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Ich sah in die Tasche am Sitz vor mir: Kotztüte, beschichtete Karte mit Anweisungen für den Notfall in Comicfassung, ein langweiliges Fluglinienmagazin und ein Geschenkkatalog für den Fall, daß ich meine Weihnachtseinkäufe in der Luft tätigen wollte. Es würde eine lange Reise werden, und das ohne meinen zuverlässigen Leonard-Krimi. Ich merkte, wie mein Blick langsam wieder zu der Schwangeren wanderte, die auf der anderen Seite des Gangs zwei Reihen vor mir saß. Auf diese Entfernung konnte ich nur einen Teil ihres Gesichts sehen. Das Gewirr rotbraunen Haares weckte in mir den Drang, mit einer Bürste auf sie loszugehen.
Ich konnte immer noch nicht fassen, daß ich das tat. Ich beschloß, lieber erst einmal meine Bestände zu überprüfen, um meine Situation einschätzen zu können. Ich hatte die Kleider, die ich trug, also meine Reeboks und Socken, Unterwäsche, Jeans, Rollkragenpullover und Blazer. Ich steckte die Hände in meine Jackentaschen und fand die Kinokarte von letzter Woche, zwei Vierteldollars und einen Kugelschreiber sowie eine Büroklammer. Ich befühlte meine rechte Hosentasche, die leer war. In der anderen befand sich ein zerknülltes Papiertaschentuch, das ich herausfischte und dazu benutzte, mich zu schneuzen. Eines nach dem anderen holte ich die Dinge aus meiner Handtasche und legte sie auf den Sitz neben mir. Ich hatte meine Brieftasche mit dem kalifornischen Führerschein und meine Lizenz als Privatdetektivin; zwei Kreditkarten von größeren Gesellschaften, von denen die eine bis 2500 Dollar belastet werden konnte (abzüglich des bereits ausgenutzten Betrags natürlich), und die andere, wie ich soeben bemerkte, abgelaufen war. Tja, verdammt. Ich hatte 46 Dollar und 52 Cents in bar, meine Telefonkreditkarte und eine Servicekarte für den Geldautomaten, die außerhalb Kaliforniens nutzlos war. Wo war mein Scheckheft? Ah, es lag zu Hause auf meinem Schreibtisch, wo ich Rechnungen bezahlt hatte. Ich mußte feststellen, daß einem Tugend gar nichts nützt, wenn man in der Klemme sitzt. Hätte ich meine Schulden ignoriert, hätte ich mein Scheckheft dabei, was mein verfügbares Guthaben um drei- bis vierhundert Dollar erhöhen würde. Im Innenfach meiner Brieftasche steckten meine Dietriche, die sich für Spontan-Jetsetter stets als hilfreich erwiesen.
Darüber hinaus besaß ich eine Zahnbürste und Zahnpasta und die saubere Unterhose, die ich immer dabeihabe. Außerdem hatte ich mein Schweizer Offiziersmesser, meine Sonnenbrille, einen Kamm, einen Lippenstift, einen Korkenzieher, den Schlüssel aus Johnnys Safe, zwei Stifte und den alten Einkaufszettel, auf dem ich die Autonummer des Taurus notiert hatte, ein kleines Fläschchen Aspirin und meine Antibabypillen. Was auch immer sonst geschehen mochte, ich würde jedenfalls nicht schwanger werden, also warum machte ich mir Sorgen? Schließlich hatte ich Urlaub und keinerlei sonstige dringende Verpflichtungen.
Ich hatte nicht die leiseste Idee, was ich tun sollte, wenn wir landeten. Vermutlich würde ich warten und beobachten, was meine Reisegefährtin vorhatte. Wenn sie das Land verließ, konnte ich rein gar nichts dagegen unternehmen, da ich nämlich meinen Paß nicht dabeihatte. Vermutlich könnte ich mit dem Führerschein nach Mexiko einreisen, aber das wollte ich nicht. Ich hatte zu viele Geschichten über mexikanische Gefängnisse gehört. Positiv war zu vermerken, daß mein Rückflug bezahlt war und ich mich jederzeit in ein Flugzeug setzen und nach Hause fliegen konnte, daß ich mich lächerlich machte... erfahrungsgemäß nicht das erste Mal.
