12

Laura stöhnte und beugte sich vornüber, als stünde sie kurz vor einem Ohnmachtsanfall. Sie versuchte, den Kopf zwischen die Knie zu stecken, doch ihr sperriger Bauch behinderte sie. Sie lehnte sich seitlich gegen die Kissen und zog die Knie an wie ein Kind, das Bauchweh hat.

»Was ist denn los?« fragte Ray.

»O Gott, ich dachte, es wäre mehr. Ich dachte, du wüßtest, wo es ist«, flüsterte sie und fing wieder an zu weinen. Ich bin ein hartherziges Persönchen. Ich saß da und fragte mich, warum Weinen gelegentlich mit den Silben »buu-hu« bezeichnet wird. Ich habe noch nie jemanden beim Weinen auch nur entfernt verwandte Laute benutzen hören.

Ray ging hinüber und setzte sich zu ihr. »Alles in Ordnung?«

Sie schüttelte den Kopf und schaukelte vor und zurück.

»Laura fehlt nichts«, sagte ich angeödet. Mir war bewußt, daß mein Tonfall barsch war, aber ich wußte, was sie im Schilde führte, und dieses Heulsusen-Getue war einfach nervig. Ray rieb ihr den Rücken und tätschelte ihr die Schulter mit einer Reihe nutzloser Bewegungen, die trotz allem sein Mitgefühl und seine Betroffenheit kundtaten. »He, komm schon. Ist ja gut. Sag mir einfach, was dir fehlt, dann helfe ich dir. Ich verspreche. Nicht weinen.«

»Entschuldigen Sie bitte, Ray, aber Sie sollten sich vorsehen. Sie ist bereits eifrig damit beschäftigt, Gilbert zu hintergehen, und in den ist sie angeblich verliebt. Weiß der Himmel, was sie dann mit Leuten macht, die ihr scheißegal sind. Äh, das sind Leute wie wir, falls Sie nicht mitgekommen sind«, sagte ich.

Er sah sie mit gerunzelter Stirn an. »Stimmt das? Versuchst du, dich von ihm abzusetzen?«

»Indem sie bei uns eine Schau abzieht«, sagte ich giftig. Keiner von beiden beachtete mich. Ich hätte mir den Atem sparen können.

Ich reichte ihr einen weiteren Packen Tempos, und sie absolvierte noch einmal die ganze Schneuzprozedur. Sie preßte sich ein Taschentuch auf die Augen, um den Tränenstrom zu stoppen. Dann setzte sie zu einer bruchstückhaften Erklärung an, schaffte es aber nicht ganz, und so war es an mir, zu dolmetschen. Ich sagte: »Sie und Farley haben sich verbündet. Sie brennt mit dem Geld durch. Das ist aber nur eine Vermutung meinerseits.«

»Du und Farley habt beschlossen, ihn auszubooten?« fragte er. Er versuchte, gelassen zu klingen, aber ich merkte, daß er ernsthaft beunruhigt war. Er kannte Gilbert gut genug, um zu wissen, wie tief sie in Schwierigkeiten steckte. Sie nickte, und die Tränen liefen ihr die Wangen hinunter.

»Oh, mein Gott, Baby. Ich wünschte, ich hätte gewußt, was du vorhast. Das ist wirklich kein guter Plan.«

»Ich kann es nicht ändern. Farley liebt mich. Er hat gesagt, er würde mir helfen. Er weiß, daß Gilbert mich schlägt. Ich muß verschwinden, bevor er mich umbringt.«

»Ich verstehe, Herzchen, aber Gilbert ist ein Wahnsinniger. Das wird ihm nicht gefallen. Wenn er es herausfindet, möchte ich lieber nicht wissen, was er tut, um abzurechnen. Jetzt komm und laß uns reden. Vielleicht finden wir ja einen Weg, wie wir dich da herausholen können.«

Ich fand es herzzerreißend, wie er das Wort »wir« benutzte.

