13

Ich sah auf die Uhr. Mein Flugzeug würde vermutlich erst in zwanzig oder dreißig Minuten abgefertigt werden. Die Putzkolonne müßte sich durcharbeiten und ausgelesene Zeitungen, zerknüllte Taschentücher, Kopfhörer und vergessene Gegenstände aufsammeln. Ich legte meine Zeitung beiseite und folgte Gilbert, dessen Stetson mitsamt der blaßblauen Jeansjacke und den Cowboystiefeln es leichtmachten, ihn im Auge zu behalten. Er mußte Rays Jahrgang wesentlich näher kommen, als ich auf den ersten Blick gemerkt hatte. Ich hatte ihn auf Ende fünfzig geschätzt, aber er war vermutlich zweiundsechzig, dreiundsechzig, irgend etwas in dieser Gegend. Ich begriff nicht, was Laura an ihm gefunden hatte, es sei denn, sie war buchstäblich auf der Suche nach einem Vater. Worin auch immer die Anziehungskraft bestand, die sexuelle Chemie muß mit seiner Brutalität verwoben gewesen sein. Allzu viele Frauen verwechseln die Feindseligkeit eines Mannes mit Geist und sein Schweigen mit Tiefe.

Er ging durch die Drehtüren zur gleichen Gepäckabholung wie ich am frühen Samstagmorgen. Der Bereich war voller Menschen und gab mir eine natürliche Deckung. Während Gilbert auf seine Koffer wartete, sah ich mich nach einem Münztelefon um. Vermutlich gab es um die Ecke welche, aber ich wollte ihn nicht aus den Augen verlieren. Ich ging hinüber zum Telefon der Hotelvermittlung und suchte die Nummer für das Dessert Castle heraus. Das Telefonsystem verband sämtliche Hotels, die den Flughafen bedienten, aber man konnte damit nicht woanders anrufen. Ich zog Zettel und Stift aus meiner Tasche, während es am anderen Ende klingelte. »Desert Castle«, sagte die Frau, die schließlich abnahm.

»Hallo, ich bin drüben am Flughafen. Können Sie mir bitte Ihre Vermittlung geben?«

»Nein, Ma’am. Ich bin nicht an die interne Vermittlung angeschlossen. Das hier ist ein separater Anschluß.«

»Tja, können Sie mir dann vielleicht die Telefonnummer von drüben geben?«

»Ja, Ma’am. Möchten Sie mit der Zimmerreservierung, der Verkaufsabteilung oder mit der Gastronomie sprechen?«

»Geben Sie mir einfach die Hauptnummer.«

Sie nannte mir die Nummer, die ich pflichtbewußt notierte. Ich würde mir ein Münztelefon suchen, sobald die Gelegenheit günstig war.

Hinter mir ertönte schließlich ein Klingeln, das dem einer Alarmanlage ähnelte. Die überlappenden Metallsegmente des Karussells machten einen Ruck und setzten sich entgegen dem Uhrzeigersinn in Bewegung. Zwei Koffer kamen um die Ecke, dann ein dritter und ein vierter, die das Förderband von unten heraufkarrte. Die wartenden Passagiere drängten vorwärts und suchten sich einen Platz, während das Gepäck die schiefe Ebene herabpurzelte und seine langsame Fahrt auf dem kreisförmigen Metallband antrat.

Solange Gilbert nach seinem Gepäck Ausschau hielt, holte ich zwei Vierteldollars aus der Jackentasche und spielte nervös mit ihnen, während ich abwartete, was er tun würde. Er nahm eine Reisetasche vom Förderband und drängte sich durch die Menge auf den Korridor zu. Lange bevor er vorüberkam, wandte ich mich ab, da ich mir bewußt war, daß jede plötzliche Bewegung seine Aufmerksamkeit erregen könnte. Auf dem Weg zur Rolltreppe trat er zur Seite und hockte sich hin, zog den Reißverschluß seiner Reisetasche auf und entnahm ihr eine Handfeuerwaffe von beachtlicher Größe, auf die er einen Schalldämpfer aufschraubte. Mehrere Leute sahen hinab und bemerkten, was er tat, aber sie kümmerten sich weiter um ihre Angelegenheiten, als wäre es nichts Besonderes. Für sie sah er offenbar nicht wie ein Mann aus, der inmitten einer Menschenmenge losballerte und jeden in Reichweite niedermähte. Er steckte sich die Pistole in den Gürtel und zog die Jeansjacke darüber.

