14
Das Öffnen der Tür und das gellende Läuten lagen so eng beieinander, daß ich schon glaubte, Gilbert hätte die Tür irgendwie präpariert. Die Sprinkler über mir begannen einen Sturzbach internen Regens zu versprühen. Der entfernte Geruch von Rauch wehte mir entgegen, so unverwechselbar wie der anhaltende Duft von Parfüm, wenn eine Frau vorübergeht. Ich ging wieder zurück zu den Fenstern mit der Aussicht auf den Ballsaal. Weder waren Flammen zu sehen noch dichte schwarze Rauchschwaden. Der Saal wirkte leer, hell und kahl. Jemand machte eine Durchsage durch die öffentliche Sprechanlage und gab Anweisungen oder Ratschläge dafür, wie sich die Hotelgäste verhalten sollten. Das einzige, was ich heraushören konnte, war die erstickte Dringlichkeit der Erklärung. Wo der Brandherd lag, wußte niemand.
Die Lichter gingen aus und stürzten mich in völlige Finsternis. Ich tastete mich hinüber zu der Holztür und konnte ungehindert von irdischen Besitztümern hindurchkriechen. Ich trug nur noch das Nötigste am Leib und fühlte mich leicht und frei und zugleich bange. Meine Handtasche war mein Talisman, so tröstlich wie eine Sicherheitsdecke. Ihr Umfang und Gewicht waren vertraut, ihr Inhalt Gewißheit dafür, daß bestimmte Dinge stets in Reichweite waren. Die Tasche hatte mir bereits als Kissen und als Waffe gedient. Es war ein merkwürdiges Gefühl, ohne sie weiterzugehen, aber ich wußte, daß es sein mußte. Blind schätzte ich die Breite des Stegs ab und spürte den höhlenartigen Abgrund zu meiner Linken, wo meine Hand unvermittelt ins Nichts stürzte.
Die gesamte Umgebung war stockdunkel, aber ich konnte ein bedrohliches Knacken und Knistern hören. Es wehte ein scharfer Wind, der einen Funkenregen in meine Richtung trieb. Ich roch heißes, trockenes Holz, unterlegt mit dem beißenden Geruch petroleumhaltiger Produkte, die ihren chemischen Zustand änderten. Zögernd schlich ich vorwärts. Vor mir konnte ich mittlerweile einen sanften, rötlichen Schimmer ausmachen, der sich dort an der Wand abzeichnete, wo der Korridor nach links abbog. Ein langer Rauchschwaden wand sich mir um die Ecke entgegen. Wenn mich das Feuer auf diesem Steg erwischte, würde es vermutlich einfach vorüberziehen, aber die aufsteigende Wolke aus giftigen Gasen würde mich genauso radikal auslöschen wie die Flammen.
Das Wasser aus dem Sprinklersystem zischte zwar gleichmäßig, schien jedoch — soweit ich sehen konnte — keinerlei Wirkung auf das Feuer zu haben. Das Spiel des fahlgelben Lichts an den Wänden begann sich auszubreiten und zu tanzen, schob feine Asche und schwarzen Rauch vor sich her und verschlang sämtlichen vorhandenen Sauerstoff. Der Metallsteg war glitschig, und die Kette an den Rändern schwang heftig hin und her, als ich mich vorwärts bewegte. Die Sprechanlage meldete sich erneut zu Wort. Dieselbe Ansage ertönte noch einmal, eine verworrene Mischung aus Konsonanten. Ich erreichte das obere Ende der Leiter. Ich hatte Angst davor, dem um sich greifenden Feuer den Rücken zuzukehren, aber ich hatte keine andere Wahl. Mit dem rechten Fuß tastete ich nach der ersten Sprosse und maß den Abstand, während ich mich von einer Sprosse zur nächsten abwärts bewegte. Ich trat den Abstieg mit Vorsicht an, da meine Hände an dem nassen Metallgeländer abrutschten. Herabhängende Ketten färbten sich in dem Licht golden, Funken stoben und blinkten wie vereinzelte Glühwürmchen in einer heißen Sommernacht. Mittlerweile lieferte das Feuer genug Licht, um zu sehen, wie sich die Luft infolge der zunehmenden Rauchkonzentration grau färbte.
