20

Gilbert und Laura kamen innerhalb einer Stunde an, den Leinen-Matchsack im Schlepptau, in dem vermutlich die achttausend Dollar in bar steckten. Gilbert trug wieder seinen Stetson, womöglich in der Hoffnung, sein Image als harter Typ zu unterstreichen, nachdem er von einer fünfundachtzigjährigen Blinden in Bedrängnis gebracht worden war. Laura war offensichtlich erschöpft. Ihr Teint wirkte ausgebleicht, und abklingende Blutergüsse warfen blasse grüne und gelbe Schatten um ihren Kiefer. Gegenüber der Blässe ihrer Haut wirkte ihr kastanienrotes Haar hart und künstlich, ein zu starker Kontrast angesichts des ausgebluteten Aussehens ihrer Wangen. Jetzt konnte ich sehen, daß ihre Augen vom gleichen Haselnußbraun waren wie die Rays und das Grübchen in ihrem Kinn ein Gegenstück zu seinem bildete. Ihre Kleider sahen aus, als hätte sie in ihnen geschlafen. Sie trug wieder die Sachen, in denen ich sie zuerst gesehen hatte: ein übergroßes blaßblaues Jeanskleid mit kurzen Ärmeln, darunter ein langärmliges weißes T-Shirt, rotweiß gestreifte Strümpfe und rote Tennisschuhe mit hohem Schaft. Der Bauchgurt war verschwunden, und die Wirkung war seltsam, als hätte sie plötzlich im Zuge einer zehrenden Krankheit an Gewicht verloren.

Gilbert wirkte angespannt. Sein Gesicht war immer noch von Wunden überzogen, wo Helens Vogelschrot ihn getroffen hatte, und er trug ein Pflaster über dem Ohrläppchen. Abgesehen von Anzeichen Erster Hilfe, machten seine Jeans einen gebügelten und seine Stiefel einen geputzten Eindruck. Er trug ein sauberes weißes Hemd im Western-Schnitt, dazu eine Lederweste und eine Bola-Krawatte. Die Kluft wirkte aufgesetzt, da ich annahm, daß er erst einmal in seinem Leben westlich des Mississippi gewesen war, und das auch erst vor nicht viel mehr als einer Woche. Als sie ihre Großmutter sah, macht Laura Anstalten, den Raum zu durchqueren, aber Gilbert schnippte mit den Fingern, und schon stand sie wie ein Hund bei Fuß. Er legte ihr seine linke Hand auf den Nacken und murmelte ihr etwas ins Ohr. Laura sah unglücklich aus, leistete jedoch keinen Widerstand. Gilberts Aufmerksamkeit wurde vom Anblick seiner Pistole in Rays Hosenbund abgelenkt. »He, Ray. Möchtest du sie zurückgeben?«

»Zuerst will ich die Schlüssel«, sagte Ray.

»Fangen wir doch keinen beschissenen Streit an«, sagte Gilbert.

Seine rechte Hand schob sich zu Lauras Kehle hoch, und mit einem Schnappen schoß die Klinge aus dem Messer, das er in seiner Handfläche verborgen hatte. Die Spitze ritzte ihre Haut, und das Keuchen, das sie ausstieß, war voller Staunen und Schmerz. »Daddy?«

Ray sah die Bluttröpfchen und die absolute Reglosigkeit, mit der sie dastand. Er blickte zu seinem Hosenbund hinunter, wo der Colt steckte. Er nahm ihn heraus und hielt ihn Gilbert mit dem Griff nach vorne entgegen. »Hier. Da hast du das Scheißding. Nimm die Klinge von ihrem Hals weg.«

Gilbert musterte ihn und zog die Klinge kaum merklich zurück. Laura regte sich nicht. Ich sah, wie das Blut den Kragen ihres T-Shirts tränkte. Tränen liefen über ihre Wangen.

Ray winkte ungeduldig. »Komm schon, da ist die Knarre. Und nimm endlich das Messer von ihrer Kehle weg.«

Gilbert drückte einen Knopf auf dem Messergriff, und die Klinge verschwand. Laura legte eine Hand gegen ihre Wunde und sah auf ihre blutigen Fingerspitzen. Sie ging auf einen Küchenstuhl zu und setzte sich, wobei sämtliche verbliebene Farbe aus ihrem Gesicht gewichen war. Gilbert nahm das Messer in die linke Hand und griff mit der rechten nach der Pistole. Er kontrollierte das Magazin, das vollständig geladen war, und steckte sich die Waffe dann in den Hosenbund, mit gespanntem Hahn und gesichert. Er schien lockerer zu werden, nun, da die Pistole wieder in seinem Besitz war. »Wir müssen einander vertrauen, klar? Sowie ich meinen Anteil von dem Geld habe, geht sie mit dir, und wir sind quitt.«

»Abgemacht«, sagte Ray. Es war nicht zu übersehen, daß er vor Wut schäumte, was Gilbert durchaus wahrnahm.

»Lassen wir Vergangenes ruhen. Wir können uns darauf die Hände schütteln«, sagte Gilbert. Er streckte die Hand aus.

