernsehbildschirm. Der Schmerz schlängelte sich durch ihr Gehirn, drehte und wand sich. Sie sah den Mann aus ihrem Albtraum vor sich, wie er ihren Schädel öffnete und ihn entfernte, den lose baumelnden, tödlichen Pfeil, jetzt geknickt und verbogen, ein wirres, sinnloses Stück Schrott.

»Wo, sagtest du, ist diese Werkstatt?«

Rebeccas Handy begann zu piepsen.

»Das ist mein Zeitwecker. Ich denke, ich sollte dich zurückfahren, hm?«

Sie streckte die Arme aus und führte dann beide Zeigefinger an die Nase. Das wiederholte sie mehrmals und nickte dazu. Es war Rebeccas Methode, sich neu zu kalibrieren, vermutete Rose.

»Nüchtern genug«, sagte Rebecca. »Fahren wir!«

Als Charlie den Sakora-Katalog zurückgab, hatte Dr. Roger verlangt, er solle alle zwei Wochen zu einem »freundschaftlichen Check« kommen. Diese obligatorischen Gespräche fanden um halb drei statt.

»Mr Nuvola, kommen Sie herein.« Charlie nahm seinen Platz in dem großen Sessel ein. »Sie sehen … gut aus.«

Charlie sah aus, als hätte er seit Tagen nicht geschlafen, die verquollenen Tränensäcke waren unterhalb der Brilleneinfassung sichtbar. Dr. Roger sah auch nicht so berauschend aus. Seine normalerweise rosige Haut war aschfahl. Er griff nach einem Glas Wasser und stieß es um, sodass es auf den Teppich fiel. Ein kleiner Roboter-Staubsauger schoss unter dem Schreibtisch hervor, um die Feuchtigkeit aufzunehmen.

Dr. Roger hob das Glas auf und füllte es aus dem Krug nach, der auf seinem Tisch stand.

»Und, wie läuft’s?«

»Nicht schlecht.«

»Neue Freundschaften geschlossen diesen Monat?«

Charlie schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Na komm schon, Chuck. Irgendwas muss doch laufen.«

Dr. Rogers geschmeidiger Bariton klang dünner, angestrengter als sonst. Seine Haltung war zu steif, nicht so lässig-gelangweilt wie üblich. Er umklammerte sein Glas und verschüttete Tropfen auf den Boden. Der Roboter-Staubsauger summte zufrieden und saugte sie auf.

»Haben Sie noch mal über das Gefährtinnen-Programm nachgedacht?«

Ein trockenes Glucksen stieg in Charlies Hals auf. »Nicht wirklich. Es hat nicht …« Er unterbrach sich.

Dr. Roger zog eine Augenbraue hoch. »Es hat was nicht?«

Charlie schluckte. »Na ja, es hat nicht sonderlich gut geklappt bei David Sun. Heißt es jedenfalls.«

Dr. Roger presste die Lippen aufeinander. »Ja, davon habe ich gehört. Ich bin überzeugt, dass Fälle mit unzufriedenen Klienten eine Ausnahme sind.«

»Klingt für mich nicht nach einer Ausnahme.«

»Wie meinen Sie das?«

»Menschen lügen und betrügen. Es klingt doch so, als hätte sie sich einfach ganz menschlich verhalten.«

»Aha.« Dr. Roger trank einen Schluck Wasser. Der Roboter-Staubsauger erinnerte mit seinem Surren an ein Haustier, das auf eine Leckerei hofft. »Und was ist mit Ihnen? Gibt’s Frauen in Ihrem Leben?«

Charlie hatte Dr. Roger nur oberflächliche Details seines Dates mit Rebecca weitergegeben und den Spruch »Andere Mütter haben auch schöne Töchter« zur Antwort bekommen.