Er setzte seinen Stetson gerade, zog den Reißverschluß an seiner Tasche wieder zu und spazierte gemächlich zur Autovermietung hinüber. Er hatte eindeutig keine Reservierung, da ich ihn erst bei Budget nachfragen und dann zu Avis weitergehen sah. Ich entdeckte eine Reihe Telefone und suchte mir den einzigen freien Apparat unter den fünfen. Dann quetschte ich einen Vierteldollar in den Schlitz und wählte die Nummer des Desert Castle. Ich drehte mich um und musterte meine unmittelbare Umgebung, aber es war niemand vom Flughafen-Wachpersonal zu sehen.

»Desert Castle. Wen möchten Sie sprechen?«

»Könnten Sie in Laura Hudsons Zimmer anrufen? Es ist Nummer 1236«, bat ich.

Bei Laura war besetzt. Ich wartete, bis sich die Vermittlung wieder einschaltete, aber die Angestellte hatte offensichtlich ihren Platz verlassen und eine Stellung bei einem Arbeitgeber in einem anderen Bundesstaat angetreten. Ich drückte auf die Gabel und fing noch einmal von vorne an, wobei ich meinen letzten wertvollen Vierteldollar dafür ausgab, es noch einmal im Hotel zu versuchen.

»Desert Castle. Wen möchten Sie sprechen?«

»Hallo, ich versuche, Laura Hudson auf Nummer 1236 zu erreichen, aber bei ihr ist besetzt. Können Sie mir sagen, ob Ray Rawson noch bei Ihnen wohnt?«

»Einen Moment, bitte.« Sie klickte sich aus der Leitung. Totenstille. Dann klickte sie sich wieder ein. »Ja, Ma’am. Soll ich in seinem Zimmer anrufen?«

»Ja, aber würden Sie sich bitte wieder melden, wenn er nicht abnimmt?«

»Gewiß.«

Das Telefon in Rays Zimmer klingelte fünfzehnmal, bevor sie sich wieder einschaltete. »Mr. Rawson meldet sich nicht. Möchten Sie eine Nachricht hinterlassen?«

»Ist es irgendwie möglich, ihn statt dessen ausrufen zu lassen?«

»Nein, Ma’am. Tut mir leid. Hatten Sie noch irgendein anderes Anliegen, bei dem ich Ihnen behilflich sein könnte?«

»Ich glaube nicht. Oder doch, Moment mal. Könnten Sie mich mit dem Geschäftsführer verbinden?«

Sie hatte aufgelegt, bevor ich meinen Satz zu Ende gesprochen hatte.

Mittlerweile floß so viel Adrenalin durch meinen Körper, daß ich kaum noch atmen konnte. Gilbert Hays stand am Schalter von Avis und füllte Formulare aus. Er schien eine dieser bunten, faltbaren Landkarten der Umgebung zu konsultieren, wobei sich die Schalterdame hilfsbereit zu ihm hinüberlehnte und ihm den Weg zeigte. Ich fuhr mit der Rolltreppe nach unten.

Draußen waren mittlerweile die Lichter angegangen, die jedoch die Düsternis des Abholplatzes nur zum Teil vertreiben konnten. Eine Luxuslimousine hielt vor mir am Randstein, der uniformierte weiße Chauffeur kam herüber zur Tür auf der Beifahrerseite und half einem silberhaarigen Paar beim Aussteigen. Die Frau trug einen Pelz von einem Tier, das ich noch nie gesehen hatte. Sie sah sich besorgt um, als sei sie daran gewöhnt, Beleidigungen abwehren zu müssen. Der Chauffeur holte ihr Gepäck aus dem Kofferraum. Ich musterte die Umgebung und hielt Ausschau nach der Flughafenpolizei. Licht und Schatten spielten in sich schablonenhaft wiederholenden Mustern über den Beton. Aufgrund der Architektur des Gebäudes war ein Windkanal entstanden, durch den ein dieselgeschwängerter Luftstrom fegte, erzeugt vom ständigen Ansturm des Durchgangsverkehrs. Ich sah keinen der Kleinbusse vom Hotel. Ebensowenig konnte ich einen Taxistand oder vorbeifahrende Taxis entdecken. Gilbert hatte wahrscheinlich bereits die Schlüssel zu seinem Mietwagen erhalten. Er würde hinter mir zur Tür herauskommen und auf der Wartefläche nach dem Zubringerdienst Ausschau halten, der ihn zu dem Parkplatz bringen würde, wo sein Wagen auf ihn wartete. Oder womöglich — weit schlimmer — stand der Mietwagen im Parkhaus direkt gegenüber, und er brauchte lediglich die Straße zu überqueren. Mein Blick wanderte zu der Luxuslimousine. Der Fahrer hatte sein Trinkgeld erhalten, tippte sich an die Mütze und schloß die hintere Tür auf der Beifahrerseite. Er ging um den Wagen herum zur Fahrerseite, wo er die Tür öffnete und sich hinters Lenkrad gleiten ließ. Ich begann hektisch an das vordere rechte Fenster zu klopfen. Das Glas war so dunkel gefärbt, daß ich überhaupt nicht hineinsehen konnte. Das Fenster wurde mit einem Surren heruntergelassen. Der Fahrer sah mit neutraler Miene zu mir herüber. Er war Mitte Dreißig, hatte ein rundes Gesicht und spärliches rotes Haar, das er vom Ansatz aus gerade nach hinten gekämmt trug. Um seine Ohren herum konnte ich erkennen, wo die Mütze gesessen hatte.