Ray warf einen kurzen Blick darauf, und schließlich schüttelten sich die beiden die Hände. »Jetzt laß uns weitermachen, und keine krummen Touren.«

Gilberts Lächeln war ausdruckslos. »Ich habe keine krummen Touren nötig, solange ich sie habe.«

Laura hatte den Austausch mit einer Mischung aus Entsetzen und Unglauben beobachtet. »Was machst du denn da? Warum gibst du ihm die Pistole?« sagte sie zu Ray. »Glaubst du wirklich, daß er sein Wort halten wird?«

Gilberts Miene verzog sich nicht ein bißchen. »Halt dich da raus, Kleine.«

Ihr Tonfall war von Empörung gezeichnet, in ihren Augen stand der Verrat. »Er wird das Geld nicht teilen. Bist du wahnsinnig? Sag ihm einfach, wo es ist, und laß uns von hier verschwinden, bevor er mich umbringt.«

»He!« sagte Ray. »Hier geht’s ums Geschäft, ja? Ich habe wegen diesem Geld vierzig Jahre im Knast verbracht, und ich ziehe jetzt nicht den Schwanz ein, weil du Probleme mit dem Kerl hat. Wo warst du denn all die Jahre? Ich weiß, wo ich war. Aber du? Du kommst daher und erwartest, daß ich dich rauspauke. Gut, ich pauke dich raus, okay? Also weshalb hältst du dich nicht zurück und läßt mich das auf meine Weise erledigen?«

»Daddy, hilf mir. Du mußt mir helfen.«

»Das tue ich ja. Ich bezahle für dein Leben, und das kommt mich nicht billig. Aber das Geschäft mache ich mit ihm, also halt dich da raus.«

Lauras Gesicht nahm einen versteinerten Ausdruck an, und sie starrte mit zusammengebissenen Zähnen zu Boden. Gilbert schien es zu genießen, daß sie eine Abfuhr hatte einstecken müssen. Er machte eine Bewegung, als ob er sie anfassen wollte, doch sie schlug seine Hand beiseite. Gilbert lächelte in sich hinein und sandte ein Zwinkern in meine Richtung. Ich traute keinem von ihnen, und das verursachte mir Magenschmerzen.

Ich sah zu, während Ray die Spielregeln erläuterte und Gilbert über die Anrufe, die wir getätigt hatten, und die Überlegungen dahinter informierte. Ich bemerkte, daß er ein paar zweckdienliche Angaben wegließ, wie zum Beispiel den Namen des Friedhofs und den Namen auf dem Grabmal. »Wir haben das Geld noch nicht gefunden, aber wir sind nahe daran. Wenn du etwas davon haben willst, könntest du dich anschließen und mithelfen«, sagte Ray mit haßerfülltem Blick. Ein eisiges Lächeln wanderte zwischen ihnen hin und her, voller Versprechungen. Ich blickte vom einen zum anderen und hoffte inbrünstig, daß ich nicht dabei wäre, wenn die beiden jemals zu einem Wettpissen antraten.

Ray sagte: »Ich nehme an, du hast die Schlüssel bei dir.«

Gilbert zog sie aus der Tasche, zeigte sie kurz vor, wie sie gemeinsam an einem Ring hingen, und steckte sie dann wieder ein.

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, begann Ray einen Teil der Ausrüstung aufzusammeln, die er zuvor zusammengestellt hatte: das Seil, die beiden Schaufeln und den Bolzenschneider. »Jeder nimmt sich was, und dann gehen wir«, sagte er. »Wir können das ganze Zeug in den Kofferraum packen.«

Gilbert nahm sich den Handbohrer, ließ sich aber Zeit dabei, damit es nicht aussah, als würde er Anweisungen befolgen. »Noch etwas. Ich will die alte Dame dabeihaben.«

»Ich geh’ überhaupt nirgends mit Ihnen hin, Freundchen«, fauchte Helen. Sie ließ sich auf ihren Stuhl sinken und stützte sich dickköpfig auf ihren Baseballschläger.

Ray hielt inne. »Was hat sie denn damit zu tun?«

»Wenn wir jemanden zurücklassen, woher soll ich dann wissen, daß derjenige nicht den Notruf anruft?« sagte Gilbert zu Ray und ignorierte die alte Frau.

Ray sagte: »Komm schon. Das würde sie nicht tun.«

»O doch, das würde ich«, widersprach sie unverzüglich.

Gilbert starrte Ray an. »Siehst du? Die alte Schachtel ist komplett verrückt. Entweder sie geht auch mit, oder die ganze Sache platzt.«

»Was redest du denn da? Das ist doch Schwachsinn. Willst du vielleicht die Kohle sausenlassen?«

Gilbert lächelte und hielt immer noch Lauras Hals umfaßt. Er schüttelte ihren Kopf hin und her. »Ich muß überhaupt nichts sausenlassen. Du wirst der Verlierer sein.«

Ray schloß die Augen und öffnete sie wieder. »Herrgott. Hol deinen Mantel, Ma. Du kommst mit uns. Tut mir leid, daß ich das tun muß.«

Helens Blick wanderte unsicher von Gilbert zu Ray. »Ist schon in Ordnung, Sohn. Ich gehe mit, wenn du darauf bestehst.«

Da Gilbert keinem von uns traute, fuhren wir in einem Auto. Gilbert, Helen und Laura setzten sich zusammen auf den Rücksitz, wobei die alte Frau mit ihrer Enkelin Händchen hielt. Helen hatte nach wie vor ihren Baseballschläger dabei, was Gilbert nicht entging. Als sie seinen Blick spürte, schüttelte sie den Schläger in seine Richtung. »Mit dir bin ich noch nicht fertig, Mama«, murmelte Gilbert.

