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Ich zerrte einen der Wäschekarren aus dem Abstellraum auf Laura Huckabys Stockwerk. Ich war wieder in meine rote Uniform geschlüpft, bereit, mich an die Arbeit zu machen. Zuerst zog ich einen Stapel sauberer Laken und Handtücher aus dem Regal in der Wäschekammer und legte sie auf meinen Karren. Dazu stellte ich Schachteln mit Papiertaschentüchern, Toilettenpapier, Toilettenartikel und das beschichtete Schild mit der Aufschrift »Zimmermädchen anwesend«, das ich zuvor stibitzt hatte. Ich studierte das Klemmbrett, das am einen Ende des Karrens hing. Daran war an einer schmuddeligen Schnur ein Kugelschreiber befestigt. Soweit ich sehen konnte, war noch keines der Zimmer gemacht worden. Auf dem Arbeitsplan waren Bernadette und Eileen eingetragen, aber bislang waren ihre Aufgaben noch nicht abgehakt worden. Ich wußte nicht, was geschehen würde, wenn eine von ihnen mitten unter meinen vorgetäuschten Mühen auftauchte. Bestimmt hätte niemand etwas dagegen, daß ich mit anpackte... es sei denn, diese Frauen meldeten Gebietsansprüche in bezug auf Kloschüsseln an. Ich schob den Wäschekarren vor mir den mit Teppich ausgelegten Flur entlang. Die Räder blieben immer wieder in dem unregelmäßigen Flor hängen, und ich mußte darum kämpfen, daß der Karren nicht gegen die Wände prallte.

Der Plan, den Ray Rawson und ich ausgeheckt hatten, funktionierte folgendermaßen: Rawson würde vom Haustelefon auf der anderen Seite der Lobby, in Sichtweite der Rezeption, in Lauras Zimmer anrufen. Er würde sich als Angestellter der Rezeption ausgeben und behaupten, daß ein Päckchen für sie angekommen sei, für das sie eine Unterschrift leisten mußte. Er würde ihr sagen, daß er jetzt in die Pause ginge, das Päckchen aber auf dem Tisch des Geschäftsführers auf sie wartete. Wenn sie so bald wie möglich herunterkäme, würde einer der Angestellten es ihr gerne holen. Sollte sie darum bitten, es aufs Zimmer gebracht zu bekommen, müßte er ihr zu seinem Bedauern erklären, daß das gegen die hauseigenen Vorschriften verstieße. Kürzlich sei ein Päckchen fehlgeleitet worden, und der Geschäftsführer bestand nun darauf, daß die Gäste persönlich erschienen.

Unterdessen sollte ich mich auf dem Flur in der Nähe ihres Zimmers aufhalten und genau darauf achten, wann sie ging. Sobald sich die Türen des Aufzugs nach unten hinter ihr geschlossen hatten, würde ich mit Hilfe ihres Schlüssels Zimmer 1236 betreten. Laura würde in der Hotelhalle ankommen, wo jemand von der Rezeption ohne Erfolg nach ihrem nicht vorhandenen Päckchen suchen würde. Verwirrung, Ärger und baldige Entschuldigungen. Jeder würde versichern, weder von einem Paket noch von irgendwelchen Vorschriften zu wissen. Verzeihen Sie die Umstände. Sowie das Päckchen auftauchte, würde es hinaufgesandt werden.

Wenn sie sich von der Rezeption abwandte, um wieder nach oben zu fahren, würde Ray Rawson im Zimmer anrufen und das Telefon einmal klingeln lassen. Das wäre mein Stichwort, mich davonzumachen, falls ich noch da war. Da ich genau wußte, wo der Matchsack lag, dürfte es nicht mehr als zehn Sekunden in Anspruch nehmen, den Inhalt an mich zu nehmen. Wenn Laura im zwölften Stock aus dem Aufzug käme, würde ich bereits die Feuertreppe zum achten hinabsteigen. Dort würde ich meine Straßenkleidung anziehen und mir meine Umhängetasche schnappen. Ich würde mich mit Rawson in der Hotelhalle treffen, und noch bevor Laura überhaupt merkte, daß sie bestohlen worden war, wären wir schon unterwegs zum Flughafen, wo wir den nächsten Flug nehmen würden. Es verursachte mir keinerlei Kopfzerbrechen, Diebe zu bestehlen. Nur der Gedanke daran, erwischt zu werden, ließ mein Herz pochen.