Ich beugte mich etwas hinein und hielt ihm meine Brieftasche so entgegen, daß mein kalifornischer Führerschein und meine Lizenz als Privatdetektivin aufgeschlagen waren. Ich sagte: »Bitte hören Sie mir genau zu. Ich brauche Hilfe. Ich bin Privatdetektivin aus Santa Teresa, Kalifornien. Irgendwo hinter mir kommt ein Kerl mit einer Pistole, der nach Dallas gereist ist, um zwei Freunde von mir umzubringen. Ich muß unbedingt ins Desert Castle. Wissen Sie, wo das ist?«

Er nahm vorsichtig meine Brieftasche, wie eine Katze, die sich dazu herabläßt, einen Leckerbissen aus unbekannter Hand entgegenzunehmen. »Ich kenne das Desert Castle.« Er betrachtete das Foto auf meinem Führerschein. Ich sah, wie er die Daten auf meiner Lizenz als Privatdetektivin studierte. Er begann, einige meiner anderen Identitätsnachweise durchzublättern. Er reichte mir die Brieftasche zurück und saß dann einfach da und starrte mich an. Schließlich ließ er die Türverriegelung aufschnappen und griff nach dem Zündschlüssel.

Ich öffnete die Beifahrertür und stieg ein.

Die Limousine glitt so leise vom Randstein davon wie ein Zug, der den Bahnhof verläßt. Die Sitze waren aus grauem Leder und das Armaturenbrett aus von Astlöchern durchzogenem Walnußholz, das wie Plastik glänzte. Direkt neben meinem linken Knie lag der Hörer des Autotelefons. »Darf ich damit die Polizei anrufen?« fragte ich.

»Nur zu.«

Ich wählte 911 und erklärte der Dame von der Notrufzentrale die Situation, woraufhin sie nach meinem ungefähren Standort fragte und sagte, sie werde veranlassen, daß ein Hilfssheriff am Desert Castle auf mich wartete. Ich versuchte es noch einmal im Hotel, aber diesmal konnte ich die Vermittlung erst gar nicht dazu bringen, überhaupt abzunehmen.

Wir umrundeten den Flughafen und fuhren aufs offene Land zu. Mittlerweile war es völlig dunkel geworden. Das Land wirkte weit und flach. Die Scheinwerfer beleuchteten langgezogene Grünstreifen, zwischen denen hin und wieder am Horizont ein monolithisches Bürogebäude aufragte. Beleuchtete Reklametafeln tauchten auf wie Dias bei einem Vortrag. Als wir eine Anhöhe hinauffuhren, sah ich die Schlingen sich kreuzender Highways, deren Umrisse von den Lichtern des schnell fließenden Verkehrs markiert wurden. Angst surrte und knisterte in meinem Bauch wie eine kaputte Neonröhre, die die lebenswichtigen Organe konturiert.

»Wie heißen Sie?« fragte ich. Wenn ich nicht redete, würde ich wahnsinnig werden.

»Nathaniel.«

»Wie sind Sie hierzu gekommen?«

»Das ist nur ein Mittel, um Geld zu verdienen, bis ich meinen Roman fertig habe.« Sein Tonfall war bedrückt.

»Ah.«

»Ich habe früher in Südkalifornien gelebt. Andauernd habe ich darauf gehofft, ein Drehbuch unterzubringen, deshalb bin ich nach Hollywood gezogen und habe für diese Schauspielerin gearbeitet, die in einer Fernsehserie über eine Kellnerin mit fünf hinreißenden Kindern die verrückte Schwägerin gespielt hat. Die Serie hielt sich lediglich zwei Staffeln lang, aber sie hat sich dumm und dusselig verdient. Ehrlich gesagt, glaube ich, daß das meiste Geld ihre Nase hinauf verschwand. Ich habe sie jeden Tag zum Studio und wieder zurück gefahren, habe ihr Auto gewaschen und so weiter. Auf jeden Fall hat sie zu mir gesagt, daß sie, wenn ich eine Idee für einen Film hätte, mein Buch an ihren Agenten weiterreichen würde und mir vielleicht helfen könnte, Fuß zu fassen. Und ich hatte dann diesen Einfall über diese durchgeknallte Mutter-Tochter-Beziehung, wo das Mädchen an Krebs stirbt. Ich erzählte ihr davon, und sie sagt, sie wird sehen, was sie tun kann. Und ehe ich mich’s versehe, gehe ich in ein Kino auf dem Westwood Boulevard und sehe diesen Film über ein Mädchen, das an Krebs stirbt. Ist es zu fassen? Wie heißt sie noch, Shirley MacLaine und diese andere da, Debra Winger. Da hatte ich es. Ich hätte meine Idee bei der Gewerkschaft registrieren lassen sollen, nur daß mir das keiner gesagt hat. Glutheißen Dank, Kumpels.«