Ray fuhr, während ich vom Beifahrersitz aus den Weg wies und die Route auf der aufgeschlagenen Karte verfolgte. Er bog auf der Portland Avenue nach Osten ab, gelangte wieder auf die Market Street und von dort aus unter der Brücke durch auf die 71 in Richtung Norden. Es war ein windiger Tag und etwas wärmer als zuvor. Der Himmel zeigte sich als weite Fläche von intensivem Blau, an deren Horizont sich Wolken sammelten. Ich hoffte, daß Ray einen geringfügigen Verkehrsverstoß beging, damit wir von der Highway Patrol gestoppt würden, aber er hielt den Tachometer genau bei der erlaubten Geschwindigkeit und gab Handzeichen, die ich schon seit Jahren niemanden mehr hatte verwenden sehen.

Nach etwa einer Meile auf dem Watterson Expressway bog er auf den Gene Snyder Freeway ein und fuhr an der ersten Ausfahrt ab. Wir gelangten auf die 22, auf der wir eine Zeitlang blieben. Die Straße, die wir gewählt hatten, war vermutlich früher einmal ein selten benutzter Feldweg gewesen, viele Meilen weit draußen auf dem Fand. Ich stellte mir Kaufleute und Farmer aus diesem Landkreis vor, wie sie stundenlang mit ihren Planwagen fuhren, um das waldige Gelände zu erreichen, wo sie ihre Toten zur Ruhe betten konnten. Der Twelve Fountains Memorial Park lag mehrere Meilen jenseits der Grenze zum Landkreis Oldham County, war von Kalksteinmauern umgeben und erstreckte sich über Grund, der einmal Teil eines fünfhundert Morgen umfassenden Landstrichs aus Wäldern und verwildertem Unterholz gewesen war. Im Lauf der Jahre war die hügelige Landschaft gezähmt und zurechtgestutzt worden.

Der Eingang führte durch offenstehende eiserne Tore, flankiert von Pfosten aus unbehauenen Steinen, die viereinhalb Meter hoch gewesen sein müssen. Die Straße gabelte sich nach links und rechts und wand sich um ein Arrangement aus drei großen, steinernen Brunnen, die versetzt angeordnete Fontänen und Wasserschleier in die eisige Novemberluft sprühten. Ein diskretes Schild wies uns nach rechts, wo vor einem Hintergrund aus Zypressen und Trauerweiden ein kleines Steinhaus stand. Ray fuhr auf den gekiesten Parkplatz. Ich konnte erkennen, daß die Frau im Büro zu uns herausspähte.

Gilbert nahm Helen mit sich ins Büro. Lauras Gesicht war nach wie vor so unübersehbar verletzt, daß sie Aufmerksamkeit erregt hätte, die er nicht wollte. Sein eigenes Gesicht war immer noch mit winzigen Schnittwunden übersät, aber niemand würde wagen, zu fragen, was passiert war.

Während die beiden verschwunden waren, fing Laura im Rückspiegel Rays Blick auf. »Was ist mit ihr?« fragte sie, womit sie mich meinte.

»Was soll mit ihr sein?« sagte Ray verärgert.

»Gilbert hat Angst davor, daß Grammy die Bullen ruft. Was macht dich so sicher, daß sie es nicht tun wird?«

Ich drehte mich auf dem Sitz herum und sah ihr ins Gesicht. »Ich rufe niemanden an. Ich versuche lediglich, nach Hause zu kommen.«

Laura ignorierte mich. »Glaubst du etwa, sie wird danebensitzen und uns zusehen, wie wir mit dem Geld davonspazieren?«

»Wir haben es ja noch nicht einmal gefunden«, meinte Ray.

»Aber wenn wir es finden, was ist dann?«

Rays Miene nahm einen verzweifelten Ausdruck an. »Mein Gott, Laura. Was willst du denn von mir?«

»Sie wird Arger machen.«

»Mach’ ich nicht!«

Laura wandte den Blick von mir ab und sah mit verkniffenem Mund aus dem Fenster. Gilbert und Helen kamen zum Wagen zurück. Er bugsierte sie ohne Umschweife wieder auf den Rücksitz und stieg dann auf seiner Seite ein. Helen stieß leise eine bissige Bemerkung hervor und Ray sagte: »Ma, sei vorsichtig.« Sie griff nach vorn und berührte voller Zuneigung seine Schulter.

Gilbert knallte die Autotür zu und reichte mir die Broschüre, die er mitgebracht hatte. Die Frau im Büro hatte uns ein Heftchen überlassen, in dem Satzung und Geschichte des Friedhofs erläutert waren. Das Druckwerk ließ sich zu einem Plan der Anlage auffalten, auf dem interessante Punkte mit einem X gekennzeichnet waren. Äußerem hatte sie ein zusammengefaltetes Blatt beigelegt, auf dem eine detaillierte Karte der Grabstätten in dem Abschnitt, den wir aufsuchen wollten, abgedruckt war. Das Pelissaro-Grabmal hatte sie rot umringelt.

Ich sah nach hinten zu Gilbert. »Sie sollten wissen, daß das hier eventuell zu nichts führt«, sagte ich.

»Ich hoffe, Sie haben für diesen Fall noch einen Reserveplan.«

Mein Reserveplan war, ganz schnell davonzurennen.