Sie seufzte und setzte sich auf. Ohne die Maske ihres Make-ups wirkten ihre Augen, als wären sie in ihrem Gesicht einen guten Zentimeter nach oben verrutscht. Ihre Nase war verstopft, und ihre Stimme war in die tieferen Lagen abgesunken. Ihr Teint war in einem fleckigen Pink gefärbt, und ihre haselnußbraunen Augen leuchteten im Kontrast zum Dunkelrot ihrer Haare. Der dunkelgrüne Cordsamt-Trägerrrock war hoffnungslos zerknittert und der Kragen ihres weißen Rollkragenpullovers von Make-up verschmiert. »Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Ich mußte einfach weg.« Sie zog den Ärmel hoch. »Sieh dir das an. Ich bin grün und blau. Ich sehe schlimmer aus als du, mit dem Unterschied, daß es schon seit Monaten so geht.«

»Du mußt dich von ihm trennen. Das ist keine Frage. Warum hast du es überhaupt mitgemacht?«

»Weil ich keine Wahl hatte. Ich bin ins Frauenhaus gegangen. Zweimal habe ich mich bei Freunden versteckt. Mittlerweile sorgt er dafür, daß ich zu niemandem Kontakt habe. Ich muß über jede Minute Rechenschaft ablegen. Er läßt mich nicht arbeiten gehen. Ich darf kein eigenes Geld haben. Als ich das hier vor mir sah, wußte ich, daß es die einzige Chance war, die ich je haben werde. Ich dachte, wenn ich nur das Geld hätte. Wenn ich nur einen Weg wüßte, wie ich von ihm loskommen kann...«

»Dann nimm das Geld«, sagte er. »Es gehört dir. Ich konnte es nicht glauben, als Kinsley deinen Namen erwähnt hat. Du kannst sie fragen. Ich war perplex...«

»>Perplex< würde ich nicht sagen, aber er wurde ziemlich still.«

»Ich hatte ja keine Ahnung, daß du mit in dieser Sache steckst«, fuhr er fort.

»Was hätte das schon geändert?« sagte sie und schneuzte sich. Die Tatsache, ihn verblüfft zu haben, schien sie irgendwie zu trösten.

»Ich wäre nie gekommen. Ich hätte dir die acht Riesen gelassen. Das meine ich ernst. Es gehört dir. Behalt es. Es ist ein Geschenk.«

»Vergiß es. Ich will es nicht.«

»Ich dachte, du hättest gesagt, du hättest keine Wahl?«

»O doch.«

»Was denn?«

»Ich weiß es nicht. Ich werde mit Farley darüber reden. Wir lassen uns etwas einfallen.«

»Laura, sei doch nicht verrückt. Vorher warst du auch nur allzugern bereit, es zu nehmen. Warum jetzt nicht?«

Sie fuhr ihn barsch an: »Ich war bereit, es zu nehmen, weil ich dachte, du hättest deine Freunde betrogen, um es zu kriegen. Ich dachte, es geschähe dir recht. Ich fand nicht, daß du es verdient hattest, nach dem, was du getan hast.«

Langsam ging mir das Melodram auf die Nerven, und ich wünschte, sie würden es hinter sich bringen. »Warum teilen Sie sich nicht das Geld und beenden diese Debatte?«

Ray schüttelte den Kopf. »Wir brauchen es nicht zu teilen. Sie kann die ganzen achttausend behalten. Ich kann immer noch nach Louisville fahren und nach dem Rest suchen.«

»Wie groß sind Ihre Chancen, es nach vierzig Jahren zu finden?« fragte ich.

»Vermutlich nicht besonders groß, aber mir wäre einfach wohler dabei, wenn sie genug hätte, um zu fliehen.«

»Ray, ich habe gesagt, ich komme klar, und das werde ich auch«, sagte sie.