Ich sah zu ihm hinüber. »Sie hatten die Idee für die Handlung von Zeit der Zärtlichkeit

»Nicht die Handlung an sich, aber das Grundkonzept. Mein Mädchen hat nicht geheiratet und so viele Kinder bekommen. Wenn Sie mich fragen, das war übertrieben.«

»War Zeit der Zärtlichkeit nicht ein Roman von Larry McMurtry?«

Er schüttelte mit einem Seufzer den Kopf. »Genau das sage ich ja. Was glauben Sie, wo er das herhatte?«

»Was ist mit dem Astronauten? Den Jack Nicholson gespielt hat?«

»Damit habe ich mich nicht aufgehalten, und ich persönlich finde auch nicht, daß das so gut gepaßt hat. Später habe ich erfahren, daß diese Schauspielerin bei dem Agenten war, der früher einmal der Partner von Shirley MacLaines Agent war. So läuft es eben in Hollywood. Echt inzestuös. Die ganze Geschichte hat mich ziemlich sauer gemacht, muß ich sagen. Ich habe nie einen Cent gesehen, und als ich sie danach gefragt habe, hat sie mich angestarrt, als wüßte sie gar nicht, wovon ich rede. Dann habe ich ihren Zweitwagen zu Klump geschlagen und in Brand gesteckt.«

»Tatsächlich.«

Er warf mir einen Seitenblick zu. »Sie machen vermutlich eine Menge interessanter Erfahrungen in Ihrer Branche.«

»Nein. Es ist in erster Linie Papierkram.«

»Geht mir genauso. Die Leute bilden sich ein, ich müßte all diese Rockstars kennen. Das höchste der Gefühle, was ich einmal erlebt habe, war, als ich Sonny Bono zu seinem Hotel gefahren habe. Die Trennscheibe war die ganze Zeit hochgekurbelt, was mich ziemlich angekotzt hat. Als ob ich beim National Enquirer anrufen würde, wenn er irgendeinem Häschen die Hand unter den Rock schiebt.«

Ich drehte mich auf meinem Sitz um. Die Trennscheibe war unten, und ich spähte durch den gesamten Innenraum der Limousine und durch die dunkel getönte Heckscheibe hinaus. Hinter uns kam ein fließender Strom von Autos, die allesamt mit halsbrecherischer Geschwindigkeit den Highway entlangrasten. Wir bogen von der Hauptstraße in den Gewerbe-/Industriepark ein. In der Ferne sah ich das Desert Castle auftauchen, rotes Neon, das flammend unter dem Nachthimmel glühte. Ich sah zu, wie das Rot aus den Buchstaben lief und wieder hineinfloß. Das Verhältnis der erleuchteten Zimmer zu den dunklen erzeugte ein unregelmäßiges Schachbrettmuster, wobei die Häufigkeit der schwarzen Vierecke auf eine Auslastung von fünfzehn Prozent schließen ließ. Nun folgten uns nur noch ganz wenige Autos. Da es Sonntagabend war, war kaum anzunehmen, daß sie zu den Büros rechts und links der Straße unterwegs waren. Wir passierten die Miniatur-Oase mit ihrem falschen Steinturm, einem Bauwerk, das vermutlich nur geringfügig höher war als ich. Nathaniel schwenkte mit der Limousine in die kreisförmige Hotelzufahrt ein und bremste unter den Säulen sachte ab.