Sowie das Bitte-anschnallen-Schild ausgegangen war, löste ich meinen Gurt und suchte mir in dem Fach über den Sitzen ein Kissen und eine Decke. Ich ging in den hinteren Teil des Flugzeugs und benutzte die sanitären Anlagen an Bord, wusch mir die Hände, besah meine Erscheinung im Spiegel über dem Waschbecken und nahm mir auf dem Rückweg zu meinem Platz eine Ausgabe von Time mit. Der Pilot meldete sich über die Bordsprechanlage und sagte in beruhigendem Ton ein paar pilotentypische Dinge. Er erzählte uns etwas über unsere Flughöhe, das Wetter und die Flugroute sowie unsere voraussichtliche Ankunftszeit.
Der Getränkewagen kam vorbei, und ich leistete mir für drei Dollar schlechten Wein. Ich konnte es kaum erwarten, meinen Vierhundertsiebenundachtzig-Dollar-Snack zu verspeisen, der sich als eine Cocktailtomate, ein Zweiglein Petersilie und ein »delikat belegtes« Brötchen im Format eines Briefbeschwerers entpuppte. Als Dessert gab es eine folienverpackte Schokoladenwaffel. Nachdem wir abgefüttert waren, wurde das Licht in der Kabine gedämpft. Die Hälfte der Passagiere entschied sich für Schlafen, während die andere Hälfte die Leselämpchen einschaltete und entweder las oder Akten bearbeitete. Fünfundvierzig Minuten verstrichen, und dann ging auf einmal die Schwangere an meinem Sitz vorbei.
Ich wandte mich um und sah interessiert zu, wie sie auf die beiden Toiletten im hinteren Teil des Flugzeugs zusteuerte. Ich musterte die anderen Passagiere in der unmittelbaren Umgebung. Die meisten schliefen. Niemand schien mir die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Sowie die Frau die Toilette hinter sich abgesperrt hatte, schob ich mich aus meinem Sitz und ging zwei Reihen weiter vor, wo ich mich auf dem Gangplatz zwei Sitze neben ihrem niederließ. Ich tat kurz so, als sähe ich in die am Sitz angebrachte Tasche und suchte nach etwas, das sich dort befinden müßte. Ich besaß nicht die Zeit (oder die Kühnheit), den Matchsack herunterzuholen. Die Frau hatte offenbar ihre Handtasche mitgenommen — nicht sehr vertrauensvoll von ihr — , und so konnte ich deren Inhalt nicht durchwühlen. Ich sah in ihre Sitztasche. Nichts von Interesse. Das einzige, was sie liegengelassen hatte, war der gebundene Roman von Danielle Steel, der nun zugeklappt auf dem mittleren Sitz lag. Ich sah auf das Vorsatzblatt, doch es war kein Name in das Buch geschrieben worden. Ich bemerkte, daß sie ihre Bordkarte als Lesezeichen verwendete. Ich zog sie heraus, schob den Abriß in meine Jackentasche und kehrte an meinen Platz zurück. Niemand kreischte auf, zeigte mit dem Finger auf mich oder verriet mich postwendend.
Nur Momente später kam die Schwangere auf dem Rückweg zu ihrem Platz erneut an mir vorbei. Ich sah, wie sie ihr Buch in die Hand nahm. Sie erhob sich zur Hälfte und sah unter ihrem Sitzkissen nach, beugte sich dann herab und suchte unter dem Sitz nach der fehlenden Bordkarte. In der Luft über ihrem Kopf konnte ich das Fragezeichen beinahe entstehen sehen, wie eine Wolke. Sie zuckte leicht mit den Schultern. Dann stand sie wieder auf und nahm ein Kissen und eine winzige Decke aus dem Gepäckfach über ihr, schaltete das Licht aus und machte es sich mit der Decke über dem Oberkörper auf ihrem Sitz bequem.
Ich zog den Abriß ihrer Bordkarte aus meiner Jackentasche und las die Sparinformation, die darauf abgedruckt war. Ihr Name war Laura Huckaby, ihr Zielort Palm Beach.
Dallas/Fort Worth liegt in der zentralen Zeitzone, zwei Stunden vor uns. Nach gut drei Zusatz-Stunden in der Luft war es 1.45 Uhr, als wir endlich landeten. Wenige Minuten vor unserer Ankunft meldete sich die Stewardeß über die Sprechanlage und gab die Nummern der Flugsteige für verschiedene Anschlußflüge bekannt. Außerdem teilte sie uns mit, daß das Flugzeug etwa eine Stunde und zehn Minuten Aufenthalt hätte, bevor Flug 508 nach Palm Beach fortgesetzt wurde. Falls wir das Flugzeug verlassen wollten, müßten wir zum Wiedereinsteigen unsere Bordkarten bei uns haben. Die arme Laura Huckaby hatte nun dank meiner Bosheit keine Bordkarte mehr. Ich beobachtete sie schuldbewußt und rechnete damit, daß sie ein besorgtes Gespräch mit der Stewardeß führen oder unglücklich auf ihrem Platz sitzen bleiben würde, bis das Flugzeug wieder startete.