»Warum läßt du mich nichts tun?«

»Es ist zu spät.«

Er wandte sich mit bestürztem Blick zu mir. »Reden Sie mit ihr. Sagen Sie es ihr. Ich begreife nicht, was in ihr vorgeht.«

Ich sagte: »Es läuft folgendermaßen, Ray, und da können Sie mir vertrauen. Sie will Ihre Liebe. Sie will Bestätigung. Sie will, daß Sie sie um Verzeihung dafür bitten, was Sie ihr ein Leben lang zugemutet haben. Sie will weiter nichts mit Ihnen zu tun haben. Ganz sicher will sie keine Hilfe von Ihnen. Sie würde lieber sterben.«

»Weshalb?«

»Weil sie Ihnen nichts schuldig sein möchte«, fauchte ich.

Er blickte wieder zu ihr. »Stimmt das, was sie sagt?«

»Ich weiß nicht. Ich glaube schon.« Sie hielt inne, um sich die Augen zu wischen und sich noch einmal zu schneuzen. »Ich dachte, es wäre mehr. Ich dachte, du hättest Millionen. Ich habe mich darauf verlassen.«

»Es waren nie Millionen. Hat Gilbert das behauptet?«

»Woher sollte ich das wissen? Er hat seit Jahren davon gesprochen«, wandte sie ein. »Vielleicht ist die Summe im Lauf der Zeit in seiner Phantasie angewachsen. Der Punkt ist, mit achttausend Dollar komme ich nicht weit. Ich hatte vor, ins Ausland zu gehen und mich irgendwo zu verkriechen, aber wie lang reichen schon achttausend Dollar?«

»Die reichen lang genug. Geh in einen anderen Bundesstaat. Ändere deinen Namen. Such dir Arbeit. Die achttausend werden dir zumindest dabei helfen, einen Anfang zu machen.«

Lauras Gesichtsausdruck war voller Verzweiflung. »Er wird mich finden. Ich weiß es. Ich dachte, ich hätte mit Farley eine Chance, aber jetzt fürchte ich mich zu Tode.«

»Wo steckt Farley eigentlich die ganze Zeit?« wollte ich wissen.

»Er ist bei Gilbert in Santa Teresa. Wir wollten nicht, daß er Verdacht schöpft.«

Ich hob die Hand. »Moment mal. Da kann ich nicht folgen. Wie lautete denn der ursprüngliche Plan?«

»Als ich in Santa Teresa abgeflogen bin? Ich sollte nach Palm Beach in Florida fliegen, wo ein Freund von Gilbert auf mich wartete. Das ist irgendein Kumpel, den er angeheuert hat, damit er mich im Auge behält. Gilbert wollte das Geld so bald wie möglich aus Kalifornien herausbringen, aber er dachte, daß wir zu auffällig wären, wenn wir alle drei gemeinsam reisten. Außerdem mußten er und Farley darauf warten, daß ihre Pässe ausgestellt würden. Ich hatte meinen bereits, deshalb sollte ich in Palm Beach auf sie warten. Später wollten wir nach Rio fliegen.«

»Also mußte Farley zurückbleiben und allein mit Gilbert fertig werden? Das ist eine miserable Idee. Ich kenne Farley nicht einmal und könnte jetzt schon darauf wetten, daß er nicht schlau genug ist, um Gilbert zu überlisten.«

»Das stimmt, Kleines. Gilbert ist unberechenbar, vor allem, wenn er glaubt, verraten worden zu sein«, sagte Ray zu ihr.

»Sieh dir nur an, was er mit mir gemacht hat. Meinst du etwa, das war schon alles?«

»Was soll ich denn tun? Jetzt ist es schon passiert. Es ist vorbei. Ich habe das Geld genommen und bin abgehauen. Sowie ich hier angekommen war, habe ich es gezählt. Ich dachte, ich würde sterben, als ich herausfand, wie wenig es war.«

Ich sagte: »Gehen wir mal einen Schritt zurück. Wann sollte Farley wieder zu Ihnen stoßen?«

»Sobald er konnte. Sie haben beim Paßamt angerufen, und der Typ dort hat geschworen, daß er sie bereits abgeschickt hätte. Farley weiß, wo ich bin, und wir haben vereinbart, daß er mich aus der Telefonzelle unten an der Straße anruft.«

»Und er hat Sie nie angerufen?«

»Einmal. Heute morgen. Er mußte warten, bis Gilbert das Haus verlassen hatte. Als ich ihm von den achttausend erzählte, war mir klar, daß er Angst hatte. Er sagte, er würde sich etwas einfallen lassen und mich eine Stunde später wieder anrufen.«

Ray fragte: »Und du hast nichts mehr von ihm gehört?«

Laura schüttelte den Kopf.