Ich merkte, wie sich Unruhe in mir regte, als ich mich fragte, ob er eine Bezahlung für seine Dienste erwartete. »Ich habe nicht genug, um Ihnen ein Trinkgeld zu geben. Sorry.«

»Schon in Ordnung.« Er reichte mir seine Visitenkarte. »Wenn Sie irgendwelche Ideen für einen Film über einen weiblichen Sam Spade haben, könnten wir vielleicht zusammenarbeiten. Mädels, die sich prügeln und solches Zeug.«

»Ich werd’s mir durch den Kopf gehen lassen. Jedenfalls herzlichen Dank für Ihre Hilfe.«

Ich stieg aus, schloß die Tür hinter mir und merkte gerade noch, daß die Limousine bereits davonfuhr. Vom Hilfssheriff war nichts zu sehen, aber Dallas County ist groß, und so lange war es ja noch nicht her, daß ich angerufen hatte. Ich ging auf die Drehtür zu und verfiel in meiner Eile beinahe in Trab. Die Hotelhalle wurde von dem abreisenden Leichtathletikteam bevölkert, Halbwüchsigen in Shorts, Jeans und identischen Satinjacken, auf deren Rückseite ihr Schulmaskottchen gestickt war. Allesamt trugen sie Laufschuhe, die ihre Füße riesig aussehen und ihre präpubertären Beine zu Stecken schrumpfen ließen. Sporttaschen und überdimensionale Matchsäcke aus Segeltuch waren zu ungeordneten Haufen aufgetürmt worden, während die Kids selbst ziellos herumliefen und sich mit Unfug aller Art beschäftigten. Ein paar von den Mädels saßen auf dem Fußboden und benutzten ihr Gepäck als Rückenlehne. Einem Jungen wurde gegen seinen Willen das T-Shirt ausgezogen und er war gerade dabei, mit zwei Teamkameraden zu ringen, um es zurückzuerobern. Das Lachen hatte einen nervösen Unterton. Ehrlich, die Jungs erinnerten mich an Welpen, die mit einer alten Socke Tauziehen spielten. Die aufsichtsführenden Erwachsenen schienen all das ungerührt hinzunehmen und hofften wahrscheinlich, daß die Kids erschöpft wären, wenn sie endlich im Bus säßen.

Ich ging an ihnen vorbei zu den Aufzügen und drückte den »Aufwärts«-Knopf. Die Aufzugstüren öffneten sich, ich stieg ein und warf noch einen Blick über die Schulter durch die Hotelhalle, um zu sehen, ob Gilbert in Sicht war. Ein silberner Trailways-Bus fuhr gerade mit brummendem Motor vor dem Hotel vor, während seine Tür mit einem Blähungen nicht unähnlichen Geräusch aufging. Ich drückte auf Zwölf, und die Aufzugtüren schlossen sich.

In Lauras Stockwerk angekommen, trabte ich den Flur entlang und klopfte bei Zimmer 1236 an. Ich murmelte vor mich hin und schnippte hektisch mit den Fingern. Komm schon, komm schon, komm schon.

Laura öffnete die Tür und zeigte sich leicht verblüfft, als sie mich sah. »Was machen Sie denn hier? Ich dachte, Sie wären abgereist.«

»Wo ist Ray? Ich muß mit ihm sprechen.«

»Er schläft. Hier bei mir. Was ist denn passiert?«

»Ich habe Gilbert am Flughafen gesehen. Er ist mit einer Pistole auf dem Weg hierher. Holen Sie Ray, schnappen Sie sich Ihre Sachen und dann nichts wie weg hier.«

»O nein.« Sie erbleichte angesichts dieser Neuigkeit und fuhr sich mit der Hand an den Mund.

»Was ist denn los?« fragte Ray hinter ihr. Er war bereits auf den Beinen und stopfte beim Näherkommen sein Hemd in die Hose. Ich betrat den Raum und Laura schloß die Tür hinter mir. Sie lehnte sich gegen die Wand und schloß für einen Moment entsetzt die Augen. Ich schob die Sicherheitskette in die Schiene.

Dann sagte ich: »Los.«

Das Wort versetzte sie offenbar in Bewegung. Laura ging an den Wandschrank und zerrte ihren Regenmantel und den Matchsack heraus.

»Was soll denn das?« fragte Ray und blickte von einer zur anderen.

»Sie hat Gilbert gesehen. Er hat eine Pistole und ist unterwegs hierher. Sie hätten anrufen sollen, anstatt den ganzen Weg zurückzufahren«, sagte sie vorwurfsvoll. Sie zog den Reißverschluß ihres Matchsackes auf und begann, Kosmetikartikel von der Abstellfläche in die Tasche zu fegen.

»Ich habe angerufen. Es war besetzt.«

»Ich habe mit dem Zimmerservice telefoniert. Wir mußten etwas essen«, sagte sie.

»Ladies, würdet ihr bitte das Streiten aufhören und euch beeilen!«

»Tu ich doch!« Sie fing an, Nachthemd, Pantoffeln und schmutzige Unterwäsche aufzusammeln. Ihr Jeanskleid hatte sie über eine Stuhllehne gehängt und nun griff sie danach und hielt es sich gegen die Brust, damit sie es zuerst zweimal längs und dann noch einmal quer falten konnte. Ray nahm es ihr weg, rollte es zu einer Kugel zusammen und stopfte es in den Matchsack, den er anschließend zumachte.