Ich erreichte das untere Ende der Leiter und wandte mich nach rechts. Das Feuer erhitzte die Luft auf ein unangenehmes Maß. Ich hörte ein knackendes Geräusch, zerbrechendes Glas, das fröhliche Knistern der Zerstörung, als die Flammen auf mich zutosten. Trotz der großzügigen Verwendung von Beton enthielt das Hotel genügend brennbare Stoffe, um der sich rasch ausbreitenden Feuersbrunst Nahrung zu geben. Ich vernahm das dumpfe Donnergrollen, als irgend etwas hinter mir nachgab und zusammenbrach. Dieser gesamte Teil des Hotels war offenbar von Flammen umgeben. Ich sah eine Tür zu meiner Linken und faßte nach dem Türknopf, der sich kühl anfühlte. Ich drehte ihn und zwängte mich hindurch, womit ich plötzlich in einem Flur im ersten Stock stand.
Hier war die Luft wesentlich kühler. Die Regenvögel in der Decke besprühten den verlassenen Korridor mit unregelmäßigen Schauern. Ich gewöhnte mich langsam an die Dunkelheit, eine kalkige Düsternis anstelle des undurchdringlichen Schwarz im inneren Korridor. Der Teppich hatte sich vollgesogen und quatschte feucht unter meinen Füßen, als ich den finsteren Flur hinabstolperte. Da ich meinen Augen nicht zu trauen wagte, hielt ich die Arme steif ausgestreckt und wedelte mit den Händen vor mir her wie beim Blindekuhspielen. Der Feueralarm setzte sein monotones Gellen fort, zu dem sich eine zweite Sirene gesellt hatte, die heiser heulte. In einem U-Boot-Film wären wir mittlerweile auf Tauchstation. Ich betastete den nächsten Türrahmen. Wieder fühlte sich der Türknauf kühl an und ließ zumindest für den Moment vermuten, daß das Feuer nicht auf der anderen Seite tobte. Ich drehte den Knopf und stieß die Tür vor mir auf. Ich fand mich auf der Feuertreppe wieder, die ich inzwischen bis ins Detail kannte. Durch die Schwärze stieg ich hinab, doch die Vertrautheit des Treppenhauses beruhigte mich. Die Luft war kalt und roch sauber.
Als ich im Erdgeschoß ankam, schalteten sich die Notstromaggregate ein, und kurz darauf gingen die Lichter flackernd wieder an. Der Korridor war verlassen, die Türen geschlossen. Hier gab es keinerlei Hinweise auf Bewegung, keine Spur von Rauch, und die Sprinkleranlage hatte sich ausgeschaltet. Jeder öffentlich zugängliche Raum, an dem ich vorüberkam, war leer. Ich entdeckte eine Tür mit der Aufschrift »Notausgang«, über der ein großer, beweglicher Balken lag, der mit Warnhinweisen beklebt war. Als ich durch die Tür ging, begann hinter mir noch eine Sirene zu jaulen. Ich ging rasch und ohne einen Blick zurückzuwerfen, bis ich den Parkplatz neben dem Hotel erreicht hatte, wo Rays Mietwagen geparkt war.
Die Feuerwehrautos fuhren am Hoteleingang vor, wo die evakuierten Hotelgäste in Trauben herumstanden. Der Nachthimmel war glühend gelb gefärbt, das an den Stellen, wo Feuer und Löschwasser aufeinandertrafen, von Säulen weißen Rauchs erstickt wurde. Neben dem Gebäude kreuzten sich zwei Wasserstrahlen mitten in der Luft wie ein Paar Suchscheinwerfer. Teile des Hotels waren völlig von dem Feuer eingeschlossen, Glas zerbarst, Flammen stiegen auf, und eine Wolke schwarzen Rauchs quoll hervor. Der Teil der Einfahrt, den ich sehen konnte, wurde durch die Feuerwehrautos und — Schläuche blockiert, während Rettungsfahrzeuge bernsteinfarbenes Stroboskoplicht ausstrahlten. Über uns kreiste ein Hubschrauber, in dem ein Nachrichtenteam des Lokalfernsehens Aufnahmen machte und live vom Schauplatz berichtete.
Ich fand Rays Autoschlüssel in meiner Jackentasche und stieg in seinen Mietwagen. Ich ließ den Motor an und drehte die Heizung auf. Meine Kleider waren völlig durchnäßt, und das Wasser lief mir aus dem wie angeklebt am Kopf haftenden Haar immer noch übers Gesicht. Ich wußte, daß ich nach Rauch, nasser Wolle, nassen Jeans und feuchten Socken roch. Die texanische Nacht war kalt, und ich merkte, wie ich von einem bis in die Knochen gehenden Schüttelfrost erfaßt wurde. Ich ließ den Motor warmlaufen. Der Wagen war ein Ford im »Familienformat«: ein Viertürer mit Automatikschaltung, außen weiß und innen rot. Ich legte den Rückwärtsgang ein und fuhr aus der Parklücke, während ich den leeren Parkplatz nach Gilbert absuchte.