»Nein.«

»Wirklich nicht?«

»Ja.« Charlie hustete in die vorgehaltene Hand. »Warum?«

Dr. Roger zuckte mit den Schultern. »Ich habe den Eindruck, bei Ihnen ist heute Nachmittag irgendwie so ein Federn in Ihrem Gang. Ich dachte, vielleicht … aber wenn Sie sagen, da ist niemand …«

»Nein, da ist niemand«, sagte Charlie und fügte nach einer kleinen Pause hinzu: »Wissen Sie, ich würde es mir ja wirklich wünschen. Aber es gibt niemanden. Derzeit nicht.«

»Das tut mir leid. Na, und was haben Sie sonst so getrieben? Gestern Abend, beispielsweise? Was haben Sie da gemacht?«

»Gestern Abend?«

»Ja. Beispielsweise.«

Charlie folgte dem Roboboter-Staubsauger mit den Augen. »Ich war zu Hause.«

»Sie sind überhaupt nicht weggegangen? Nicht auf einen Ihrer Naturspaziergänge?«

Charlie hustete wieder. Und gleich noch einmal. »Die Luft hier drinnen ist echt trocken.«

»Tut mir leid. Möchten Sie ein Glas Wasser?«

»Ja, bitte.« Dr. Roger füllte das zweite Glas und drückte es Charlie in die Hand.

»Danke.«

»Ich werde alles tun, damit Sie sich wohlfühlen.« Dr. Rogers Augen verengten sich. »Sie wissen, wie viel mir meine Patienten bedeuten.«

»Stimmt. Also, jedenfalls …« Charlie stützte sein Glas auf der Sessellehne ab. Ein ratschendes Geräusch ertönte, als es vom Leder abglitt, gefolgt von einem lauten Knirschen. Der Roboter-Staubsauger wieselte unter Dr. Rogers Sessel hervor. Dr. Roger versuchte ihn mit einer raschen Bewegung einzufangen, aber Charlie hatte den längeren Arm. Er schnappte sich den Roboter, die winzigen Räder rotierten hilflos in der Luft. Er drehte ihn um. Neben der Seriennummer befand sich ein Abzeichen. Eine winzige rosafarbene Blüte. Die Blütennarbe war ein kleines Gitter, ähnlich wie bei einem Lautsprecher. Halt, nein, dachte Charlie. Das war kein Lautsprecher. Ein Mikrofon.

Charlies und Dr. Rogers Blick kreuzten sich. Sie standen sich gegenüber wie zwei Ringkämpfer, halb vorgebeugt, nur anderthalb Meter Perserteppich zwischen ihnen.

»Ich dachte, diese Sitzungen wären vertraulich.«

»Sind sie auch«, fauchte Dr. Roger. »Ich mache nur meine Arbeit, Charlie.«

»Ich dachte, Ihre Arbeit bestünde darin, Schülern zu helfen.«

»Schüler bezahlen nichts.« Dr. Rogers Stimme glich einem Knurren. »Was glauben Sie denn, wer Ihre Therapie bezahlt, Charlie?«

»Ich dachte, es wäre die Schule.« Er hätte gern heldenhaft geklungen, aber seine Stimme wackelte. Die Hand, die den Roboter-Staubsauger hielt, zitterte.

»Charlie …«

»Sie haben mir den Katalog gegeben. Sie haben wahrscheinlich auch David Sun sein Exemplar gegeben. Wie sieht’s aus, wandern Sie einfach so als Vorturner von Sakora von Schule zu Schule?«

»Charlie …«, sagte Dr. Roger erneut, diesmal mit einer neuen Klangfärbung in seiner Stimme. Furcht. »So ist das nicht. Ich arbeite nicht für Sakora, aber ich stimme mit ihren Methoden überein, und manchmal können Ärzte und Firmen auch zusammenarbeiten.« Er flocht seine Finger ineinander. »Ich weiß, dass die Grenzen ein bisschen unscharf sind, aber lass uns doch einfach darüber reden.«

Charlie hätte gern eine polemische Antwort gegeben. Er hätte gern das letzte Wort gehabt. Aber er hatte zu viel Angst. Er war noch nie einem Erwachsenen ernsthaft entgegengetreten. Deshalb haute er ab. Er warf den Roboter hin, rannte zur Tür, den Gang hinunter und hinaus in den grauen Nachmittag.