Statt dessen erhob sie sich, kaum daß die Maschine am Terminal haltgemacht hatte und das Bitte-anschnallen-Schild ausgegangen war, griff sich ihren Regenmantel und den Matchsack, schob das Buch in die Außentasche und schloß sich der langsam vorwärtsschreitenden Schlange aussteigender Passagiere an. Ich wußte nicht, was ich davon halten sollte, war aber gezwungen, ihr zu folgen. Wir stapften alle durcheinander die Rampe hinunter, ein buntes Sortiment erschöpfter nächtlicher Reisender. Die wenigen Passagiere mit Reisetaschen strömten auf die Ausgänge zu, doch die meisten gingen zur Gepäckabholung. Ich behielt Laura Huckaby fest im Blick. Ihr kastanienrotes Haar war im Schlaf plattgedrückt worden, und die Rückseite ihres Jeanskleids war von Querfalten überzogen. Sie hatte immer noch den Regenmantel über dem Arm hängen, mußte jedoch zweimal innehalten, um den Matchsack von einer Hand in die andere zu nehmen. Wohin wollte sie? Dachte sie, das hier sei Palm Beach?
Der Flughafen von Dallas/Fort Worth war in neutralen und beigen Farbtönen gehalten und mit erdfarbenen Fliesen ausgelegt. Die Korridore waren breit und zu dieser frühen Stunde still. Eine Gruppe asiatischer Geschäftsleute wurde in einem surrenden Elektrowagen an uns vorbeigekarrt, der in regelmäßigen Abständen piepte, um unachtsame Fußgänger zu warnen. Die Deckenbeleuchtung ließ uns alle gelbsüchtig aussehen. Die meisten Ladengeschäfte waren vergittert und finster. Wir passierten ein Restaurant und eine Kombination aus Zeitschriften- und Geschenkladen, wo es gebundene Bücher und Taschenbücher gab, Hochglanzillustrierte, Zeitungen, texanische Grillsaucen, Tex-Mex-Kochbücher und T-Shirts mit Texas-Logos. Die Gepäckabholung für Flug 508 tauchte hinter einer Drehtür auf. Laura Huckaby schob sich vor mir hindurch und zögerte dann auf der anderen Seite, als müßte sie sich erst zurechtfinden. Zuerst dachte ich, sie hielte nach jemandem Ausschau, doch das schien nicht der Fall zu sein.
Ich ging an ihr vorbei und hinüber zu dem Karussell, auf dem das Gepäck ankommen würde. Mir war nicht klar, was sich abspielte. Hatte sie seit jeher geplant, hier schon auszusteigen? War ihr Koffer bis nach Palm Beach aufgegeben worden oder nur bis Dallas/Fort Worth? Eine Reihe aneinanderhängender Chrom-Kunstleder-Stühle stand zur Linken. In einer Ecke war ein Fernsehgerät oben an der Wand angebracht, und die meisten Köpfe reckten sich in diese Richtung. In schreienden Farben war ein jüngst erfolgter Flugzeugabsturz zu sehen, und in einer grell beleuchteten Landschaft stieg der schwarze Rauch noch von dem verkohlten Flugzeugrumpf auf. Die Reporterin sprach direkt in die Kamera. Sie trug einen Mantel aus Kamelhaar, und Schnee umwehte sie. Der Wind peitschte durch ihr Haar und färbte ihre Wangen leuchtend rot. Der Ton war kaum hörbar, aber uns war allen klar, wovon die Rede war. Ich ging zum Trinkbrunnen hinüber und trank ausgiebig und geräuschvoll.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Laura Huckaby auf das an der Wand befestigte Telefonbuch zuging, wo sie eine Liste von Hinweisen dafür durchlas, wie man den Zubringerdienst für die zahlreichen Hotels in der Umgebung rief. Sie griff nach dem Telefonhörer und drückte vier Ziffern. Ein kurzes Gespräch folgte. Ich wartete, bis sie wieder aufgelegt hatte, setzte mich auf ihre Spur und folgte ihr, als sie auf die Rolltreppe zuging. Wir fuhren ins Erdgeschoß hinab, wo wir mehrere Glastüren durchschritten.