Ich sagte: »Aber Gilbert muß doch wissen, daß Sie das Flugzeug nicht in Palm Beach verlassen haben. Hat ihn sein Kumpel nicht auf der Stelle angerufen, um ihm zu sagen, daß Sie nicht aufgetaucht sind?«

»Natürlich hat er angerufen, aber Gilbert hat keine Ahnung, wo ich bin.«

»Tja, das ist wirklich ein äußerst raffinierter Plan«, sagte ich. »Was ist mit Farley? Gilbert wird ihn natürlich verdächtigen.«

»Sie glauben, er hat es herausgefunden?«

»Aber natürlich!« rief Ray. »Er hat vierzig Jahre darauf gewartet, dieses Geld in die Finger zu bekommen. Gilbert ist ein Psychopath. Er ist so paranoid, daß er schon beinahe das zweite Gesicht hat. Ihr seid Amateure. Glaubst du etwa, er durchschaut euch nicht?«

»Aber Dallas ist riesig. Er wird mich nie finden«, beharrte sie. »Ich habe das Hotel in bar bezahlt und verwende einen falschen Namen.«

»Farley weiß, wo du bist.«

»Ja, sicher, aber ich kann ihm vertrauen«, meinte sie.

Ray schloß die Augen. »Du solltest dich lieber auf die Socken machen.«

»Aber wohin denn?«

»Wen kümmert das? Nur verschwinde von hier.«

»Was ist mit Farley? Dann weiß er ja nicht, wo ich bin.«

»Genau das ist der Punkt«, erklärte ich. »Ich bin einer Meinung mit Ray. Kümmern Sie sich nicht um Farley. Sie müssen so viel Abstand zwischen sich und Gilbert schaffen wie möglich.«

»Nee, das mache ich nicht. Ich habe Farley gesagt, daß ich hier wäre, und ich bleibe hier«, widersprach sie.

Ich sagte: »O Mann.«

»Gilbert ist nicht Superman. Er hat keine Röntgenaugen oder sowas.«

»Ja, sicher«, sagte ich. Ich wühlte in meiner Handtasche, bis ich mein Flugticket fand. Dann fing ich an, auf der Suche nach einem Telefonbuch Nachttischschubladen aufzuziehen. »Also, Leute — ich weiß nicht, wie ihr diesen kleinen Konflikt lösen wollt, aber ich verschwinde jedenfalls.«

»Sie verlassen uns?« fragte Ray verblüfft. »Und was ist mit Chester?«

»Er hat mich gefeuert«, antwortete ich. Ich fand die Gelben Seiten in einem separaten Band, der vermutlich zehn Pfund wog. Ich zerrte ihn aus der Schublade, hievte ihn auf meinen Schoß und ging die mit »Fluggesellschaften« überschriebenen Spalten durch. »Sehen Sie, was auch immer Sie und Laura beschließen, geht nur Sie beide etwas an. Ich bin gekommen, um bei der Suche nach dem Geld zu helfen, das Sie so eifrig verschenken. Ich bin schon Geschichte. Es hat keinen Sinn, wenn ich noch länger hier bleibe. Wenn es Chester nicht paßt, kann er es ja mit Ihnen ausmachen. Er ist jetzt schon so sauer, daß er meine Rechnung vermutlich nicht bezahlen wird, was heißt, daß ich Pech hatte. Ich kann genausogut nach Hause fahren. Zumindest bis hierhin die Verantwortung für die Situation übernehmen.« Ich fand die Nummer von American Airlines und legte meinen Finger auf die Stelle, während ich den Hörer abnahm.

»Aber Sie können uns doch nicht einfach sitzenlassen«, sagte Ray.

»So würde ich es nicht nennen«, sagte ich.