Ray ließ den Motor laufen. Ich wies ihm den Weg, den die Frau mit Kugelschreiber markiert hatte. Der Friedhof war als Reihe überlappender Kreise angelegt, die aus der Luft wie das Wedding-Ring-Muster auf einer Patchworkdecke ausgesehen hätten. Sträßchen umringten jeden Abschnitt und bogen ineinander ein wie eine Folge von Kreisverkehren. Wir nahmen die erste gewundene Straße nach links bis zum Three-Maidens-Brunnen. An der Weggabelung fuhren wir wiederum nach links weiter, oben am See vorbei, dann nach rechts und um die Kurve in den alten Teil der Anlage. Der Friedhof verdankte seinen Namen den zwölf Brunnen, die unerwartet aufragten, üppige Wasserspiele, die gen Himmel schossen. In Kalifornien wäre eine derartige Wasserverschwendung Anlaß für eine richterliche Vorladung, insbesondere in den Dürrejahren, die den regenreichen zahlenmäßig klar überlegen waren.

Wir kamen an Soldier’s Field vorüber, wo die Gefallenen begraben lagen, deren gleichförmige weiße Steine ebenso ordentlich in Reih und Glied standen wie Bäume in einem frisch gepflanzten Obstgarten. Die Perspektive verlagerte sich mit uns, und der Fluchtpunkt glitt über die Reihen weißer Kreuze wie der Lichtstrahl eines Leuchtturms. In den älteren Sektionen des Friedhofs, in die wir gerade fuhren, standen eindrucksvolle Mausoleen: Bauwerke aus Kalkstein und Granit mit abgeschrägten Friesen und ionischen Säulen. Den größeren Sarkophagen waren zur Zierde knieende Kinder mit gebeugten Köpfen beiseite gestellt, steinerne Lämmer, Urnen, steinerne Portieren und korinthische Säulen. Da waren Pyramiden, Türmchen und schlanke Frauen in nachdenklichen Posen, Bronzehunde, Bogen, Pfeiler, gemeißelte Büsten streng dreinblickender Herren und kunstvoll gearbeitete Vasen und zwischen alledem eingesetzte Granittafeln und schlichte Grabsteine von bescheideneren Ausmaßen. Wir passierten ein Grab nach dem anderen, und die Reihen erstreckten sich, so weit das Auge reichte. Die Grabsteine spiegelten so viele Verwandtschaftsbeziehungen wider, die Enden so vieler Geschichten. Sogar die Luft wirkte dunkel, und der Boden war von Kummer getränkt. Jeder Stein schien zu sagen, das ist ein Leben, das wichtig war, dies markiert den Heimgang eines lieben Menschen, den wir geliebt haben und den wir schmerzlich und für immer vermissen werden. Sogar die Trauernden waren mittlerweile tot, und die Trauernden, die sie betrauert hatten.

Das Familiengrab der Pelissaros lag in einer Sackgasse. Wir parkten und stiegen aus. Gilbert warf seinen Stetson auf den Rücksitz, und wir marschierten alle fünf bunt durcheinander darauf zu. Ich hielt mir die Fotografie vor die Augen und staunte über die Szenerie, die sich uns bot und die noch genau so aussah wie vor vierzig Jahren. Das Pelissaro-Grabmal, ein weißer Marmor-Obelisk, überragte die umliegenden Gräber. Die Mehrzahl der Bäume auf dem Foto standen noch, und viele von ihnen waren im Lauf der Zeit gewaltig gewachsen. Wie auf dem Bild trugen die Äste auch jetzt kein Laub, doch lag diesmal kein Schnee, und das Gras ruhte, fleckig braun, vermischt mit mattem Grün. Ich entdeckte dasselbe von einem eisernen Zaun umfriedete Grüppchen Grabsteine und das Stück Steinmauer rechts von uns.

Gilbert wurde bereits ungeduldig. »Was machen wir jetzt?«

Ray und ich wechselten einen kurzen Blick. Bislang hatte Gilbert seinen Teil der Vereinbarung eingehalten. Er war mit Laura vorbeigekommen, die nicht nur am Leben und unversehrt war, sondern sogar so aussah, als wäre sie in der vergangenen Nacht nicht zusammengeschlagen worden. Ray und ich standen da, vertrödelten Zeit und wußten, daß wir eigentlich keine Chance hatten, unseren Teil ebenfalls einzuhalten. Wir hatten versucht, auf die Grenzen unserer Erkenntnisse hinzuweisen, aber Gilbert hatte keinen Sinn für Zweideutigkeiten. Helen wartete geduldig in ihren Mantel gewickelt und sah aufmerksam einen hohen Grabstein an, den sie vermutlich mit einem von uns verwechselte.

Gilbert sagte: »Ich habe nicht vor, irgendwelche Grabsteine auszugraben. Und schon gar nicht den hier. Der wiegt wahrscheinlich ein paar Tonnen.«

»Laß mir ‘ne Minute«, bat Ray. Er musterte die Szenerie vor uns und konzentrierte seinen Blick auf Grabsteine, landschaftliche Merkmale, Täler, Bäume und den Ring von Hügeln dahinter. Ich wußte, was er machte, da ich das gleiche tat und nach dem nächsten Zug in dem speziellen Brettspiel suchte, das wir spielten. Ich hatte fast erwartet, in der Lerne einen Wasserturm aufragen zu sehen, auf den irgendein maßgebliches Wort aufgemalt war. Ich hatte gehofft, einen alten Gärtnerschuppen oder einen Wegweiser vorzufinden, irgend etwas, das uns sagte, wohin wir uns von hier aus wenden sollten. Die Grabstätte der Pelissaros mußte von Belang sein, warum hätte er sich sonst die Mühe machen sollen, das Loto zu schicken? Die Schlüssel konnten wichtig sein oder nicht, aber das Grabmal wies auf irgend etwas hin, wenn wir nur herausfinden könnten, was.