Die Nachtluft draußen war erstaunlich kalt. Trotz der künstlichen Beleuchtung lag eine umfassende Düsternis über dem Abholplatz. Zwischen Gehsteig und Gebäude waren Landschaftsgärtner am Werk gewesen. Die gesamte gelbbraune Fassade entlang waren in akkurat angeordneten Abständen Grasbüschel gepflanzt, wie die Bäusche bei einer Haartransplantation. Ich ging bis zu der Stelle, wo das Schild »Hotelzubringer« stand, drehte mich um, wartete und sah geduldig die Straße hinunter. Laura Huckaby und ich nahmen keinen Blickkontakt auf. Sie wirkte müde und besorgt und zeigte keinerlei Interesse an ihren Mitreisenden. Einmal stöhnte sie auf und preßte sich eine Faust ins Kreuz. Zwei weitere Personen gesellten sich zu uns: ein untersetzter Herr in einem Geschäftsanzug, der eine Aktentasche und einen Kleidersack schleppte, und ein junges Mädchen in einem Skiparka mit einem vollgestopften Rucksack. Ein paar Autos fuhren mit solcher Geschwindigkeit vorbei, daß uns eine Brise aus Auspuffgasen um die Füße wirbelte. Zu dieser frühen Morgenstunde hatte der Luftverkehr abgenommen, aber ich konnte immer noch hin und wieder das dumpfe Dröhnen von Jets beim Abheben hören. ‘
Nach und nach fuhren mehrere Hotelzubringer an uns vorbei. Sie versuchte nicht, einen davon anzuhalten, ebensowenig wie die anderen beiden, die mit uns warteten. Endlich kam ein roter Kleinbus um die Ecke gefahren. Auf der Seite stand neben einer symbolischen Schloßsilhouette in schwungvollen Goldbuchstaben The Desert Castle. Laura Huckaby hob die Hand und winkte dem Wagen. Der Fahrer sah die Geste und hielt am Straßenrand. Er stieg aus dem Bus und half dem Geschäftsmann mit seinem Gepäck, während sie und ich einstiegen und der Geschäftsmann uns folgte. Die junge Frau mit dem Rucksack blieb, wo sie war, den Blick nach wie vor ängstlich auf herannahende Fahrzeuge gerichtet. Ich setzte mich auf einen Platz am hinteren Ende des verdunkelten Busses. Laura Huckaby nahm schließlich vorne Platz und stützte erschöpft die Wange auf die Handfläche. Der größte Teil ihres Haares hatte sich aus dem Knoten auf ihrem Kopf gelöst.
Der Fahrer kehrte zu seinem Platz zurück und schloß die Tür. Dann nahm er ein Klemmbrett zur Hand und drehte sich halb zu uns um, um die Namen auf seiner Liste zu bestätigen. »Wheeler?«
»Hier.« Das war der Geschäftsmann im Straßenanzug.
»Hudson?«
Zu meinem Erstaunen hob Laura Huckaby die Hand. Hudson? Wie war es dazu gekommen? Interessante Entwicklung. Nicht genug damit, daß sie in einer Stadt das Flugzeug verlassen hatte, die gar nicht ihr ursprünglicher Zielort war, hatte sie offenbar auch unter einem anderen Namen ein Hotelzimmer reserviert. Was versuchte sie hier zu drehen?
»Ich bin mit jemandem verabredet«, sagte ich als Antwort auf seinen fragenden Blick.
Der Fahrer nickte, legte das Klemmbrett beiseite, legte einen Gang ein und fuhr los. Wir folgten einem komplizierten Kurs aus kreuz und quer verlaufenden Fahrspuren um das Flughafengebäude herum und rasten schließlich durch offenes Land. Die Gegend war flach und sehr, sehr dunkel. Hin und wieder schoß ein erleuchtetes Gebäude wie eine schimmernde Fata Morgana aus der Schwärze. Wir fuhren an etwas vorüber, was die Restaurantzeile gewesen sein muß: ein Steakhaus nach dem anderen, so bunt beleuchtet wie eine der Hauptstraßen von Las Vegas. Schließlich kam ein großes Hotel für Geschäftsreisende in Sicht, eine dieser geschmacklosen Bettenburgen, bei denen der Zimmerpreis — Einzelzimmer $ 69,95 - gleich unterhalb des Namens steht. Die roten Neonbuchstaben des Desert Castle schienen sich von Farbe zu leeren und gleich wieder zu füllen. Im Negativ stand auf dem Schild Schlummern wie ein alter Ritter. Oh, bitte. Das Logo bestand aus den Umrissen zweier grüner Neonpalmen, die einen roten Neonturm mit Zinnen flankierten.