Ich postierte meinen Karren zwei Türen von Lauras Zimmer entfernt und sah auf die Uhr. Rawson wollte seinen Anruf um 10.00 Uhr tätigen, was mir Zeit gab, mich vorzubereiten. Jetzt war es 9.58 Uhr. Ich beschäftigte mich mit einem Packen Handtücher, die ich immer wieder aufs neue zusammenlegte, da ich eifrig beschäftigt wirken wollte, wenn Laura Huckaby herauskam. Der Flur war totenstill und die Akustik so beschaffen, daß ich das Telefon klingeln hörte, als er bei ihr anrief. Der Hörer wurde nach dem zweiten Klingeln abgenommen, und deutliche Stille folgte. Ich spürte, wie mein Magen vor Spannung rumorte. Im Geiste ging ich alles durch, malte mir aus, wie sie den Flur hinab, in den Aufzug und hinüber zur Rezeption ging. Der Wortwechsel mit dem Angestellten, die Suche nach dem Päckchen, Frustration und Versicherungen, und schon käme sie zurück. Ich hätte eine Zeitspanne von mindestens fünf Minuten zur Verfügung, mehr als genug Zeit für die Aufgabe, die ich mir selbst gestellt hatte.

Ich sah erneut auf die Uhr: 10.08 Uhr. Wozu brauchte sie so lange? Ich hätte gedacht, daß sie die Ankunft eines Päckchens wahnsinnig neugierig machen würde, erst recht, wenn es ihre Unterschrift erforderte. Was auch immer sie aufhielt, es war 10.17 Uhr, als sie herauskam. Ich hielt mein Gesicht abgewandt und wich ihrem Blick aus, als ich mein Klemmbrett zur Hand nahm und willkürliche Vermerke machte. Sie schloß die Tür hinter sich und sah mich. »Oh, hi. Erinnern Sie sich noch an mich?«

Ich sah zu ihr hinauf. »Ja, Ma’am. Wie geht es Ihnen?« sagte ich. Ich legte das Klemmbrett beiseite und nahm ein Handtuch, das ich zusammenfaltete.

»Haben Sie vielleicht meinen Schlüssel gesehen, als Sie gestern abend mein Zimmer aufgeräumt haben?« Sie trug ihr übliches dickes Make-up, und ihr Haar war zu einem Pferdeschwanz zurückgekämmt, den sie mit einem hellgrünen Chiffonschal zusammengebunden hatte.

»Nein, Ma’am, aber wenn er weg ist, können Sie an der Rezeption einen Ersatzschlüssel bekommen.« Ich faltete ein zweites Handtuch zusammen und legte es auf den Stapel.

»Ich glaube, das werde ich tun«, sagte sie. »Danke. Schönen Tag noch.«

»Ihnen auch.« Ich musterte Lauras Rückseite, als sie auf die Aufzüge zuging. Sie trug einen weißen Baumwoll-Rollkragenpulli unter einem dunkelgrünen Trägerrock aus Cordsamt, der für Umstandszwecke geschnitten gewesen sein konnte oder auch nicht. Der Saum war hinten länger als vorne. Sie zerrte an dem Kleidungsstück, das sich um ihre Leibesmitte bauschte. Dazu trug sie ihre roten Tennisschuhe mit dem hohen Schaft und heute dunkelgrüne Strümpfe. Falls meine Vermutungen zutrafen und sie das Opfer ehelicher Gewalt war, könnte das ihre Neigung erklären, sich überall zu bedecken. Ich ließ die Hand in die Tasche gleiten, wo ihr Fünf-Dollar-Trinkgeld vom Vorabend nach wie vor ordentlich gefaltet lag. Dieser Geldschein war der einzige Funken an Anerkennung, den mir meine Verkleidung als Putzfrau bisher eingebracht hatte. Ich wünschte, sie wäre nicht so freundlich gewesen. Plötzlich fühlte ich mich aufgrund dessen, was ich vorhatte, wie ein Schwein.

Sie bog um die Ecke. Ich legte die Handtücher beiseite und holte den Schlüssel hervor. Dann geschah eine Weile gar nichts. Ich wartete darauf, daß ein Startschuß abgefeuert würde. Schließlich hörte ich, wie die Anzeige Ping machte, als der Aufzug das Stockwerk erreichte, und dann das gedämpfte Geräusch von Türen, die sich wieder schlossen. Schon bewegte ich mich auf die Tür von Zimmer 1236 zu. Ich schob den Schlüssel ins Schloß, drehte ihn um und schmückte den Türknauf mit dem »Zimmermädchen-anwesend«-Schild — für den Fall, daß sie ohne Vorwarnung zurückkam. Ich sah mich rasch um, um sicherzugehen, daß Zimmer und Badezimmer wie erwartet leer waren. Dann machte ich das Licht in der Ankleideecke an.