Ich ließ die Scheinwerfer aus, als ich langsam um den Parkplatz herum und auf die andere Seite fuhr. Die Ausfahrt wurde von einem Polizisten mit Taschenlampe verstellt, der sämtliche Autofahrer dazu zwang, eine Umleitung zu fahren. Ich suchte mir eine Stelle an einer Hecke aus und fuhr über den Randstein, wobei ich den Wagen durch dichtes Buschwerk zwängte. Ich kam etwa dreißig Meter hinter der gesperrten Stelle auf der Zufahrtsstraße wieder heraus. Der Polizist sah mich vermutlich, konnte aber nicht viel machen. Er hatte alle Händevoll zu tun, den Ansturm von Gaffern in Schach zu halten. Ich bog in die Straße ein, die auf die Hauptstraße führte. Als ich an dem Miniaturschloß vorbeikam, verlangsamte ich das Tempo und hupte einmal kurz. Eilig traten Ray und Laura aus dem Schatten. Ray schleppte die drei Gepäckstücke und war beladen wie ein Packesel. Laura hatte immer noch die trügerische Weste umgeschnallt und trug die achttausend Dollar an ihrem Bauch wie einen Säugling. Die Vorspiegelung einer Schwangerschaft war so überzeugend, daß Ray sich fürsorglich um sie kümmerte. Ich hörte, wie der Kofferraum aufging, gefolgt von heftigem Poltern, als Ray alles hineinwarf und den Deckel wieder zuschlug. Er öffnete die Beifahrertür und setzte sich neben mich, während Laura hinten einstieg. Ich drückte den Fuß aufs Gas und fuhr fröhlich davon, bestrebt, Abstand zwischen uns und dem Feind zu schaffen.
Ray sagte: »Wir haben geglaubt, Sie würden nicht auftauchen. Wir wollten gerade zu Fuß losmarschieren.« Er wandte sich um und spähte durch die Heckscheibe auf das brennende Hotel hinter uns. »War das Gilbert?«
»Ist anzunehmen«, sagte ich.
»Natürlich war er das«, sagte Laura gereizt. »Er hat vermutlich vorne gewartet, um uns abzufangen, sowie wir zur Drehtür herauskämen.«
Ich warf ihr im Rückspiegel einen Blick zu. Wie Ray hatte sie sich umgewandt, um das Feuer zu beobachten. Das Glühen am Horizont ging von Blutrot ins Lachsrosa über, und eine weiße Wolke stieg dort auf, wo das Wasser aus den Feuerwehrschläuchen zu Dampf wurde. »Das ist ja ein Wahnsinnsfeuer. Wie hat er denn das ohne Beschleuniger hingekriegt?«
»Das mußt du ihm schon lassen. Der Mann hat Ideen. Er ist flink und kann gut improvisieren«, sagte sie.
Ray drehte sich wieder nach vorn um, griff nach seinem Sicherheitsgurt und ließ ihn einrasten. Ich merkte, wie er mich noch einmal ansah und meinen durchnäßten Zustand studierte. Ich fühlte mich wie ein Hund, den man während eines plötzlichen Regengusses im Hinterhof vergessen hat. Er beugte sich zur Seite und zog ein Taschentuch hervor, das er mir reichte. Dankbar wischte ich die Rinnsale ab, die mir das Gesicht hinunterliefen. »Danke.«
»Fahren Sie wieder zum Flughafen?«
»Nicht in diesem Aufzug. Ich habe meine Maschine sowieso verpaßt... Scheiße!« Schlagartig fiel mir ein, daß ich mein Flugticket in meiner zurückgelassenen Umhängetasche vergessen hatte. Ich betastete meine Jackentaschen, doch es hatte keinen Zweck. Ich konnte es nicht fassen. Ausgerechnet. In meiner Hast hatte ich den Umschlag der Fluggesellschaft einfach übersehen. Wenn ich mir nur das Ticket geschnappt oder besser noch die Tasche selbst bei mir behalten hätte. Nun besaß ich nur noch die Habseligkeiten, die ich direkt am Leib trug. Mir war fast schlecht vor Zorn. Das Flugticket repräsentierte nicht nur meine Heimreise, sondern auch den größten Teil meines flüssigen Vermögens. Ich schlug aufs Lenkrad. »Verdammt noch mal«, sagte ich.