»Wie dann?«

»Ray, wir sind keine siamesischen Zwillinge. Ich bin ganz spontan hierhergekommen, also dachte ich, daß ich genauso spontan wieder nach Hause fahren würde.« Ich klemmte mir den Telefonhörer in die Halsbeuge und wählte die Nummer von American Airlines. Sowie der Anruf durchgekommen war, wurde ich auf eine Warteleitung geschaltet, während mir eine mechanische Stimme versicherte, daß mein Anliegen über alle Maßen geschätzt würde. »Das Geld ist sowieso gestohlen«, fuhr ich im Plauderton fort, »was ein weiterer Grund dafür ist, daß ich nichts damit zu tun haben will.«

»Es ist jetzt vierzig Jahre her, daß wir diesen Tresorraum ausgeräumt haben«, protestierte Ray. »Die Bank existiert überhaupt nicht mehr. Hat 1949 den Geist aufgegeben. Die meisten Kunden sind tot, also selbst wenn ich ehrlich sein wollte, wem sollte ich das Geld zurückgeben? Dem Staat Kentucky? Zu welchem Zweck? Ich habe für diese Kohle mein Leben im Knast verbracht, und ich habe jeden Cent davon verdient.«

»Trotzdem ist es eine Straftat«, sagte ich höflich, da ich nicht streitsüchtig erscheinen wollte.

»Was ist eigentlich mit der gesetzlichen Verjährung? Wer soll denn nach so langer Zeit noch mit dem Finger auf mich zeigen? Außerdem bin ich schon einmal verurteilt worden und habe für meine Sünden bezahlt.«

»Besprechen Sie das mit einem Anwalt. Vielleicht haben Sie ja recht. Nur für den Fall, daß Sie nicht recht haben, halte ich mich lieber raus«, sagte ich.

Laura wurde langsam ungeduldig. Sie hatte offenbar kein Interesse an unserer Debatte über juristische Feinheiten. Sie lehnte sich näher zu mir und zischte: »Ich wünschte, Sie würden den Hörer auflegen. Was, wenn Farley mich zu erreichen versucht?«

Ich hielt eine Hand in die Höhe wie eine Verkehrspolizistin. Der Angestellte von American Airlines war soeben an den Apparat gekommen und hatte sich mit Namen gemeldet. Ich sagte: »Oh, hallo, Brad. Mein Name ist Kinsey Millhone. Ich habe ein Hin- und Rückflugticket von Santa Teresa, Kalifornien, nach Palm Beach, Florida, ohne festen Termin für den Rückflug, und den würde ich jetzt gern buchen. Ich bin jetzt in Dallas, also brauche ich nur den Teil von Dallas nach Santa Teresa.«

»Und an welchem Tag soll es sein?«

»So bald wie möglich. Heute, wenn es geht.«

Während Brad und ich unsere Geschäfte abwickelten, handelten Ray und Laura offenbar eine Art Vater-Tochter-Waffenstillstand aus, eine Art finanzieller Feuerpause. Offenbar erlaubte sie ihm, ihr die heftig umkämpften acht Riesen zu verehren. Ich bekam am Rande mit, wie er ihr erklärte, daß er nach unten in sein Zimmer im zehnten Stock gehen und sein Gepäck holen müsse. Er bat sie um die Erlaubnis, sein Gepäck in ihrem Zimmer lassen zu können, bis er beschlossen hatte, wo er von hier aus hinwollte.

Unterdessen begann sie auf und ab zu gehen und wurde immer aufgeregter, während der Angestellte und ich versuchten, einen Reiseplan für mich auszuarbeiten. Es gab ein paar alternative Routen, auf denen ich über San Francisco oder Los Angeles nach Hause kommen könnte, wenn ich für den letzten Teil Kurzflüge nahm. Da heute Sonntag war, waren beide Direktflüge komplett ausgebucht, und sein einziger Vorschlag war, daß ich mich auf Standby setzen ließ und das Beste hoffte. Er trug mich bei zwei Flügen auf die Warteliste ein, einem Nonstop-Flug und einem mit Zwischenstop. Der nächste Flug sollte um 14.22 Uhr starten. Ich sah auf die Uhr. Es war kurz nach 12.30 Uhr, und mit dem Zubringerbus des Hotels oder einem Taxi konnte ich es vermutlich in fünfunddreißig oder vierzig Minuten zum Flughafen schaffen.