Ich sah seine beiden Koffer links von der Tür aufeinander stehen. Ich schnappte mir den kleineren und sah ihm dabei zu, wie er den anderen nahm. »Nehmen Sie nur das Nötigste mit und lassen Sie den Rest liegen«, sagte ich. »Haben Sie ein Auto?«

»Draußen auf dem Parkplatz.«

»Kommt Gilbert eher mit dem Aufzug nach oben oder über die Treppe?«

»Wer weiß?«

Ich sagte: »Passen Sie auf. Ich finde, Sie beide sollten hinten herum gehen. Gilbert wird mit Sicherheit dadurch Zeit verlieren, daß er hier oben an die Tür klopft. Womöglich versucht er es auch an Rays Zimmer, wenn er auf die Idee kommt, daß Sie hier sind. Geben Sie mir die Autoschlüssel und sagen Sie mir, wo Sie geparkt haben.«

»Was sollen wir in der Zwischenzeit tun?« fragte Laura.

»Warten Sie draußen bei diesem unechten steinernen Turm neben der Einfahrt auf mich. Ich komme mit dem Auto vorbei und hole Sie dort ab. Er kennt mich nicht; wenn wir uns also in der Halle begegnen sollten, wird ihm nichts auffallen.«

Ray gab mir eine rasche Beschreibung des Wagens und nannte mir dessen ungefähren Standort. Auf dem Plastikanhänger am Schlüssel stand die Autonummer und so war ich mir ziemlich sicher, daß ich den Wagen ohne Probleme finden würde. Ich reichte Ray seinen Koffer, während Laura sich rasch im Zimmer umsah, um sich zu vergewissern, daß sie nichts Unerläßliches vergessen hatte. Ich nahm die Kette aus der Schiene, spähte in beiden Richtungen den Korridor entlang und winkte den beiden. Ray und Laura gingen nach rechts, auf die Feuertreppe am Ende des Flurs zu.

Ich wandte mich nach links, in Richtung Aufzug.

Der Aufzug kam mir vor, als führe er mit halber Geschwindigkeit. Ich sah, wie die Nummern der Stockwerke von rechts nach links aufleuchteten und in Zeitlupe rückwärts zählten. Als er in der Hotelhalle angekommen war, ertönte das gewohnte ping, und die Türen gingen auf. Einen halben Meter vor mir stand Gilbert und wollte einsteigen. Einen Moment lang trafen sich unsere Blicke und blieben kurz aneinander haften. Seine Augen waren abgründige schwarze Löcher. Ich ließ meinen Blick beiläufig weiterschweifen, als ich an ihm vorüberging und nach rechts bog, als wäre ich ein ganz normaler Hotelgast. Hinter mir glitten die Türen wieder zu. Ich suchte die Halle nach irgendeinem Hinweis auf den Hilfssheriff ab. Keine Spur von einem Gesetzeshüter. Ich ging schnelleren Schrittes weiter und warf automatisch einen Blick zurück auf die leuchtende Stockwerksanzeige. Der Aufzug hätte nach oben fahren sollen. Statt dessen blieb das Licht unbeweglich dort stehen, wo es war. Ich hörte ein Ping, und die Aufzugtüren gingen wieder auf. Gilbert kam heraus. Er stand auf der weiten, mit Teppichboden ausgelegten Fläche direkt vor den Aufzügen und starrte in meine Richtung. Kriminelle und Polizisten verfügen häufig über eine erhöhte Aufmerksamkeit, ein messerscharfes Wahrnehmungsvermögen, das vom Adrenalin herrührt. Ihre Arbeit — und eigentlich ebensooft ihr Leben — ist abhängig von Scharfsinn. Gilbert war offenbar ein Mensch, der die Realität mit nachtwandlerischer Genauigkeit registrierte. Etwas an seinem Gesichtsausdruck verriet mir, daß er sich aufgrund unserer einzigen, kurzen Begegnung auf dem Flughafen in Santa Teresa an mein Gesicht erinnerte. Wie er mich mit Laura Huckaby in Verbindung brachte, werde ich nie begreifen. Der Moment war wie elektrisiert, das Erkennen funkte zwischen uns wie ein Blitz.