Wir passierten eine Oase mit hohen Palmen, die um eine Attrappe des auf dem Hotelgebäude abgebildeten Turms herumstanden, ein Bauwerk aus falschem Stein mitsamt einem leeren Burggraben und einer Zugbrücke. Als der Zubringerbus am Zu- und Aussteigeplatz für Hotelgäste anhielt, blieb ich zurück, bis man Laura Huckaby (alias Hudson) aus dem Wagen geholfen hatte. Es schienen keine Pagen im Dienst zu sein. Der Mann im Straßenanzug nahm seine Aktentasche und seinen Kleidersack. Wir drei betraten durch Drehtüren die Hotelhalle, ich als letzte. Außer dem Matchsack hatte Laura Huckaby kein Gepäck.
Drinnen kam das »Merrie-aulde-England«-Motiv zu voller Geltung. Alles war karmesinrot und golden, schwere Samtportieren, Zinnen aus Stuck und Tapisserien an Metallspießen, die aus den »Schloßmauern« ragten. Neben den Aufzügen wies ein Pfeil den Weg zu den Toiletten, die mit »Knappen« und »Mägde« bezeichnet waren. An der Rezeption sorgte ich dafür, daß ich als dritte an die Reihe kam, da ich Laura Huckabys Aufmerksamkeit nicht auf mich lenken wollte. Angesichts der Zimmerpreise konnte ich mir einen Aufenthalt von vielleicht zwei Nächten leisten, müßte mich aber bei zusätzlichen Ausgaben zurückhalten. Ich hatte keine Ahnung, wie lange Laura Huckaby hier bleiben würde. Sie brachte die Anmeldeformalitäten hinter sich und ging mit dem Matchsack im Schlepptau auf die Aufzüge zu. Indem ich den Hals etwas reckte, konnte ich erkennen, daß über den Aufzügen eine Reihe waagerechter Lichter angebracht waren, die anzeigten, wo sich der Aufzug gerade aufhielt. Sie betrat den ersten Aufzug, und als sich die Türen hinter ihr geschlossen hatten, murmelte ich niemand Bestimmtem »Bin gleich wieder da« zu und eilte dorthin. Das rote Licht schritt systematisch von einer Etage zur anderen weiter und blieb bei der zwölften stehen.
Ich kam in dem Moment an die Rezeption zurück, als der Mann vor mir mit seiner Anmeldung fertig war und zu den Aufzügen ging. Ich trat an die Theke. Angesichts der Dekoration hätte ich erwartet, daß die Angestellte einen Schleier oder wenigstens ein Mieder trug. Statt dessen hatte sie das klassische Hotel-Ensemble an: weiße Bluse, marineblauer Blazer und ein schlichter marineblauer Rock. Auf ihrem Namensschild stand Vikki Biggs, Nachtdienst. Sie war Mitte Zwanzig, vermutlich neu hier und deshalb zur Nachtschicht abkommandiert worden. Sie gab mir ein Formular zum Ausfüllen. Ich kritzelte Namen und Adresse hin und sah ihr zu, wie sie eine Kreditkartenquittung ausstellte.
Sie warf einen Blick auf die Adresse, als sie die Quittung an das Anmeldeformular heftete. »Mein Gott. Heute nacht kommen aber auch alle aus Kalifornien«, sagte sie. »Die andere Frau kam auch aus Santa Teresa.«
»Ich weiß. Wir reisen zusammen. Sie ist meine Schwägerin. Könnten Sie mir vielleicht ein Zimmer auf demselben Stockwerk wie ihr geben?«
»Mal sehen, was sich machen läßt«, meinte sie. Sie tippte ein paar Zeilen in die allgegenwärtige Tastatur ein und betrachtete nachdenklich den Bildschirm. Manchmal möchte ich mich über die Theke lehnen und selbst nachsehen. Aus Vikkis Perspektive waren die Neuigkeiten nicht so günstig. »Tut mir leid, aber dieses Stockwerk ist voll. Ich habe noch ein Zimmer im achten.«
»Ist mir recht«, sagte ich. Und dann, wie nachträglich: »Welche Zimmernummer hat sie?« Als hätte Vikki Biggs sie soeben erwähnt, und sie wäre mir lediglich entfallen.