Auf dem Weg zum Campingplatz sah er hundertmal über die Schulter zurück, sein Fahrrad schlingerte über die nassen Straßen. Autos brausten vorbei und ließen schmutziges Wasser von der Straße aufspritzen. Charlie stellte sich Sakora-Vertreter in schwarzen Anzügen vor, im Begriff, die Hände vorzustrecken und ihn zu packen. Er verlangsamte sein Tempo erst, als er die Cliff Road erreicht hatte und die Baumgruppe, die den Eingang zum Pfad kennzeichnete.

Ein rostiger Cadillac stand vor dem Campingplatz. Charlie trat an den Rand der Grube. Jemand saß da und schrieb eine SMS. Ihr Gesicht war von einem Vorhang aus tintenschwarzen Haaren verdeckt, aber er erkannte sie.

»Hallo.«

Rebecca schaute hoch und japste. »Hast du mich erschreckt!«

Charlie ging zu ihr hinunter. »Hi, Rebecca.«

Sie stand auf und vergrub dabei die Hände in den Taschen. »Hi, Charlie.«

»Hast du nachmittags nicht Theaterprobe?«

»Ich mache nicht mehr mit bei der Aufführung.«

»Tut mir leid.«

Ihr Blick begegnete seinem. »Ach, Charlie. Dir muss nichts leidtun! Ich bin diejenige, der was leidtun muss. Ich war absolut bescheuert, ich war großkotzig und zickig, aber nur, weil ich bei dir Eindruck schinden wollte.« Die Worte purzelten aus ihr heraus, der tagelange Druck löste sich endlich. »Weil du total schlau bist, ganz klar, und jede Menge weißt, und ich bin bloß eine blöde Schauspielerin mit großen Titten. Aber du hast natürlich gedacht, ich bin total bescheuert, und das war ich ja auch. Ich bin bescheuert. Und es tut mir echt ganz furchtbar leid.« Sie holte tief Luft. »Es tut mir leid«, sagte sie noch einmal und schaute zu Boden.

»Ich hatte eigentlich gemeint, weil du bei der Theateraufführung nicht mehr mitmachst«, sagte Charlie.

Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen. »Klar. Natürlich.«

Schweigen. Charlie merkte, wie er innerlich dichtmachte. Er zwang sich, etwas zu sagen. Irgendetwas. Das Erste, was ihm in den Sinn kam.

»Rebecca, ich finde, du bist …«

»Charlie?«

Rose tauchte oben an der Treppe auf, der peitschende Wind verwandelte ihre Haare in tanzende rote Flammen. Charlie und Rebecca sahen einander an. Rebeccas Lächeln erlosch.

»Oh«, sagte sie. »Wahrscheinlich seid ihr beiden zusammen, ja?«

Rose lief mit breitem Lächeln die Treppe hinunter. »Es ist so schön, dich zu sehen.« Sie schlang die Arme um Charlie, aber er rührte sich nicht. Rose trat einen Schritt zurück. »Was ist los?«

»Könnte ich, äh, mal einen kurzen Moment mit Rose reden?«, sagte Charlie zu Rebecca.

Sie nickte. »Ja, natürlich. Ihr beiden wollt sicher alleine sein.«

»Mit dir muss ich auch reden«, brachte er heraus. »Wenn es dir nichts ausmacht, so lange zu warten.«

Rebecca bekam immer größere Augen. »Oh. Äh, nein. Es macht mir nichts aus.«

Sie ging die Treppe hoch und drehte sich zweimal um, bevor sie über die obere Kante verschwand.

»Kennst du sie?«, fragte Rose.

»Sie ist nur jemand, mit dem ich reden muss.« Er fixierte die Stelle, an der Rebecca gestanden hatte.

»Sie ist sehr hübsch.«

Charlies Blick wurde hart. Er wandte sich Rose zu. »Hast du David betrogen?«

Rose zuckte zusammen. »Was?«

»Hat David dir den Laufpass gegeben, weil du fremdgegangen bist?«

»Hast du ihn gesehen? Hat er dir das erzählt?«

»Warum hast du mir das nicht gesagt?«, explodierte Charlie. »Dieses kleine Detail hast du wohl schlicht vergessen? Und ich versuche dir zu helfen, gerate in Schwierigkeiten deinetwegen … und für wen? Wer bist du eigentlich? Eine Hochstaplerin?«