Ich sah, wie Ray kursorisch die Namen auf jedem Grabstein in Sichtweite überflog. Keiner von ihnen schien von Belang zu sein. Ich drehte mich um die eigene Achse und musterte die Sackgasse hinter uns, die von Mausoleen umstanden war. »Ich hab’s«, sagte ich. Ich legte Ray eine Hand auf den Arm und wies dort hin. Fünf Grabmale standen im Kreis, graue Bauwerke aus Kalkstein, die in den ansteigenden Hügel eingesenkt waren, der sich über und um die Sackgassen herum wie ein aufgestellter Hemdkragen fächerförmig ausbreitete. Jede der fünf Fassaden war anders. Eine ähnelte einer Miniaturkathedrale, eine andere einer verkleinerten Version des Parthenon. Zwei wirkten mit ihren Kolonnaden und den flachen Stufen, die zu einem einst eindrucksvollen, heute jedoch mit glattem Beton versiegelten Eingang hinaufführten, wie kleine Bankgebäude. Auf jedem von ihnen war der Familienname über der Tür in den Stein gemeißelt worden. Rexroth. Barton. Hartford. Williamson. Es war das fünfte Mausoleum, das meine Aufmerksamkeit erregte. Der Name über der Tür lautete Lawless.

Ray schnippte hektisch mit den Fingern. »Gib mir die Schlüssel«, sagte er zu Gilbert, der seiner Aufforderung widerspruchslos nachkam.

Wir eilten zur Straße hinunter, allesamt vom Anblick des Grabmals in Bann gezogen. Der Eingang wurde von einem Eisentor geschützt, dessen Schlüsselloch man sogar aus der Entfernung erkennen konnte. Durch die Gitterstäbe des Tores war eine Kette geschlungen worden, die sich um das Hauptschloß wand und mit einem Vorhängeschloß gesichert war. Ich blickte auf das Blatt Papier hinab, das in allen Einzelheiten die Lage der Grabmale in diesem Bereich aufzeigte. Die Begräbnisstätte der Familie Lawless lag in Sektion M, Gruppe 550. Die Botschaft von Johnny Lee war abgesandt und empfangen worden. Ich konnte nicht fassen, daß wir es geschafft hatten, aber es war uns tatsächlich gelungen, sein Schreiben zu deuten.

Ray ging auf den Wagen zu, den wir in der Kurve direkt gegenüber dem Mausoleum geparkt hatten. Er öffnete den Kofferraum und holte einen Wagenheber heraus. »Schnappt euch Werkzeug«, sagte er. Erneut gehorchte Gilbert ohne zu murren und bewaffnete sich mit einer Schaufel. Laura griff sich einen Hammer und eine Spitzhacke, die Ray noch in letzter Minute in den Kofferraum geworfen hatte. Wir schritten alle fünf über die Straße, wobei Helen die Nachhut bildete und mit ihrem Baseballschläger aufs Pflaster klopfte. In unregelmäßiger Formation stiegen wir die Stufen hinauf und äugten durch die eisernen Stäbe des Tores. Drinnen befand sich ein gepflasterter Vorraum, der vielleicht drei Meter breit und anderthalb Meter tief war. An der hinteren Wand war Raum für sechzehn Grüften, in die einzelne Särge geschoben werden konnten, wobei die Grüften selbst in vier Reihen übereinander und vier Reihen nebeneinander angeordnet waren.

Wir hielten uns im Hintergrund und sahen zu, wie Ray den kleinen Schlüssel in das Master-Vorhängeschloß schob, das bei der ersten Umdrehung aufsprang. Die Kette, nun lose, fiel klirrend zu Boden. Der große Eisenschlüssel drehte sich mühsam im Schloß des Tores. Das Tor schwang mit einem Quietschen auf, das schrille, schabende Geräusch von Metall auf Metall. Wir gingen hinein. Die sechzehn Begräbnisplätze schienen allesamt gefüllt zu sein. Zwölf waren mit Steinen versehen, in die die Namen der Verstorbenen, die Geburts- und Todesdaten und manchmal ein Gedichtvers eingemeißelt waren. Sämtliche Geburts- und Todesdaten datierten vor der Jahrhundertwende. Die vier übrigen Grüften waren mit glattem Beton zugemauert und wiesen keinerlei Daten auf.

Ray schien sich zunächst nur widerwillig an die Arbeit machen zu wollen. Schließlich war das hier ein Familiengrab. »Ich schätze, wir sollten lieber loslegen«, sagte er. Zögerlich ging er mit dem Wagenheber auf das oberste Betonquadrat los. Nach dem ersten Schlag begann er intensiv auf die glatte Fläche einzuhacken und arbeitete konzentriert weiter. Gilbert nahm eine der Schaufeln und schritt neben Ray mit deren Blatt in ähnlicher Weise ans Werk. Die Geräusche erschienen mir relativ laut und hallten überall in der Grabstätte wider. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob jemand außerhalb des Bauwerks viel hätte hören können. Auf jeden Fall wäre es nicht leicht gewesen, die Quelle all des Gehämmers auszumachen. Der Beton bildete offenbar lediglich eine Verkleidung, da die Oberfläche zu zerbrechen begann und der rohen Gewalt nachgab. Nachdem es Ray erst einmal gelungen war, hindurchzukommen, hackte Gilbert auf das zerbröselnde Material ein und machte die Öffnung breiter.