Laura beugte sich zum Vordersitz. »Was ist denn passiert?«
»Ich habe mein Flugticket dort drin vergessen.«
»Oh-oh. Tja, dann ist es jetzt weg«, sagte sie und konstatierte das Offenkundige mit etwas, das mir wie ein Grinsen vorkam. Wenn ich nicht am Steuer gesessen hätte, wäre ich auf den Rücksitz gesprungen und hätte sie gebissen.
Ray mußte meinen Gesichtsausdruck gesehen haben. »Wo fahren wir hin?« fragte er, vermutlich um einer Quarantäne wegen Tollwut zu entkommen.
»Ich weiß ja nicht einmal, wo wir sind«, grollte ich. Ich zeigte aufs Handschuhfach. »Haben Sie eine Karte da drinnen?«
Er klappte das Fach auf, das abgesehen von dem Mietvertrag für das Auto und einem Wischbesen mit abgekaut aussehenden Borsten leer war. Er schlug es wieder zu und sah in der Tasche an der Beifahrertür nach. Ich fuhr mit der Hand in die Tasche auf meiner Seite und zog verschiedene Papiere heraus, darunter eine ordentlich zusammengefaltete Karte der Vereinigten Staaten. Ray grunzte zufrieden und knipste die Innenbeleuchtung an. In ausgebreitetem Zustand nahm die knisternde Karte fast den gesamten zur Verfügung stehenden Raum ein. »Sieht so aus, als müßten Sie nach der U.S. 30 in Richtung Nordosten Ausschau halten.«
»Wohin?«
Laura sah zu ihm hinüber. »Ich wette, nach Louisville, stimmt’s?«
Er drehte sich zu ihr um. »Hast du damit ein Problem?«
»Gilbert ist nicht blöd, Ray. Was glaubst du wohl, wo er hinfährt?«
»Soll er doch nach Louisville fahren. Wen juckt das schon? Hier geht’s um eine Fahrt von zwölf Stunden. Er wird nie rauskriegen, welche Route wir genommen haben.«
»Hör mal, Einstein. Es gibt nur eine«., belehrte sie ihn.
»Ausgeschlossen. Das ist Schwachsinn. Es muß mindestens ein halbes Dutzend geben«, widersprach er.
Sie griff hinüber und schnappte sich die Karte. »Du hast zu lang im Gefängnis gesessen.« Ich konnte hören, wie sie im Fond des Wagens lautstark mit der Karte hantierte und sie neu faltete, während sie den Teil mit Dallas und dessen östlicher Umgebung suchte. »Seht euch das an. Es gibt vielleicht eine andere mögliche Strecke, aber die 30 ist die erste Wahl. Gilbert braucht lediglich zu fahren wie ein Wilder, um als erster anzukommen.«
»Wie soll er uns denn finden? Wenn wir in der Stadt eintreffen, nehmen wir uns zwei Hotelzimmer und verwenden erfundene Namen. Wir zahlen in bar und nennen uns, wie es uns paßt. Hast du es nicht auch so gemacht?«
»Ja und jetzt siehst du, was passiert ist. Kinsey hat mich in Null Komma nichts gefunden. Und Gilbert übrigens auch.«
»Das war Glück. Daß sie dich gefunden hat, war der reine Zufall. Frag sie«, sagte er.
»Ich würde es nicht Glück nennen«, sagte ich beleidigt.
»Sie wissen schon, was ich meine. Der Punkt ist doch, daß Sie nicht geraten haben, wie sie sich nennt, und sie daraufhin aufgespürt haben. Sie sind ihr lediglich gefolgt, stimmt’s?«
»Ja, aber was ist mit Gilbert? Wie hat er es geschafft?« fragte ich.
Ray zuckte die Achseln. »Vermutlich hat er Farley dazu überredet, alles auszuplaudern.«
Vom Rücksitz ertönte ein Seufzer. »Oh, mein Gott. Stimmt das? Daran habe ich nicht gedacht. Glaubst du, daß Farley in Sicherheit ist?«
»Darüber kann ich mir jetzt nicht den Kopf zerbrechen«, sagte Ray.
Ich sah nach hinten zu Laura, die immer noch über die Karte wachte. »Was ist die nächste große Stadt zwischen hier und dort?«
Laura sah erneut in die Karte. »Wir kommen zuerst nach Texarkana und dann nach Little Rock. Danach folgt Memphis, dann Nashville und so weiter. Wieso?«
»Weil ich nach Hause möchte. Wir werden in Little Rock einen Abstecher zum Flughafen machen, und ich steige in ein Flugzeug.«
»Was ist mit Ihrem Ticket?« wollte Ray wissen.