Seit gestern waren weitere Toilettenartikel ausgepackt und ums Waschbecken herum angeordnet worden. Ich ging an den Wandschrank und öffnete die Tür. Der Matchsack stand noch da, wo ich ihn zuvor gesehen hatte, und ihre Handtasche direkt daneben. Ich zerrte den Matchsack aus dem Schrank und hievte ihn auf die Abstellfläche. Zuerst nahm ich eine oberflächliche Untersuchung vor, um sicherzugehen, daß die Tasche nicht mit irgendeiner versteckten Sprengladung präpariert war. Der Matchsack war aus strapazierfähigem beigem Segeltuch, vermutlich wasserdicht, mit dunklen Lederhenkeln und einer Seitentasche für Zeitschriften. An jedem Ende der Tasche gab es ein Fach mit Überklappe, in das man kleinere Gegenstände stecken konnte. Ich zog den Reißverschluß des großen Fachs auf und untersuchte mit halsbrecherischer Geschwindigkeit den Inhalt. Socken, Flanellschlafanzug, saubere Unterwäsche, Strumpfhose. Ich sah in die Fächer an beiden Enden, doch sie waren leer. Nichts in der Außentasche. Vielleicht hatte sie das Geld herausgenommen und woanders untergebracht. Ich sah auf die Uhr: 10.19 Uhr. Ich hatte schätzungsweise noch gut drei Minuten.

Ich stellte den Matchsack zurück und nahm ihre Handtasche, deren Inhalt ich durchsuchte. In ihrer Brieftasche steckte ein Führerschein aus Kentucky, verschiedene Kreditkarten, mehrere Identitätsnachweise und vielleicht hundert Dollar Bargeld. Ich stellte die Handtasche wieder neben den Matchsack. Um wieviel Geld ging es wohl, und wieviel Platz konnte es in Anspruch nehmen? Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und untersuchte das Einlegebrett im Wandschrank, das sich leer anfühlte. Ich faßte in die Taschen ihres Regenmantels und ließ schließlich eine Hand in die Taschen des Jeanskleids gleiten, das sie getragen hatte und das nun neben dem Regenmantel hing. Ich sah im Schränkchen unter dem Waschbecken nach, aber es enthielt weiter nichts als Wasserrohre und ein Absperrventil. Ich betrachtete kurz die Duschkabine und den Spülkasten der Toilette. Dann ging ich in den Hauptraum, wo ich eine Schublade nach der anderen aufzog. Alle waren leer. Nichts im Fernsehschrank. Nichts im Nachttisch.

Plötzlich klingelte das Telefon. Einmal. Dann Stille.

Mein Herz begann zu hämmern. Laura Huckaby war auf dem Weg nach oben. Mir ging die Zeit aus. Ich trat an den Schreibtisch und zog die Stiftablage heraus, um nachzusehen, ob etwas daruntergeklebt worden war. Ich ließ mich auf alle viere hinab und spähte unter die Betten; dann zog ich die Tagesdecke zurück und hob eine Ecke der Matratze des nächstgelegenen Betts. Fehlanzeige. Ich versuchte es beim anderen Bett, indem ich den Arm zwischen Matratze und Sprungfedern schob. Dann richtete ich mich wieder auf und strich die Bettdecken glatt. Schließlich durchsuchte ich den Matchsack noch einmal, wühlte mich durch das Gewirr aus Kleidungsstücken und fragte mich, was ich übersehen hatte. Vielleicht gab es innerhalb des ersten Reißverschlußfachs noch ein zweites. Ach, zum Teufel damit. Ich schnappte mir den Matchsack und ging zur Tür. Ich riß das »Zimmermädchen-anwesend«-Schild vom Türknauf und zog hinter mir die Tür zu. Ich hörte, wie der Aufzug ping machte und dann das Geräusch der sich öffnenden Türen. Hastig schob ich den Matchsack unter einen Stapel sauberer Bettwäsche und begann den Karren den Flur entlangzuschieben.