Ms. Biggs war nicht auf den Kopf gefallen. Offensichtlich hatte ich soeben im Hotelmanagement streng verbotenes Terrain betreten. Sie verzog mit einem bedauernden Blick den Mund. »Ich darf leider keine Zimmernummern herausgeben. Aber ich sage Ihnen was: Sie können sie ja anrufen, wenn Sie auf Ihrem Zimmer sind. Die Vermittlung stellt Sie gerne zu ihr durch.«
»Oh, natürlich. Kein Problem. Ich kann mich auch später noch bei ihr melden. Ich weiß ja, daß sie genauso müde ist wie ich. Mit der Nachtmaschine zu fliegen, ist zermürbend.«
»Das kann ich mir denken. Sind Sie geschäftlich hier oder auf Urlaub?«
»Ein wenig von beidem.«
Ms. Biggs steckte meinen Zimmerschlüssel in ein Mäppchen und schob beides über die Theke zu mir herüber. »Angenehmen Aufenthalt.«
Als ich mit dem Aufzug nach oben fuhr, wurde ich mit symphonischer Musik berieselt, während ich mich in dem Rauchglasspiegel musterte. »Du siehst ekelhaft aus«, sagte ich zu meinem Ebenbild. Im achten Stock war die Beleuchtung düster, und es herrschte Totenstille. Wie ein Dieb tappte ich den breiten, mit Teppichboden ausgelegten Flur entlang und schloß meine Tür auf. Der mittelalterliche Zierat erstreckte sich nicht bis hierher. Mit einemmal war ich aus dem England des vierzehnten Jahrhunderts im wilden und rauhen Westen angekommen, in einem Dekor, das noch von den Vorbesitzern übriggeblieben war. Das Zimmer war in gebrannten Orange- und Brauntönen gehalten und die Tapete wie eine Holztäfelung strukturiert. Die Tagesdecke war mit Kakteen und Sätteln gemustert und mit verschiedenen Rinderbrandzeichen bestickt. Ich sah mich rasch überall um, um meine Unterkunft würdigen zu können.
Rechts von der Tür befand sich ein doppeltüriger Wandschrank mit vier hölzernen Kleiderbügeln, einem Bügeleisen und einem etwa sechzig Zentimeter langen Bügelbrettlein mit kurzen Metallfüßen. Gegenüber war eine Ankleideecke mit Spiegel und Waschbecken, daneben hing rechts an der Wand ein Fön. Auf der Ablagefläche stand eine Kaffeemaschine für vier Tassen, dazu Zucker und Kaffeeweißer in Portionstüten. Ein Körbchen barg kleine Fläschchen mit Shampoo, Haarspülung und Körperlotion, außerdem ein kleines Nähset und eine Duschhaube in einem Schächtelchen. Im Badezimmer gab es eine Fiberglaswanne mit einer Duschvorrichtung, die etwa auf Nackenhöhe aus der Wand ragte. Der Duschvorhang aus Plastik war mit Hufeisen und sich aufbäumenden Wildpferden bedruckt. Dazu kamen eine Toilette, drei Badetücher, eine Badematte und eine dieser Badewanneneinlagen aus Gummi, die das Risiko eines üblen Sturzes und eines noch übleren Prozesses mindern sollen.
Es gab keine Minibar, aber ein Glas mit cellophanverpackten Bonbons in vier schreienden Farben. He, toll. Was für ein Luxus. Darüber hinaus war ich mit einem Telefon, einem Fernseher und einem Radiowecker gesegnet. Morgen früh würde ich Henry anrufen und mich über die neuesten Entwicklungen in Santa Teresa informieren. Bis dahin zog ich die Vorhänge zu und schälte mich aus meinen Kleidern, die ich ordentlich auf die magere Auswahl an Kleiderbügeln hängte. Aus Gründen der Hygiene wusch ich mit einem Klumpen Haarshampoo mein Höschen aus, solange ich noch dazu kam. Im Notfall konnte ich den Fön und das Bügeleisen dazu verwenden, es zu trocknen, bevor ich es wieder anzog. Ein kurzer Anruf bei American Airlines sagte mir, daß es bis später am Tag keinen einzigen Flug von Dallas nach Palm Beach gab, was hieß, daß Laura die Nacht hier verbringen würde.
Es war fast halb vier Uhr morgens, als ich das Bitte-nicht-stören-Schild außen an die Tür hängte und nackt zwischen die Laken schlüpfte. Ich sank nahezu auf der Stelle in einen tiefen, friedlichen Schlaf. Wenn Laura Huckaby trickreich war und irgendwann im Taufe der nächsten acht Stunden das Hotel verließ, konnte ich es vergessen. Dann würde ich mich in ein Flugzeug setzen und nach Hause fliegen.