Ich behielt meine »normale« Gangart bei, als ich um die Ecke bog. Ich ging am Eingang zum Coffee Shop vorbei und bog noch einmal rechts ab, in einen kurzen Korridor mit drei Türen: eine ohne Schild, eine mit der Aufschrift »Nur für Zutrittsberechtigte« und eine, auf der »Wartung« stand. Sowie ich aus Gilberts Blickfeld verschwunden war, rannte ich los, und meine Umhängetasche schlug mir gegen die Hüfte. Ich zwängte mich hastig durch die unbeschriftete Tür und fand mich in einem kahlen Flur wieder, den ich noch nie gesehen hatte. Der Betonfußboden und die nackten Betonwände machten eine Linkskurve. Die Wände zogen sich im fahler werdenden Licht nach oben, bis die oberen Bereiche in der Finsternis verschwanden. Ich konnte keine Decke erkennen, aber eine Reihe dicker Seile und Ketten, die bewegungslos unter den Schatten hingen. Ich passierte leere Wagen für Tablette, hölzerne Paletten voller Glaswaren, Berge von Leinentischtüchern und Karren voller Teller in den verschiedensten Größen. Türme über Türme gestapelter Stühle standen an den Wänden und machten den Durchgang an manchen Stellen enger.

Meine Schritte polterten leise, wobei das Geräusch von den Gummisohlen meiner Reeboks gedämpft wurde. Ich vermutete, daß ich mich hier in einem Servicekorridor befand, der an einen Bankettsaal angrenzte, ein Kreis innerhalb eines Kreises mit Zugang zu Lastenaufzügen und den Küchen eine Etage tiefer. Eine kurze Treppe führte nach oben. Ich ergriff den Handlauf, zog mich hinauf und übersprang im Laufschritt einige Stufen. Die Umhängetasche gab mir das Gefühl, als schleppte ich einen Anker hinter mir her, aber ich konnte sie nicht zurücklassen. Oben ging der Korridor weiter. Hier standen, an die Wände gelehnt, zahlreiche Dekorationsartikel für verschiedene Jahreszeiten: Weihnachtsengel, künstliche Tannenbäume, zwei riesige, ineinander übergehende Komödien-/Tragödienmasken, vergoldete hölzerne Putten und Amors und gigantische Valentinsherzen, die von goldenen Pfeilen durchbohrt wurden. Ein Hain aus seidenem Ficus bildete einen kleinen Zimmerwald ohne Vögel oder sonstige Lebewesen.

Hinter mir hörte ich eine Türangel quietschen. Ich beschleunigte meinen Schritt und folgte weiter dem verlassenen Korridor. Eine metallene Leiter, die wie eine Innen-Feuerleiter aussah, verlief zu meiner Linken die Wand hinauf. Ich vollzog den Anstieg zuerst mit den Augen, ungewiß, was da oben sein mochte. Ich warf einen Blick zurück, da mir vage bewußt war, daß jemand hinter mir den Korridor entlangkam. Ich packte die erste Sprosse und stieg hinauf, wobei meine Reeboks leise tappende Geräusche verursachten. Am anderen Ende, das heißt sieben Meter weiter oben, hielt ich inne. Ein metallener Steg zog sich vor mir die Wand entlang. Ich war so nahe an der Decke, daß ich nur den Arm auszustrecken und sie zu berühren brauchte. Der Steg war nicht einmal einen Meter breit. Durch die aufragenden Schatten wirkte der Fußboden unter mir wie ein flacher, ruhiger Fluß aus Beton. Das einzige, was mich vor dem Herabfallen schützte, war eine Kette als Handlauf, die von senkrechten Metallstreben getragen wurde. Wie üblich, wenn ich mit Höhen konfrontiert wurde, war meine größte Angst der unwiderstehliche Drang, mich hinabzustürzen.

Ich verlangsamte meinen Schritt auf Kriechtempo und drückte mich gegen die Wand. Ich wagte es nicht, schneller zu gehen, da ich fürchtete, der Steg könne sich aus den in der Wand befestigten Trägern lösen, die ihn hielten. Ich nahm an, daß ich nicht gesehen werden konnte, da mich hier oben die Dunkelheit umfing, aber der Korridor selbst wirkte wie ein Hallraum und tat meine Anwesenheit kund. Irgendwo hinter mir hörte ich harte Sohlen auf Beton, einen Laufschritt, der sich mit einemmal zu einem verstohleneren Schleichen verlangsamte. Ich ließ mich auf Hände und Füße herab und kroch vorsichtig rückwärts, während die metallene Fläche unter mir wankte und bebte. Meine Umhängetasche mußte ich mir dabei vor die Brust drücken. Ich versuchte, keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, aber der wackelige Steg klapperte und hüpfte unter meinem Gewicht.