Laura Huckaby ging eiligen Schritts an mir vorüber. Sie hatte einen Zimmerschlüssel in der Hand, so daß ihre Fahrt nach unten zumindest nicht völlig umsonst gewesen war. Diesmal würdigte sie mich keines Blickes. Sie schloß ihre Zimmertür auf und knallte sie hinter sich zu. Ich schob den Karren in die Nische am Ende des Korridors, zog den Matchsack heraus und eilte auf den Feuerausgang zu. Dann drängte ich mich ins Treppenhaus und begann, im Laufschritt nach unten zu rasen, wobei ich jede zweite Stufe übersprang. Wenn Laura Huckaby überhaupt Verdacht geschöpft hatte, würde sie nicht lange brauchen, bis sie die leichte Unordnung bemerkte. Ich malte mir aus, wie sie schnurstracks auf den Wandschrank zuging und ihre Dummheit verfluchte, wenn sie sah, daß der Matchsack fehlte. Sie mußte wissen, daß sie hereingelegt worden war. Ob sie dann Stunk machte oder nicht, hinge davon ab, wie gut ihre Nerven waren. Wenn sie eine große Summe legalen Geldes bei sich hätte, warum sollte sie dann nicht den Hotelsafe nutzen? Es sei denn, die Beute selbst war es, worüber Ray Rawson die Unwahrheit gesagt hatte.

Ich kam im achten Stock an, stieß die Tür auf und ging auf Zimmer 815 zu. Ein Mann im Straßenanzug stand vor meinem Zimmer auf dem Flur. Ich blieb auf der Stelle stehen. Er drehte sich um, als er mich sah. Ich konnte einen Blick auf das Namensschild an seinem Jackett werfen. Der Matchsack kam mir mit einem Mal riesig und ziemlich auffällig vor. Warum sollte ein Zimmermädchen eine Segeltuchtasche von solchen Ausmaßen mit sich herumschleppen? Ich bewegte mich automatisch auf den Abstellraum zu. In meinem Brustkasten brannte es, und ich begann zu hyperventilieren. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie er noch einmal an meine Tür klopfte. Ganz unauffällig musterte er den Flur in beiden Richtungen, holte dann einen Hauptschlüssel heraus und ging in mein Zimmer. O Gott, was nun?

Ich stellte den Matchsack auf ein Regalbrett in der Wäschekammer und legte einen Stapel sauberer Bettwäsche darüber. Die Laken purzelten zu Boden, und der Matchsack kippte hinterher. Ich hob ihn auf und stopfte ihn übergangsweise in einen riesigen Wäschesack, der für Schmutzwäsche gedacht war. Dann kniete ich mich hin und begann, die Bettwäsche wieder zusammenzufalten. Ich mußte etwas tun, während ich darauf wartete, daß der Typ wieder aus meinem Zimmer verschwand. Ich spähte um die Tür herum. Nichts von ihm zu sehen, also mußte ich annehmen, daß er nach wie vor in meinem Zimmer war und meine Habseligkeiten durchstöberte. Meine Umhängetasche war im Wandschrank, und ich wollte nicht, daß er sie durchsuchte, aber ich sah im Grunde keine Möglichkeit, ihn davon abzuhalten, außer indem ich das Haus in Brand steckte. Ich hörte, wie die Tür zum Feuerausgang auf- und wieder zuging. Bitte, bitte, bitte, laß es nicht eines der echten Zimmermädchen sein, dachte ich. Jemand trat in mein Blickfeld. Ich sah auf. Nun, meine Gebete waren erhört worden. Es war nicht das Zimmermädchen, es war der Wachmann.

Ich spürte, wie ein Blitzstrahl der Angst mich von oben bis unten durchzuckte und die Hitze mein Gesicht rötete. Er war Mitte Vierzig, hatte kurzes Haar und eine Brille, war sauber rasiert und zu dick. Meiner Meinung nach hätte er bei seinem Wanst Bauchgymnastik treiben sollen. Er stand da und sah mir dabei zu, wie ich einen Kopfkissenbezug faltete. Ich lächelte nichtssagend. Ich fühlte mich wie eine Schauspielerin, die mitten auf der Bühne einen Anfall von Lampenfieber bekommt. Sämtliche Spucke verschwand aus meinem Mund und sickerte am anderen Ende hinaus.

»Darf ich fragen, was Sie hier machen?«

»Ah. Ich wollte nur die Bettwäsche in Ordnung bringen. Mrs. Spitz hat mich gebeten, den Wäschebestand hier oben zu überprüfen.« Ich richtete mich schwerfällig auf. Nicht einmal in meiner Verkleidung als demütiges Zimmermädchen wollte ich, daß er mich überragte.