Unterdessen hatte Laura sich hingekniet und hieb mit der Spitzhacke auf die Betonverkleidung an der unteren Gruft ein. Staub stieg auf und erfüllte die Luft mit einer bleichen, sandigen Wolke aus kleinen Partikeln. Die Gründlichkeit, mit der sie arbeiteten, hatte etwas Verstörendes an sich. All ihre Konflikte und zurückliegenden Zänkereien waren mit der Beschleunigung der Jagd abgelegt worden. Die Entdeckung stand kurz bevor, und die Gier hatte ihre Streitsucht verdrängt.

Helen und ich wichen nach hinten an die Wand zurück, um ihnen nicht im Weg zu stehen. Durch die Gitterstäbe des Tores, das zum Hügel hinausging, konnte ich sehen, wie der Wind an den Ästen der Bäume zerrte. Ich reckte den Hals und blickte besorgt nach oben. Der Himmel hatte sich völlig zugezogen, und über uns formierten sich dunkle Massen. Das Wetter hier war wechselhaft, wohingegen es in Kalifornien statisch und monoton wirkte. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie diese Situation ausgehen sollte, und schwankte zwischen Grauen und der vagen Hoffnung, daß am Ende alles gutgehen würde. Ray und Gilbert würden das Geld aufteilen, sich die Hände schütteln und ihrer Wege ziehen und mir die Freiheit gewähren, das nämliche zu tun. Laura würde Gilbert verlassen. Vielleicht würde sie eine Zeitlang bei ihrem Vater und ihrer Großmutter bleiben, bevor sich die drei wieder trennten. Ray würde vermutlich bei seiner Mutter bleiben, wenn sie an den Augen operiert wurde, es sei denn, er wurde vorher gefaßt und wieder ins Gefängnis gesteckt.

Ich sah auf die Uhr. Es war erst Viertel nach zehn Uhr vormittags. Wenn ich es schaffte, einen Flug am frühen Nachmittag zu bekommen, könnte ich rechtzeitig zum Abendessen zu Hause sein. Ich hatte den größten Teil der vorhochzeitlichen Festivitäten verpaßt. Morgen abend, am Mittwoch, dem Abend vor der Hochzeit, wollten William und »die Jungs« zum Bowling gehen, während Nell, Klothilde und ich wahrscheinlich bei Rosie zu Abend essen würden. Sie hatte uns versichert, daß es nicht nötig wäre, die Feier zu proben. »Was gibt’s da schon zu proben? Wir werden nebeneinander stehen und wiederholen, was uns der Richter vorsagt.« Neil war nicht dazu gekommen, die letzten Änderungen an meinem Brautjungfernkleid vorzunehmen, aber wie viele könnten das schon sein?

Das Hämmern innerhalb des Grabmals ging in einen gleichmäßigen Rhythmus über. Irgendwo weiter weg konnte ich hören, wie ein Friedhofsgärtner einen Laubkompressor in Betrieb nahm. Auf der Straße um uns herum fuhr kein einziges Auto. Ehe ich mich’s versah, schleppten Ray, Gilbert und Laura Leinensäcke aus dem Bauwerk heraus und die Stufen hinunter. Helen und ich folgten nach und blieben neben ihnen stehen, während Ray einen der Säcke auf den Kopf stellte und seinen Inhalt auf den Asphalt leerte. Ray sagte: »Der Mann ist ein Genie. Wer zum Teufel wäre darauf gekommen? Ich wünschte, er wäre hier. Ich wünschte, er hätte das hier sehen können. Seht euch das an. Mein Gott, ist das nicht herrlich?«

Was auf die Erde gepoltert war, war eine wilde Mischung aus amerikanischen und ausländischen Banknoten, Schmuck, Tafelsilber, Aktienzertifikaten, Münzsilber, Geldscheinen der Konföderierten, Inhaberschuldverschreibungen, unbekannten juristischen Dokumenten, Münzen, Probeprägungen, Briefmarken und Gold- und Silberdollars. Der Hügel von Wertsachen reichte mir fast bis an die Knie, und die sechs anderen Leinensäcke waren ebenso vollgestopft wie dieser. Sogar Helen mit ihren schlechten Augen schien den enormen Umfang des Fundes wahrzunehmen. Ein Regentropfen fiel auf das Pflaster daneben, gefolgt von einem zweiten und dritten in weiten Abständen. Ray sah erstaunt nach oben und streckte eine Hand aus. »Laßt uns gehen«, sagte er.

Laura füllte die Sachen wieder in den einen Sack, während Ray und Gilbert die anderen zum Kofferraum des Wagens zerrten und sie hineinhievten. Als der letzte Sack verstaut war, knallte Ray den Deckel zu. Wir wollten gerade alle ins Auto steigen, als mein Blick auf Gilbert fiel. Einen Moment lang dachte ich, er sei stehengeblieben, um sich das Hemd in die Hose zu stopfen, doch mir wurde rasch klar, daß er nach seiner Waffe griff. Ray sah mein Gesicht und warf einen Blick nach hinten zu Gilbert, der nun mit gespreizten Beinen und der Pistole in der Hand dastand. Laura packte Helens Arm, und die beiden blieben wie angewurzelt stehen. Ich sah, wie Laura sich hinabbeugte und ihrer Großmutter etwas ins Ohr flüsterte, sie davon unterrichtete, was vor sich ging, da die alte Frau ja nicht besonders gut sah.