Laura war wieder an den Nachttisch zurückgekehrt, wo sie ihr Gesicht direkt vor meines schob und mit lautlosen Lippenbewegungen »Auflegen« formulierte. Sie setzte sich auf das andere Bett und begann ihre hohen Tennisschuhe aufzuschnüren.

Ich schenkte ihr ein affektiertes Lächeln, während ich das Gespräch beendete und mir meine Notizen über die in Frage kommenden Flüge bestätigen ließ. Als ich den Hörer auflegte, fiel mir auf, daß Ray immer noch im Zimmer war. »Ich dachte, Sie wollten nach unten gehen und Ihr Gepäck holen«, sagte ich.

»Ich hatte Angst, daß Sie bei meiner Rückkehr weg wären, wenn ich jetzt ginge.«

»Das kann gut sein. Was haben Sie denn vor? Fliegen Sie nach Kalifornien zurück?«

»Nee, das glaube ich nicht. Ich glaube, ich bleibe bei Laura, bis sie von Farley hört. Sowie ihre Situation geklärt ist, fahre ich nach Louisville. Ich habe einen Mietwagen unten stehen. Wenn ich mich in der Zwischenzeit unauffällig verhalte, wird die Geschäftsleitung gar nicht merken, daß ich da bin.«

»Was ist mit Chester? Ich möchte Ihnen ja nur ungern den Spaß verderben, aber die Hälfte des Geldes gehört ihm, wissen Sie?«

»Sagt wer?«

»Haben Sie gesagt. Sie haben gesagt, Sie würden es ihm geben.«

»Dann habe ich Neuigkeiten für Sie. Er hat Pech gehabt. Ich hatte nie ernsthaft vor, ihn zu beteiligen.«

»Ah. Das hätte ich wohl wissen müssen, was?«

»Sie sind doch diejenige, die darauf hingewiesen hat, wie sehr ich lüge«, sagte er.

»Also bin ich auch diejenige, die ihm das beibringen soll? Herzlichen Dank, Ray. Ganz schön fies. Was soll ich ihm denn sagen?«

»Ihnen fällt schon was ein. Machen Sie auf unwissend. Erfinden Sie etwas.«

»Oh, natürlich.«

»Der Typ ist sowieso ein Arsch. Ich wette, Sie bekommen Ihre Auslagen nie erstattet.«

»Ihr Vertrauen in ihn ist ja rührend.«

Laura schmollte immer noch, und so sparten wir uns zärtliche Abschiedsszenen. Ich packte meine Handtasche, hängte sie mir über die Schulter und verließ das Zimmer. Dann machte ich mich auf den Weg zur Feuertreppe und stieg die zwölf Etagen bis zur Hotelhalle hinab.

Ich fuhr mit dem Taxi zum Flughafen. Ich hätte auch auf den kostenlosen Zubringerbus warten können, aber ich wollte es einfach nicht riskieren, jemandem von der Geschäftsleitung zu begegnen. Bis jetzt hatte ich die Hoteldirektion erfolgreich überlistet, und es war mir ganz recht, wenn ich Texas ohne einen Zusammenstoß mit dem Gesetz verlassen konnte. Im Taxi sah ich in meine Brieftasche. Da ich auf dem Nachhauseweg war, nahm ich an, daß das Geld für die Reise reichen würde... also plus/minus fünfunddreißig Dollar. Ich hatte ein wenig für Kleinigkeiten ausgegeben, aber insgesamt hatte ich es geschafft, mit meinen geringen Mitteln auszukommen. Ich müßte mich zwar noch mit den Parkgebühren herumschlagen, wenn ich zu Hause ankam — sieben Dollar täglich für die zwei oder drei Tage, die ich weg gewesen war — , aber im Notfall konnte ich ja Henry anrufen und mir von ihm das nötige Bargeld bringen lassen. Ich hatte mich nicht förmlich an der Rezeption abgemeldet, aber die Angestellte hatte bei der Anmeldung einen Abdruck von meiner Kreditkarte gemacht, und ich war mir sicher, daß die Kosten auf der nächsten Abrechnung erscheinen würden. Hotels sind bei solchen Situationen extrem findig.