Er musterte mich eingehend. Sein Blick war flach und sein Tonfall eine Mischung aus Autorität und Beurteilung. »Darf ich um Ihren Namen bitten?«

»Ja.« Mir war klar, daß ich ihm besser einen nannte. »Katy. Ich bin neu. Ich werde noch angelernt. Eigentlich ist das die Schicht von Eileen und Bernadette. Ich sollte ihnen helfen, aber jetzt sind mir diese Laken heruntergefallen.« Ich versuchte, erneut zu lächeln, doch mein Gesichtsausdruck ähnelte eher einem aufgesetzten Grinsen.

Er studierte mich nachdenklich und erwog offenbar den Wahrheitsgehalt der Äußerung, die ich gerade getan hatte. Sein Blick wanderte meine Uniform hinab. »Wo ist denn Ihr Namensschild, Katy?«

Ich legte mir die Hand aufs Herz wie bei einem Treueschwur. Mir wollte einfach keine Antwort einfallen. »Ich hab’s verloren. Ich soll ein neues bekommen.«

»Was dagegen, wenn ich mir das von Mrs. Spitz bestätigen lasse?«

»Klar, kein Problem. Machen Sie ruhig.«

»Wie heißen Sie mit Nachnamen?« Er hatte bereits sein Walkie-talkie herausgezogen, und sein Daumen bewegte sich auf den Knopf zu.

»Beatty, wie Warren Beatty«, sagte ich ohne nachzudenken. Zu spät wurde mir klar, daß mein Name nun Katy Beatty lautete. Ich schwafelte weiter. »Falls Sie auf der Suche nach dem Geschäftsführer heraufgekommen sind, der ist auf 815. Die Frau, nach der er sucht, ist gerade auf dem Weg nach unten«, sagte ich. Ich wies in die Richtung von Zimmer 815. Meine Hand zitterte, aber das schien ihm nicht aufzufallen. Er hatte sich herumgedreht, um den Flur hinter sich entlangzublicken.

»Mr. Denton ist hier oben?«

»Ja. Zumindest glaube ich, daß er es ist. Ich hatte den Eindruck, daß er nach dieser Frau sucht, aber sie ist kurz zuvor gegangen.«

»Wo liegt denn das Problem?«

»Das hat er nicht gesagt.«

Er ließ das Walkie-talkie sinken. »Wie lange ist das her?«

»Fünf Minuten. Ich kam gerade aus dem Aufzug, als sie einstieg.«

Er hielt inne und starrte mich an, während er nach hinten griff und das Sprechgerät an seinem Gürtel befestigte. Sein Blick fiel auf meine Füße und wanderte dann wieder nach oben. »Diese Schuhe sind gegen die Vorschrift.«

Ich sah zu meinen Füßen hinab. »Ehrlich? Das hat mir kein Mensch gesagt.«

»Wenn Mrs. Spitz die sieht, bekommen Sie eine Abmahnung.«

Mir brannte das ganze Gesicht. »Danke. Ich werd’s mir merken.«

Er ging den Flur hinab. Ich stand wie angewurzelt da, sehnte mich danach zu fliehen, zögerte aber, mich zu bewegen, da ich fürchtete, Aufmerksamkeit zu erregen. Er klopfte an meine Tür. Ein Moment verstrich, dann wurde die Tür einen Spalt weit geöffnet. Der Wachmann besprach sich mit dem Mann in meinem Zimmer. Dann kam der Typ im Anzug heraus und zog meine Zimmertür hinter sich zu. Die beiden Männer gingen rasch den Flur hinab und auf die Aufzüge zu. Ich wartete, bis ich den Aufzug ping machen hörte, und holte dann den Matchsack aus seinem Versteck. Die Aufzugtüren hatten sich kaum geschlossen, als ich im Eiltempo den Flur hinabschritt, mein Zimmer betrat und die Kette vorlegte. Wie lange würde es dauern, bis sie herausfanden, daß Kinsey Millhone und das nicht vorschriftsmäßige Zimmermädchen ohne Namensschild ein und dieselbe Person waren?