»Nein!«, sagte Rose, und Tränen kullerten ihr aus den Augen. »Wie kannst du so etwas denken?« Sie wischte sich heftig die Augen. »Verdammt noch mal! Warum weine ich eigentlich? Warum bin immer ich es, die weint? Warum weinen Jungs nie?«

»Ach, hör doch auf. Du kannst die Schleusen wahrscheinlich auf Knopfdruck öffnen.«

Roses Hände fielen schlaff an den Seiten herunter. »Ach so. Jetzt verstehe ich.«

»Was?«

»Du bist wie er. Du bist genau wie er. Ist das die Art, wie Jungen und Mädchen miteinander umgehen?«

Charlies Wangen wurden heiß. »Ist was welche Art?«

»Die Jungen bestimmen die Regeln. Sie tun, was sie wollen und wann sie es wollen, und die Mädchen müssen einfach perfekt sein. Und wenn die Mädchen nicht perfekt sind – Pech gehabt. Dann können sie schön alleine bleiben. Und einsam sein. Hast du eine Ahnung, wie schrecklich einsam ist?«

»Ja, ganz zufällig weiß ich das!« Er biss die Zähne zusammen. »Hör zu, wir haben keine Zeit für so was. Komm mit.« Er packte sie grob am Arm. »Wir müssen hier weg. Wir …«

Ein trockener Knall war zu hören, wie von einem brechenden Ast. Charlie spürte, wie ein plötzlicher Schmerz seine Wange durchzuckte. Er legte seine Hand ans Gesicht – die Haut war heiß. Er schaute mit offenem Mund zu Rose. Sie schaute zurück, mit erschrockenem, aber entschiedenem Blick. Sie hatte ihn geohrfeigt. Sie hatte ihm ins Gesicht geschlagen.

»Fass mich nicht so an«, sagte sie. Er ließ ihren Arm los. »Es … es tut mir leid, aber du kannst mich nicht so grob anfassen.«

»In Ordnung«, flüsterte Charlie.

»Ich bin nicht deine Gefährtin.«

»Ich weiß.«

Sie verstummten. Unter ihren Füßen raschelte Laub. Der stechende Schmerz in Charlies Wange war fast betäubend.

Rose schniefte. »Ich bin auch keine Schwindlerin.«

»In Ordnung«, sagte Charlie. »Ich bin nicht … den meisten Leuten kann man nicht … ich schaffe es normalerweise nicht, anderen Leuten zu vertrauen. Ich möchte dir gern vertrauen.«

»Ich lüge nicht. Und ich habe niemanden hintergangen. Aber ich kann dir nicht sagen, was passiert ist.«

»Warum nicht?«

»Weil du mich dann nicht mehr mögen wirst«, sagte sie. »Und du wirst mich wegwerfen.«

»Das würde ich nie im Leben tun«, sagte er.

Rose seufzte, ihr Atem ging stoßweise. »Gefährtinnen haben keine weiblichen Geschlechtsteile. Du kannst mit mir keinen Sex haben, Charlie.«

Charlie blinzelte. »Ich … wer hat denn gesagt, dass ich mit dir Sex haben will?«

»Will das nicht jeder?«

Er lachte mühsam. »Na ja, kann sein, aber ich denke, an erster Stelle sind wir Freunde.«

Rose antwortete nicht.

»Ich mag dich«, sagte er.

»Aber ich bin unvollständig«, sagte sie. »Und nicht mehr besonders sexy. Ich war zumindest mal sexy. Ich weiß nicht, was passiert ist.«

»Sexy ist ja schön, aber …« Charlie lachte wieder. »Du bist lebendig.«

Rose lächelte unter Tränen. »Ich dachte, du würdest ›unsexy‹ sagen.« Ihr Lächeln verschwand. »Ich kriege ihn nicht aus dem Kopf, Charlie.«

»Und was machen wir jetzt?«

»Ich habe eine Idee«, sagte sie schniefend. »Aber dabei brauche ich deine Hilfe.«

Rebecca saß auf der Motorhaube ihres Autos und summte unmelodisch zu ihrem iPod. Als sie Charlie sah, nahm sie die Stöpsel aus den Ohren.

»Streit unter Verliebten?«

»Könntest du uns mitnehmen?«, fragte er.

Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012