Das Taxi setzte mich am Abflugschalter der Amerian Airlines ab. Ich ging ins Flughafengebäude und durchquerte die Halle, wobei ich auf dem Monitor nach den Flugnummern spähte, die mir genannt worden waren. Der erste sollte um 14.22. Uhr starten, der zweite erst um 18.10 Uhr. Der spätere Flug war noch nicht einmal aufgeführt, aber ich entdeckte die Flugsteignummer für den um 14.22 Uhr. Wenigstens vereinfachte das Reisen ohne Gepäck die Prozedur in gewissem Maße. Ich ging am Ticketschalter vorbei und stellte mich in die Reihe der Passagiere, die vor der Sicherheitsschleuse warteten. Meine Handtasche passierte das Röntgengerät, doch als ich den Metalldetektor durchschritt, ertönte ein verräterisches Piepen. Ich betastete meine Taschen, in denen sich außer der Büroklammer und dem bißchen Kleingeld, das ich für das Münztelefon benutzt hatte, nichts Metallisches befand. Ich trat zurück und warf die Gegenstände auf eine Plastikschale. Ich versuchte es noch einmal. Das Piepen schien zu anklägerischem Getöse anzuschwellen. Ich wußte genau, daß die Sicherheitsbeamtin gleich meinen ganzen Körper mit ihrer Wünschelrute abtasten würde, als mir der Schlüssel wieder einfiel, den ich in mein Schulterpolster eingenäht hatte. »Moment mal, jetzt hab’ ich’s.« Zum Ärger der hinter mir Stehenden ging ich ein weiteres Mal zurück, zog den Blazer aus und legte ihn auf das Fahrband. Diesmal kam ich durch. Ich rechnete schon beinahe damit, über den ins Schulterpolster eingenähten Schlüssel befragt zu werden, aber niemand sagte etwas. Diese Leute sahen vermutlich tagtäglich wesentlich merkwürdigere Dinge. Ich sammelte meine Umhängetasche und den Blazer wieder ein und ging auf den Flugsteig zu.

Ich nahm mein Ticket aus der Handtasche, zeigte es der Dame am Schalter und erläuterte ihr meine Situation. Der Flug war komplett ausgebucht, und sie zeigte sich nicht besonders optimistisch, was einen Platz betraf. Ich saß im Wartebereich, während die anderen Passagiere eincheckten. Offensichtlich gab es noch andere, die auf denselben Flug hofften, der, wie es aussah, hoffnungslos überbucht war. Ich beäugte meine Konkurrenten, von denen einige wie streitsüchtige Typen aussahen, die sofort Krach schlagen, wenn irgend etwas nicht klappt. Vielleicht hätte ich das ja selbst versucht, wenn ich der Meinung gewesen wäre, es könnte irgend etwas nutzen. Soweit ich weiß, gibt es eben nur soundso viele Plätze. Das Flugzeug ist entweder flugtüchtig oder nicht. Entsprechend den technischen Gegebenheiten und der Flugsicherung fliegt man, oder man fliegt nicht. Ich habe noch nie von einer Fluggesellschaft gehört, die sich nach lautstarken Beschwerden von Passagieren gerichtet hätte, also wozu nörgeln und schimpfen?

Ich holte meinen Liebesroman vor und begann zu lesen. Als die Abflugzeit nahte, ließ man die Passagiere den Reihen nach einsteigen, von hinten nach vorn, wobei die Privilegierten den Vorzug bekamen. Meiner war nicht darunter. Na ja. Die Schalterdame sandte mir ein entschuldigendes Lächeln herüber, aber es war nichts zu machen. Sie schwor, mich beim nächsten Flug ganz oben auf die Liste zu setzen.