Ich griff nach unten und streifte hastig die Schuhe ab. Dann zog ich mir den roten Kittel über den Kopf, machte den Reißverschluß an meinem Uniformrock auf und ließ ihn fallen. Ich lehnte mich an die Wand, um meine Tennissocken anzuziehen. Ich packte meine Jeans, schlüpfte hinein und hüpfte, aus dem Gleichgewicht geraten, herum, als ich sie hochzog. Ich zerrte mir den Rollkragenpulli über den Kopf, schob die Füße wieder in die Schuhe und ließ die Schnürsenkel offen baumeln. Dann öffnete ich den Wandschrank. Meine Handtasche stand immer noch auf dem Boden, wo ich sie hingestellt hatte, aber es bedurfte nur eines einzigen Blicks, um festzustellen, daß der Typ im Anzug darin herumgewühlt hatte. Verdammter Mist. Ich riß den Blazer vom Kleiderbügel und wand mich hinein. Ich sah mich rasch im Zimmer um, um sicherzugehen, daß ich nichts zurückgelassen hatte. Ich erinnerte mich an das Fünf-Dollar-Trinkgeld in meiner Uniformtasche und nahm den Schein an mich. Dann packte ich den Matchsack und wollte mich schon davonmachen. Aber ich ging noch einmal zurück, schnappte mir die rote Uniform vom Fußboden und knüllte sie zu einer Kugel zusammen. Dann stopfte ich sie in das Reißverschlußfach des Matchsacks. Wenn sie noch einmal suchten, warum ihnen dann die Befriedigung gönnen, sie zu finden? Ich zog die Zimmertür hinter mir zu und ging teils gemächlich, teils eilig auf die Feuertreppe zu.

Ich stieg acht Stockwerke hinab. Als ich an der Tür zur Hotelhalle angekommen war, öffnete ich sie einen Spalt weit und blickte hinaus. Ein kleiner Trupp Geschäftsleute hielt offenbar in einer der Sitzgruppen eine Spontanbesprechung ab. Papiere lagen auf dem Tisch verstreut. Ich spähte nach links hinüber. Ein Pärchen sprach mit einem Angestellten der Rezeption, der eine Landkarte der Umgebung in der Hand zu halten schien. Keine Spur von Mr. Denton oder dem Wachmann. Übrigens ebensowenig von Ray Rawson. Er hatte gesagt, er würde am Haustelefon auf mich warten, das ich auf der anderen Seite der Halle deutlich sehen konnte. Die Stelle war menschenleer, aber für meinen Geschmack zu exponiert.

Ich sah nach rechts. Etwa anderthalb Meter entfernt stand eine Reihe Münztelefone und dahinter die »Knappen« und »Mägde«. Mir gegenüber zur Linken befand sich der Eingang zum Coffee Shop. Ich ließ die relative Sicherheit des Treppenhauses hinter mir, schlich den Flur entlang und in die Damentoilette. Zwei der fünf Kabinentüren waren abgeschlossen, doch als ich unter die Trennwände blickte, waren keine Füße zu sehen. Ich schloß mich in die Behindertentoilette ein, hockte mich auf den Toilettensitz und band mir die Schuhe zu. Dann leerte ich den Matchsack und schüttete seinen Inhalt auf den Fußboden.

Zuerst untersuchte ich die Tasche selbst, äugte in jedes Fach und jede Falte und fuhr mit den Fingern in sämtliche Ecken. Ich hatte gedacht, daß ich vielleicht irgendein Geheimfach finden würde, doch es schien nichts dergleichen vorhanden zu sein. Ich fummelte an jeder Naht, jedem Stift und jeder Verbindung herum. Ich inspizierte jedes Kleidungsstück, das ich auf den Boden geworfen hatte, wobei ich die gestohlene Uniform zusammenlegte und wieder einpackte, dazu einen baumwollenen Schlafanzug, zwei Paar Strümpfe, T-Shirts, Tampons, zwei Büstenhalter und unzählige Höschen und Socken. Hier war absolut nichts.

Ich merkte, wie meine Unruhe wuchs. Ich war diesem sinnlosen Gepäckstück über drei Bundesstaaten hinweg gefolgt, ausgehend von der Annahme, daß es etwas enthielt, was die Verfolgung wert war. Nun sah es danach aus, als hätte ich es zu nichts als einem Haufen gebrauchter Unterwäsche gebracht. Was sollte ich Chester sagen? Er würde toben, wenn ich ihm erzählte, daß ich dafür den ganzen Weg nach Dallas geflogen war. Der Mann hatte nicht das Geld dazu, mich auf der Spur einiger Baumwollslips quer durchs Land jetten zu lassen. Ich hatte das Gesetz gebrochen. Ich stand mit einem Bein im Gefängnis. Ich hatte sowohl meine Lizenz als auch meinen Broterwerb aufs Spiel gesetzt. Ich begann, das Zeug wieder in das Reißverschlußfach zu schieben. Zum Glück sahen die Höschen so aus, als ob sie mir passen würden, und ich konnte ein sauberes Paar gebrauchen. Ich zögerte. Nee, vermutlich keine gute Idee. Falls ich wegen Diebstahls verhaftet würde, wäre es besser, wenn ich das Beweisstück nicht über meinem Hintern trüge.