Ich entdeckte eine kleine Tür an der Wand. Mit unendlicher Sorgfalt schob ich den Riegel auf und öffnete sie. Vor mir lag ein nur fahl erleuchteter, modrig riechender Durchgang von etwa einem Meter achtzig Höhe, den oben eine durchgehende Reihe Fenster mit Handkurbel umrundete, von denen manche offenstanden und künstliches Licht hereinließen. Der Fußboden des Durchgangs war mit Teppich ausgelegt und roch nach Staubfusseln. Ich tastete mich nach vorn, immer noch auf allen vieren, zerrte die Tasche aber mittlerweile hinter mir her. Die Stille wurde nur vom Geräusch meines gehetzten Atems durchbrochen.

Ich drehte mich um und schloß sacht die Tür hinter mir, dann kroch ich zum nächstgelegenen Fenster hinüber und stand vorsichtig auf. Unter mir war einer dieser riesigen Säle für Bankette und Groß Versammlungen. Ein sich ständig wiederholendes Lilienmuster zog sich über den Teppichboden, stahlblau auf grauem Grund. Mehrere Schiebetüren ließen sich in der Mitte zusammenziehen, womit man den Raum geschickt in zwei Hälften teilen konnte. Acht gleichmäßig angeordnete Kronleuchter hingen wie Eiszapfenbündel herab und verströmten ein gedämpftes Licht. Außen herum, knapp unterhalb der Decke, verbarg die lückenlose Reihe verspiegelter Fenster den Raum, in dem ich stand. Ich warf einen Blick über die Schulter. Durch die Finsternis konnte ich den auffälligen Mechanismus eines Beleuchtungssystems erkennen, das sicher bei speziellen Gelegenheiten zum Einsatz kam, Flutlicht und Spot-Scheinwerfer mit verschiedenfarbigen Einsätzen.

In dem durch die Fenster einfallenden Licht bückte ich mich, öffnete meine Tasche und holte meine Brieftasche heraus. Ich entnahm ihr meinen Führerschein, die Detektivlizenz und andere Identitätsnachweise, einschließlich Bargeld und Kreditkarten, was ich alles zusammen hastig in die Taschen meines Blazers stopfte. Ich packte Rays Autoschlüssel, meine Anti-Baby-Pillen, die Dietriche und mein Schweizer Offiziersmesser und verfluchte die Tatsache, daß Damenjacken nicht mit einer Innentasche ausgestattet sind. Ich kramte meine Zahnbürste heraus und steckte sie zu den anderen Gegenständen. Meine Jackentaschen platzten fast aus den Nähten, aber ich konnte es nicht ändern. Im Notfall bin ich bereit, schmuddelige Unterhosen zu ertragen, aber keine ungeputzten Zähne.

Mir fiel auf, daß der Boden unter meinen Füßen kaum merklich vibrierte. In Kalifornien würde ich daraus schließen, daß ein Erdbeben von Stärke 2,2 wie eine Meereswoge durch die Erde schwappte. Ich warf den Kopf herum und sah zur Tür. Dann stellte ich meine Tasche beiseite, ging in die Hocke und watschelte durch den schmalen Durchgang. Ich befühlte den Türrahmen und suchte nach dem Riegel auf meiner Seite. Auf der anderen Seite der Wand bewegte sich jemand unsicher auf dem Steg vorwärts, genau wie ich es getan hatte. Ich fand den Riegel und schob ihn so leise wie nur möglich durch den Bügel.

Ich hatte noch die Hand auf dem Riegel, als wie wild an der Tür gerüttelt wurde. Jemand auf der anderen Seite stellte das Türschloß auf die Probe. Eine Welle der Furcht durchfuhr mich und ließ mir die Tränen in die Augen schießen. Ich preßte mir eine Hand gegen den Mund, um ein Keuchen zu unterdrücken. Die Tür donnerte derart heftig gegen das Schloß, daß ich schon dachte, es würde nachgeben und so die Sicht auf mich freimachen. Stille. Dann begann der Boden wieder zu zittern, als Gilbert davonging. Ich blickte nach links und sah ihm nach, wie er den Steg hinabging. Ich betete darum, daß nicht ein Stück weiter unten noch eine hölzerne Tür wäre.

Er mußte in eine Sackgasse geraten sein, da ich ein paar Minuten später erneut den Fußboden unter seinem Gewicht erzittern spürte, als er ein zweites Mal an mir vorbeikam, diesmal auf dem Weg zu der Leiter, die in den Korridor hinabführte.

Ich wartete, bis ich mich sicher fühlte. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, lag aber eher bei fünfzehn Minuten. Dann streckte ich vorsichtig die Hand aus und schob den Riegel zurück. Ich neigte den Kopf, um zu lauschen, hörte jedoch nichts. Als ich die Tür öffnete, schrillte der Feueralarm los.