Ich wachte um die Mittagszeit auf und benutzte meine Reisezahnbürste, um den Pelz aus meinem Mund zu entfernen. Ich duschte, wusch mir die Haare und stieg wieder in die Kleider vom Vortag, wobei ich meine Ersatzunterhose anzog, da mein frisch gewaschenes Höschen noch feucht war. Dann gönnte ich mir ein kräftiges Mahl aus heißem Kaffee mit zwei Tütchen Zucker und Kaffeeweißer pro Tasse sowie vier Bonbons, zwei Orange und zwei Kirsch. Als ich schließlich die Vorhänge aufzog, wankte ich vor der grellen texanischen Sonne zurück. Vor dem Fenster konnte ich trockenes, flaches Fand sehen, das sich fast ohne einen Baum oder Busch bis zum Horizont erstreckte. Lichtblitze schossen vom einzigen anderen Gebäude in Sicht herüber: einem Bürokomplex mit verspiegelter Fassade auf der anderen Seite der Sackgasse. Zur Rechten verschwand eine vierspurige Schnellstraße in beiden Richtungen, ohne irgendeinen Hinweis darauf, wohin sie zur einen oder anderen Seite führte. Das Hotel war offenbar inmitten eines Gewerbe-/Industrieparks mit nur einem einzigen anderen Bewohner gebaut worden. Während ich noch hinaussah, tauchte zu meiner Linken eine Gruppe Täufer auf. Sie sahen aus wie Kinder, vielleicht aus den mittleren Klassen, in jenem Wachstumsstadium, in dem Körpergrößen und -formen in allen Variationen vorkommen. Groß, klein, untersetzt oder dünn wie Bohnenstangen, rannten sie mit knochigen Knien dahin, die Langsameren hinter den Schnellen drein. Sie trugen Shorts und grüne Satintrikots, waren jedoch zu weit von mir entfernt, als daß ich den Namen der Schule auf ihren Uniformen hätte lesen können.
Ich zog die Vorhänge wieder zu und ging zum Bett hinüber, wo ich mich ausstreckte und mir Kissen in den Rücken stopfte, während ich Henry anrief. Sowie er sich meldete, sagte ich: »Rat mal, wo ich bin.«
»Im Gefängnis.«
Ich lachte. »In Dallas.«
»Das überrascht mich nicht. Ich habe heute morgen mit Chester gesprochen, und er hat mir erzählt, daß du irgendeine Spur ins Ungewisse verfolgst.«
»Was gibt’s denn Neues bei den Lees? Haben sie inzwischen herausgefunden, was gestern abend gestohlen wurde?«
»Meines Wissens nicht. Chester hat mir erzählt, daß die Sockelleiste unten am Küchenschrank abgerissen wurde. Es hat den Anschein, als hätte der alte Knabe eine Art Geheimfach konstruiert, als er die Spüle eingebaut hat. Der Hohlraum hätte natürlich auch leer sein können, aber es ist doch wahrscheinlicher, daß jemand mit dem, was sich darin befand, davonmarschiert ist.«
»Ein Geheimfach zusätzlich zu dem Safe? Das ist ja interessant. Ich frage mich, was er zu verstecken hatte.«
»Chester glaubt, es waren Kriegsdokumente.«
»Davon hat er mir erzählt. Ich glaube zwar nicht daran, aber das finde ich noch heraus. Der Typ, den ich gesehen habe, hat den Matchsack seiner Frau oder Freundin gegeben, und sie hat ihn gestern abend mit ins Flugzeug genommen. Der Mann selbst war nicht an Bord, aber vermutlich hat er vor, sich mit ihr zu treffen. Sie hatte eigentlich bis Palm Beach gebucht, aber sie ist in Dallas ausgestiegen, also habe ich das natürlich auch getan.«
»Oh, natürlich. Warum auch nicht?«
Ich mußte über seinen Tonfall lächeln. »Auf jeden Fall könntest du die Polizei dazu veranlassen, das Motel Capri zu überprüfen. Ich bin nicht dazu gekommen, Chester davon zu erzählen. Ich weiß die Nummer nicht, aber es war die zweite Hütte von rechts. Ihr Kumpan könnte sich immer noch dort aufhalten, falls er nicht inzwischen abgereist ist.«
»Ich mache mir Notizen«, sagte Henry. »Die gebe ich dann der Polizei, wenn du möchtest.«
»Was ist mit Ray? Glauben sie, daß er etwas damit zu tun hat?«
»Tja, irgendeinen Bezug muß er dazu haben. Die Polizei hat versucht, ihn zu befragen, aber er schweigt wie ein Grab. Wenn er irgend etwas darüber weiß, so sagt er es nicht.«