Ich verließ die Toilettenkabine und versuchte, lässig zu wirken und nicht wie eine schwerkriminelle Dessous-Diebin auf der Flucht. Ich konnte mich nicht dazu überwinden, den Matchsack zurückzulassen. Im Grunde klammerte ich mich immer noch an die Idee, daß er einen seltenen und unbezahlbaren Gegenstand darstellte anstatt meine Fahrkarte ins Kittchen. Ich spähte nach links durch die Hotelhalle zum Haustelefon, doch von Ray war noch immer nichts zu sehen. Ich postierte mich an einem der öffentlichen Telefone und wühlte in meiner Jackentasche, deren Inhalt ich auf der Suche nach Kleingeld ausleerte. Auf das metallene Bord legte ich eine Kinokarte, den Kugelschreiber, mein Fünf-Dollar-Trinkgeld, zwei Vierteldollars und die Büroklammer. Ich warf eine der beiden Münzen in den Schlitz und meldete ein Gespräch an Chester in Kalifornien an, mit dem ich meine Telefonkreditkarte belastete. Ich bekam meinen Vierteldollar zurück, legte ihn zum ersten und schob zur Beruhigung gedankenlos die Gegenstände hin und her. Ich nahm nicht an, daß Chester beglückt sein würde. Ich hoffte, daß er nicht zu Hause wäre, aber beim dritten Klingeln nahm er höchstpersönlich den Hörer ab. »‘Lo.«

»Hallo, Chester? Hier ist Kinsey.«

»Können Sie lauter sprechen? Ich kann Sie nicht verstehen. Wer ist dran?«

Ich wölbte eine Hand über die Sprechmuschel und drehte den Körper zur Seite, damit ich meinen Namen nicht quer durch die Hotelhalle brüllen mußte. »Ich bin’s. Kinsey«, zischte ich. »Ich habe den Matchsack, aber darin ist nichts von Belang.«

Totenstille. »Das soll wohl ein Witz sein.«

»Äh, nein, eigentlich nicht. Entweder sind die Sachen woanders hingebracht worden, oder es ist überhaupt nichts gestohlen worden.«

»Natürlich haben sie etwas gestohlen! Sie haben die verfluchte Sockelleiste vom Küchenschränkchen abgerissen. Pappy hatte wahrscheinlich Bargeld versteckt.«

»Haben Sie jemals Bargeld gesehen

»Nein, aber das besagt nicht, daß es nicht da war.«

»Das ist reine Spekulation. Vielleicht ist der Kerl eingebrochen und hat nichts gefunden. Der Matchsack hätte ja auch leer sein können.« Ich begann die Gegenstände auf dem Bord umzugruppieren und legte einen der Vierteldollars über Lincolns Gesicht auf dem Fünf-Dollar-Schein. George Washington auf der Münze wirkte nackt, während Lincoln auf dem Schein mit seinem Sonntagsstaat ausstaffiert war. Sie mußten George mit zurückgekämmtem Haar in der Sauna erwischt haben.

In unwirschem Ton sagte Chester: »Das kapiere ich nicht. Warum rufen Sie mich an, nur um mir einen solchen Bockmist zu verzapfen?«

»Ich fand, Sie sollten über die neuesten Entwicklungen Bescheid wissen. Ich hielt es für angemessen.«

»Angemessen? Sie halten es für angemessen, daß ich das ganze Geld dafür ausgegeben habe, damit Sie nach Dallas und zurück fliegen können? Ich habe Ergebnisse erwartet.«

»Moment mal. Bislang haben Sie keinen Cent ausgegeben. Ich hatte die Unkosten. Sie sollen sie mir zurückzahlen.« Ich nahm die Kappe von meinem Kugelschreiber ab und malte Lincoln einen Schnurrbart an, wodurch seine Nase kleiner wirkte. Es war mir nie aufgefallen, was für einen Riesenzinken er hatte.