In der Zwischenzeit mußte ich fast vier Stunden totschlagen. Soweit ich mitbekommen hatte, flogen die Besatzungen täglich zweimal die Schleife von Dallas nach Santa Teresa, immer vom selben Flugsteig, und zwar sieben Tage die Woche. Jetzt mußte ich nur noch eine Methode finden, wie ich meine Zeit herumbrachte, und mich dann wieder hier anstellen, bevor der Flug aufgerufen wurde. Wenn ich Glück hatte, bekäme ich einen Platz und wäre unterwegs nach Hause. Hatte ich Pech, saß ich bis Montag nachmittag, 14 Uhr, in Dallas fest.

Ich spazierte ein oder zwei Kilometer im Flughafengebäude umher, nur um mir die Beine zu vertreten. Ich benutzte die Damentoilette, wo ich mich sehr damenhaft benahm. Als ich sie wieder verließ und nach rechts abbog, kam ich an der Flughafenversion eines Straßencafes vorbei, dessen Tische vom Korridor durch einen niedrigen, schmiedeeisernen Zaun und falsche Pflanzen abgetrennt waren. Die kleine Bar offerierte die üblichen Weine, Biere und exotischen Mixgetränke, während unter Glas verschiedene frische Meeresfrüchte auf einem Hügel aus zerstoßenem Eis lagerten. Ich hatte noch nicht zu Mittag gegessen, und so bestellte ich mir ein Bier und eine Portion frische Shrimps, zu denen Cocktailsauce, Austerncracker und Zitronenschnitze serviert wurden. Ich schälte meine Shrimps und tunkte sie in die Sauce, während ich zum Vergnügen ein bißchen die Leute beobachtete. Als ich fertig war, spazierte ich wieder zum Flugsteig.

Ich setzte mich auf einen Platz am Fenster, las in meinem Buch und sah zwischendurch den Flugzeugen beim Starten und Landen zu. Hin und wieder nickte ich ein, aber die Sitze waren nicht für richtigen Schlaf gebaut. Mehr schlecht als recht schaffte ich es, die vier Stunden bis auf gut eine herumzubringen. Gegen Ende dieser Zeit trottete ich hinüber zum Zeitungsstand und kaufte mir eine hiesige Zeitung. Um fünf Uhr kehrte ich zum Flugsteig zurück, gerade als der Flug aus Santa Teresa ankam. Ich fragte bei einer der Schalterdamen nach und vergewisserte mich, daß mein Name auf der Standby-Liste stand.

Die meisten Plätze im Wartebereich waren mittlerweile besetzt, und so lehnte ich mich an eine Säule und überflog die Zeitung. Der Durchgang zwischen Flugzeug und Terminal war bereits geöffnet, die Passagiere der ersten Klasse begannen herauszukommen und sahen dabei wesentlich frischer aus als die Reisenden hinter ihnen. Als nächste kamen die Passagiere der Touristenklasse, die ihre Blicke über die Menge schweifen ließen, um die Personen ausfindig zu machen, die gekommen waren, um sie abzuholen. Viele freudige Wiederbegegnungen. Großmütter rissen kleine Kinder in ihre Arme. Ein Soldat umarmte seine Liebste. Ehefrauen und Ehemänner tauschten Pflichtküsse aus. Zwei Teenager mit einer Traube gasgefüllter Luftballons begannen angesichts eines verlegenen winkenden Typs, der den Durchgang herabkam, zu quieken. Alles in allem war es eine sehr angenehme Art, ein paar Minuten zu verbringen, und ich merkte, wie ich mich nur zu gern von der düsteren Auswahl der Meldungen in der Zeitung ablenken ließ. Ich wollte gerade zu den Cartoons umblättern, als das letzte Häuflein Passagiere aus dem Flugzeug trottete. Es war der Stetson, der mir ins Auge fiel. Ich wandte den Blick ab und sah nur flüchtig auf, als Gilbert an mir vorbeiging.