Gilbert betrachtete Ray amüsiert, als wären wir anderen gar nicht anwesend. »Es ist mir schrecklich unangenehm, dir das sagen zu müssen, Ray-Baby, aber dein Freund Johnny war ein knallharter Killer.«

Ray starrte ihn an. »Tatsächlich?«

»Er hat einen Killer für Darrell McDermid angeheuert und ihn abservieren lassen.«

Ray runzelte die Stirn. »Ich dachte, Darrell sei bei einem Unfall umgekommen.«

»Das war kein Unfall. Der Knabe ist um die Ecke gebracht worden. Johnny hat jemandem einen Haufen Kohle dafür gezahlt, daß Darrell ins Gras beißt.«

»Weshalb? Weil er uns bei den Bullen verpfiffen hat?«

»So hat es Johnny gesagt.«

»Und wer hat ihn umgelegt?«

»Ich. Der Junge war sowieso völlig außer sich wegen seines Bruders, also hab’ ich ihn von seinem Unglück erlöst.«

Ray dachte kurz darüber nach und zuckte dann die Achseln. »Na und? Damit kann ich leben. Ist ihm recht geschehen. Der Arsch hat verdient, was er bekommen hat.«

»Ja, wenn man davon absieht, daß Darrell unschuldig war. Darrell hat überhaupt nichts gemacht. Jemand hat Johnny einen riesengroßen Bären aufgebunden«, sagte Gilbert mit gespieltem Bedauern. »Ich war derjenige, der es den Bullen erzählt hat. Ich fasse es nicht, daß ihr da nie dahintergekommen seid.«

»Du warst der Verräter?«

»Leider ja«, sagte er. »Ich meine, machen wir uns doch nichts vor. Ich bin ein Scheißkerl. Ich bin nichts wert. Es ist wie bei dem Witz über den Typen, der eine Schlange rettet und dann von ihr tödlich gebissen wird. Er jammert rum: >He, warum hast du das getan, wo ich dir doch das Leben gerettet habe?< Und die Schlange sagt: >He, Kumpel, du hast doch schon, als du mich aufgehoben hast, gewußt, daß ich eine Giftschlange bin.<«

»Gilbert, ich muß dir etwas sagen. Ich habe mir nie eingebildet, daß du ein netter Kerl bist. Noch nie.« Ganz beiläufig griff Ray nach hinten, und als seine Hand wieder zum Vorschein kam, hielt er darin eine Smith & Wesson 38 Special.

Gilbert lachte. »Verflucht noch mal. Eine Schießerei. Das wird lustig.«

»Eher für mich als für dich«, sagte Ray. Seine Augen funkelten vor Bosheit, doch Gilbert schien lediglich belustigt zu sein, als betrachtete er Ray nicht als ernstzunehmende Bedrohung.

»Daddy, nicht«, sagte Laura.

Ich sagte: »Kommt schon, Leute. Das ist doch nicht nötig. Es ist jede Menge Geld da...«

»Es geht hier nicht um Geld«, sagte Ray. Er sah nicht zu mir her. Er blickte unverwandt Gilbert an, wobei die beiden nicht mehr als drei Meter voneinander entfernt standen. »Hier geht es um einen Kerl, der meine Tochter mißhandelt und meine Ex-Frau zusammengeschlagen hat. Hier geht es um Darrell und Farley, du Arschloch. Verstehen wir uns?«

»Voll und ganz«, sagte Gilbert.

Ich wich unwillkürlich einen Schritt zurück und war dermaßen auf die beiden Männer konzentriert, daß ich nicht sah, was Helen machte. Sie hob den Baseballschläger in die Höhe, schwang ihn heftig in Richtung von Gilberts ungefährem Standort und hieb beim Zurückschwingen Ray auf den Arm. Gilbert erwischte sie überhaupt nicht, und mich hätte sie beinahe auf den Mund geschlagen. Ich konnte den Luftzug an den Lippen spüren, als der Schläger an mir vorbeizischte. Beim Durchschwung traf sie das Auto, und der Aufprall riß ihr den Schläger prompt aus der Hand.

»Herrgott, Ma! Hau ab hier. Schafft sie hier weg!«

Laura schrie und duckte sich. Ich warf mich zu Boden und sah gerade noch rechtzeitig auf, um Gilbert zielen und auf sie feuern zu sehen. Ein Klicken ertönte. Er sah verblüfft auf den Colt hinab. Er spannte die Waffe erneut und drückte den Abzug. Es klickte wieder. Er zog den Schieber zurück, warf eine Patrone aus und ließ ihn dann wieder nach vorn gleiten, womit eine weitere Patrone in die Kammer gelangte. Er schwenkte die Pistole herum und zielte auf Ray. Er drückte den Abzug. Klick. Er spannte erneut und drückte den Abzug. Klick. »Was zum Teufel?« stieß er hervor.

Ray lächelte. »Ach, ich muß mich schämen. Ich hätte erwähnen sollen, daß ich den Schlagbolzen verkürzt habe.«

Ray drückte ab, und Gilbert sank mit einem seltsamen Geräusch zu Boden, als wäre die Luft aus ihm herausgedrückt worden. Ray bewegte sich lässig vorwärts, bis er direkt über Gilbert stand. Er schoß noch einmal.

Gebannt starrte ich ihn an, als er ein weiteres Mal abdrückte.