»Wofür zurückzahlen? Frische Luft und Sonnenschein? Vergessen Sie’s.«

»Hören Sie mal. Wir haben eine Entscheidung getroffen, die sich als falsch erwiesen hat.«

»Weshalb soll ich dann bezahlen? Ich bezahle Sie doch nicht für Ihre Inkompetenz.«

»Chester, glauben Sie mir. Ich bin mein Geld wert. Ich könnte schon für die Hälfte der Dinge, die ich riskiert habe, meine Lizenz entzogen bekommen. Ich darf in diesem Bundesstaat nicht einmal arbeiten.« Ich legte die beiden Münzen auf entgegengesetzte Ecken des Fünf-Dollar-Scheins, um ihn zu fixieren.

»Das ist Ihr Problem, nicht meines. Ich wäre nicht einverstanden gewesen, wenn ich gewußt hätte, daß Sie einem Phantom nachsetzen.«

»Tja, ich auch nicht. Das ist eben das Risiko, das wir eingegangen sind. Am Anfang waren Sie genauso schlau wie ich.« Zum Spaß schrieb ich ein schlimmes Wort auf die Vorderseite des Fünf-Dollar-Scheins. Es war die einzige Methode, die mir einfiel, um ihn nicht anzuschreien.

»Zum Teufel damit. Sie sind gefeuert!« hörte ich ihn fauchen. »Verflucht noch mal!« sagte er zu sich selbst, als er mir direkt ins Ohr den Hörer aufknallte.

Ich schnitt dem toten Hörer eine Grimasse und rollte mit den Augen. Dann hievte ich ein Telefonbuch nach oben und begann nach der Reservierungsnummer von American Airlines zu suchen. Es war peinlich, zuzugeben, daß das alles umsonst gewesen war, aber ich sah nicht, was für einen Sinn es haben sollte, wenn ich in Dallas blieb. Ich hatte einen Fehler gemacht. Ich hatte von Anfang an gewußt, daß meine Handlungsweise impulsiv war. Ich war anhand der Informationen, die ich eben besaß, vorgegangen, und wenn sich mein Urteil als falsch erwies, konnte ich nun nichts mehr daran ändern. Ich merkte, daß ich mich eifrig darum bemühte, mich selbst in Schutz zu nehmen, aber nach Chesters Entrüstung war das ja nur allzu verständlich. Wer konnte es ihm schon übelnehmen?

Ich nahm den Fünfer zur Hand und studierte ihn genauer, wobei ich besonders auf die Feinheiten achtete. Auf Geldscheinen tummelt sich ein barockes Sortiment verwischter Namen und Ziffern neben verschnörkelten Schneckenmustern und amtlichen Siegeln. Hm, das war aber seltsam. Seit wann war Henry Morgenthau Finanzminister? Und wer war dieser ominöse Julian, dessen winzige Unterschrift so unleserlich war?

Genau rechts von Lincolns Porträt stand »Serie 1934 A«. Ich kramte in meiner Handtasche, holte meine Brieftasche hervor und musterte die wenigen Geldscheine, die ich dabeihatte. Der einzige andere Fünfer in meinem Besitz war ein Buchanan-Regan, Serie 1981. Die Ein-Dollar-Scheine waren 1981er Buchanan-Regans und ein 1981-A-Ortega-Regan, dazu ein paar nagelneue Ortega-Bakers von 1985. Ein Zwanziger und ein Zehner stammten offenbar aus demselben Jahrgang. Wenn ich mich nicht irrte, hieß das, daß das Fünf-Dollar-Trinkgeld, das Laura Huckaby mir gegeben hatte, ein Geldschein von 1934 war. Wies das nicht darauf hin, daß sie es eilig hatte, Scheine aus einem Lager alter Banknoten auszugeben? Bestimmt hatte sie einen solchen Schein nicht zufällig in ihrem Besitz.

Ich legte das Telefonbuch weg und verabschiedete mich von dem Gedanken, wieder in ein Flugzeug zu steigen. Vielleicht war doch nicht alles verloren. Ich nahm den Matchsack in die Hand und ging weiter, während ich stets die gesamte Hotelhalle im Blick behielt. Die fünf Geschäftsleute beugten sich einander zu und reichten sich gegenseitig die Blätter irgendeines Berichts. Wie in einer solchen Gruppe üblich, steuerte offenbar einer von ihnen die Aufmerksamkeit der anderen. Hinter mir öffnete sich abrupt die Tür, und bevor ich mich umdrehen konnte, wurde ich am Ellbogen gepackt und ins Treppenhaus gezerrt.