»Klingt, als hätte ihm jemand wegen der Auskunft über die Sockelleiste eines übergezogen.«
»Das vermute ich auch. Einer der Polizisten hat ihn in die Ambulanz im St. Terry’s gebracht, doch sowie der Arzt mit seiner Behandlung fertig war, ist er verschwunden, und seitdem hat niemand mehr etwas von ihm gehört.«
»Tu mir einen Gefallen. Geh hinüber ins Hotel Lexington und sieh nach, ob er dort ist. Zimmer 407. Ruf nicht vorher an. Vielleicht geht er nicht ans Telefon —«
Henry fiel mir ins Wort. »Zu spät. Er ist schon weg, und ich glaube kaum, daß er wieder auftaucht. Bucky ist heute morgen hinübergegangen, und da war sein Zimmer schon leer. Natürlich ist die Polizei an ihm als wichtigen Zeugen interessiert. Wie steht’s mit dir? Soll ich dem Detective sagen, was du gesehen hast?«
»Das kannst du machen, aber ich weiß nicht, ob es viel nützen wird. Sowie ich herausfinde, was los ist, rufe ich selbst die Polizei von Santa Teresa an. Die Polizei hier wird nicht zuständig sein, und im Moment weiß ich noch nicht einmal genau, um welche Art von Straftat es überhaupt geht.«
»Körperverletzung auf jeden Fall.«
»Ja, aber was ist, wenn Ray Rawson nicht mehr auftaucht? Selbst wenn er sich wieder meldet, weiß er vielleicht gar nicht, wer ihn niedergeschlagen hat, oder er weigert sich, ihn anzuzeigen. Und was den angeblichen Einbruch angeht, wissen wir nicht einmal, was gestohlen wurde, geschweige denn, wer es war.«
»Ich dachte, du hättest den Kerl gesehen.«
»Sicher, ich habe ihn aus Johnnys Wohnung kommen sehen. Ich kann aber nicht beschwören, daß er irgend etwas mitgenommen hat.«
»Was ist mit diesem Mädchen mit dem Matchsack?«
»Sie weiß womöglich nicht einmal, wie wichtig die Tasche ist, die sie mit sich herumschleppt. Auf jeden Fall war sie nicht an dem tätlichen Angriff beteiligt.«
»Hat sie sich dann nicht dadurch strafbar gemacht, daß sie gestohlene Gegenstände entgegengenommen hat?«
»Wir können nicht einmal beschwören, daß ein Diebstahl stattgefunden hat«, sagte ich. »Außerdem hat sie vielleicht nicht die geringste Ahnung davon, daß irgend etwas faul ist. Ehemann kommt nach Hause. Sie fährt weg. Er sagt, tu mir einen Gefallen und nimm das mit.«
»Was hast du jetzt vor?«
»Ich weiß es nicht genau. Ich würde liebend gern diesen Matchsack in die Finger bekommen. Er könnte uns eine Ahnung davon vermitteln, worum es hier geht.«
»Kinsey...« sagte Henry warnend.
»Henry, mach dir keine Sorgen. Ich gehe keinerlei Risiko ein.«
»Es paßt mir nicht, wenn du das sagst. Ich weiß doch, wie du bist. Wo wohnst du eigentlich? Ich will die Telefonnummer.«
Ich gab ihm die Telefonnummer, die auf die Unterlage aufgedruckt war. »Es ist ein Hotel namens Desert Castle, in der Nähe des Flughafens von Dallas. Zimmer 815. Die Frau ist oben im zwölften Stock.«
»Was hast du vor?«
»Frag mich nicht«, sagte ich. »Ich werde einfach abwarten und sehen müssen, was sie tut. Sie hat ein Flugticket bis Palm Beach, und wenn sie wieder ins Flugzeug steigt, werde ich schätzungsweise dasselbe tun.«
Er schwieg einen Augenblick. »Wie steht’s mit Geld? Brauchst du noch etwas?«
»Ich habe ungefähr vierzig Dollar in bar und ein Flugticket nach Hause. Solange ich mit meiner Kreditkarte vorsichtig umgehe, komme ich bestens aus. Ich hoffe, du wirst Chester mit meiner Professionalität beeindrucken. Ich habe wirklich kein Interesse daran, massenhaft Kosten anzuhäufen.«
»Die Sache gefällt mir nicht.«
»Ich bin auch nicht gerade begeistert von der Situation. Ich wollte nur, daß du weißt, wo ich bin.«
»Versuch, keine Straftat zu begehen.«
»Wenn ich die texanischen Gesetze kennen würde, wäre mir das eine Hilfe«, sagte ich.