Ray wandte sich um und blickte in meine Richtung. Er sagte: »Laß das.«

Aus dem Augenwinkel sah ich gerade noch die Umrisse einer Bewegung, und dann hörte ich auch schon das Knallen des Baseballschlägers, als er auf meinen Kopf aufschlug. In dem Sekundenbruchteil, bevor sich die Finsternis herabsenkte, warf ich Helen einen betrübten Blick zu. Ihre unberechenbare Schlagweise hatte ein abruptes Ende genommen, und sie hatte mir einen Volltreffer verpaßt. Das einzige Problem war, daß ich sie sehen konnte und ihre Hände leer waren. Diesmal war Laura am Schlag, und ich war weg, weg, weg.

Ich verbrachte die Nacht mit den vermutlich schlimmsten Kopfschmerzen, die ich je in meinem Leben gehabt hatte, in einem Zweibettzimmer in einer Klinik namens Baptist East. Wegen der Gehirnerschütterung wollte mir der Arzt keine Schmerzmittel geben, und meine Lebensfunktionen wurden ungefähr jede halbe Stunde kontrolliert. Da ich ohnehin nicht schlafen durfte, verbrachte ich zwei quälende Stunden damit, mich von zwei Detectives vom Sheriffbüro Oldham County befragen zu lassen. Die beiden waren ganz nett, aber natürlich standen sie meiner Geschichte skeptisch gegenüber. Sogar mit meiner Gehirnerschütterung log ich das Blaue vom Himmel herunter und reinigte mich während des Erzählens von jeglicher Schuld. Schließlich wurde ein Anruf beim Courier-Journal getätigt, und ein schlechtbezahlter Reporter ging die alten Jahrgänge durch, bis er einen Bericht über den Bankraub fand, mitsamt den Namen sämtlicher Verdächtiger und zahlreichen phantasievollen Spekulationen über den Verbleib des Geldes. Allerdings sollte sich herausstellen, daß das Geld verschwunden blieb, genau wie Ray Rawson, seine betagte Mutter und seine Tochter Laura, deren Lebensgefährte mit von Kugeln durchlöchertem Leib im Leichenschauhaus aufgebahrt lag.

Ich beharrte unbeirrt darauf, daß man mich mit vorgehaltener Waffe zum Mitkommen gezwungen und schließlich niedergeschlagen und zurückgelassen hatte, als ich nicht mehr nützlich war. Wer sollte mir schon widersprechen? Es half, daß sich Lieutenant Dolan, als man in Santa Teresa anrief, für mich verwendete und meine leicht besudelte Ehre verteidigte. Der die Ermittlungen leitende Polizist schrieb meine Schilderung der Ereignisse mühevoll in Druckbuchstaben nieder, und ich erklärte mich bereit, als Zeugin zur Verfügung zu stehen, wenn (und falls) Ray Rawson und sein fröhliches Häufchen festgenommen und vor Gericht gestellt wurden. Ich für meinen Teil glaube nicht, daß die Chancen besonders gut stehen. Zum einen verfügt Ray über das ganze Geld und zum anderen über seine im Lauf von vierzig Jahren geknüpften Kontakte sowie die in dieser Zeit im Gefängnis erworbene kriminelle Gerissenheit. Ich bin mir relativ sicher, daß es ihm gelungen ist, drei falsche Identitätsnachweise — Pässe eingeschlossen — sowie Tickets erster Klasse zu unbekannten Gefilden zu besorgen.

Als ich am Mittwoch morgen entlassen wurde, nahm mich eine Krankenschwester, die gerade Dienstschluß hatte, mit in das Viertel namens Portland, wo Helen Rawson lebte. Ich stieg an der Ecke aus und ging das restliche Stück zu Fuß. Das Haus war dunkel. Die Hintertür stand offen, und ich konnte sehen, daß zahlreiche Kleidungsstücke bei ihrem überstürzten Aufbruch zu Boden gefallen waren. Ich ging ins Schlafzimmer und schaltete die Nachttischlampe an. Alle Pillen der alten Dame waren verschwunden, ein sicheres Zeichen dafür, daß sie sich mit ihrem Sohn und ihrer Enkelin aus dem Staub gemacht hatte. Ich nahm mir die Freiheit, ihr Telefon zu benutzen und machte mir nicht die Mühe, das Gespräch auf eine Kreditkarte buchen zu lassen. Es war zermürbend, bis ich endlich jemand erreichte. Ich versuchte es bei Henry und erreichte wieder seinen Anrufbeantworter. War der Mann denn nie zu Hause? Ich versuchte es bei Rosie, wo niemand abnahm. Ich rief meine Freundin Vera an, die mit ihrem Ehemann, der Arzt war, über das lange Thanksgiving-Wochenende weggefahren sein mußte. Ich rief meinen alten Freund Jonah Robb an. Niemand da. Ich versuchte es sogar bei Darcy Pascoe, der Empfangsdame der Firma, bei der ich einmal gearbeitet habe. Ich hatte kein Glück und begann langsam in Panik zu geraten, während ich mir den Kopf darüber zerbrach, wer in aller Welt mir aus dieser Notlage helfen könnte. Voller Verzweiflung rief ich schließlich die einzige Person an, die mir einfiel. Das Telefon klingelte viermal, bis sie abhob. Ich sagte: »Hallo, Tasha? Hier ist deine Cousine Kinsey. Erinnerst du dich noch daran, daß du gesagt hast, ich solle anrufen, wenn ich etwas brauchte?«