»Ich rufe einen Freund von mir an. Er hilft mir.«
Laura sagte: »Wie wäre es in der Zwischenzeit mit einem Boxenstop, bevor ich in die Hose mache?«
»Klingt gut«, meinte Ray.
Ich achtete auf die Schilder am Straßenrand, bis ich eine Ausfahrt entdeckte, die mit den internationalen Symbolen für Nahrung und Töpfchen geschmückt war. Einen halben Block weiter unten an der Straße stießen wir auf eine schlecht beleuchtete freie Tankstelle mit Café. Nicht einmal Gilbert wäre so gerissen, uns hier aufzustöbern. Der Tank war noch beinahe voll, und so fuhr ich an den Zapfsäulen vorbei und parkte auf der von der Straße abgewandten Seite. Ray machte sich auf den Weg zur Herrentoilette, während Laura den Kofferraum öffnete und ihren Matchsack herausholte. »Sie können sich mein Kleid ausleihen.«
In dem unangenehmen Licht der Damentoilette streifte ich meine Reeboks und die nassen Socken ab und schälte mich aus meinem feuchten Blazer, den Blue jeans, dem Rollkragenpullover und der durchnäßten Unterwäsche. Ich erschauerte erneut, aber Lauras trockene Kleider begannen mich zu wärmen, kaum daß ich sie angezogen hatte. Sie trug immer noch den dunkelgrünen Trägerrock aus Cordsamt mit einem weißen Rollkragenpullover darunter, während ich das Jeanskleid, eine Strumpfhose und etwas zu große Tennisschuhe bekam. »Bis gleich«, sagte sie. Sie verließ die Toilette und gönnte mir ein paar Minuten allein.
Ich ließ Wasser in das Waschbecken laufen, bis es heiß wurde, wusch mir das Gesicht und tauchte meinen Kopf ein, um den Rauchgeruch auszuwaschen. Dann benutzte ich die harten Papierhandtücher, um mir das Haar trockenzureiben, und kämmte die einzelnen Strähnen anschließend mit den Fingern zurecht. Ich merkte, wie mich eine Woge der Übelkeit durchzuckte wie ein heißer Blitz. Ich stützte die Hände aufs Waschbecken und hielt mich fest, während ich mich sammelte. Es war Sonntag abend, und ich saß mit einem Ex-Sträfling, seiner Tochter und einem Bündel geklautem Bargeld in irgendeinem namenlosen Vorort von Dallas. Ich stieß einen tiefen Seufzer aus und starrte mein Ebenbild in dem schmuddeligen Spiegel an. Trübselig zuckte ich die Achseln. Es könnte (vermutlich) schlimmer sein. Bis jetzt war zumindest niemand zu Schaden gekommen, und ich hatte noch ein paar Dollar übrig. Ich freute mich auf eine Mahlzeit, obwohl ich mich darauf verlassen mußte, daß sie meine Reisegefährten bezahlen würden. Sowie wir nach Little Rock kamen, würde ich Henry anrufen, der mich retten würde. Er konnte mir telegraphisch Geld anweisen, das Flugticket auf seine Kreditkarte kaufen oder irgend etwas in der Richtung. Morgen früh läge ich sicher in meinem Bett, holte den entgangenen Schlaf nach und schätzte mich glücklich.
Ich ging zurück zum Wagen und stopfte den größten Teil meiner feuchten Kleider neben Rays Gepäck in den Kofferraum. Den Blazer nahm ich, obwohl er noch feucht war, mit hinüber ins Café, da ich ihn nicht aus den Augen lassen wollte. Das Lokal war fast leer und besaß eine reizlose, vernachlässigte Atmosphäre. Sogar die Einheimischen müssen das Etablissement gemieden haben, das vermutlich als Familienbetrieb begonnen hatte und seit geraumer Zeit seinem derzeitigen verwaisten Zustand anheimgefallen war. Ich sah zwar keine Fliegen, aber die Geister der Fliegen vergangener Tage schienen in der Luft zu hängen. Die Fenster zur Straße waren vom Staub eines halbfertigen Neubaus auf der anderen Straßenseite überzogen. Sogar auf den falschen Topfpflanzen lag eine Rußschicht.
Ray und Laura saßen einander gegenüber in einer Ecknische. Ich setzte mich neben Ray, da ich nicht besonders erpicht darauf war, sein zerschlagenes und geschundenes Gesicht vor Augen zu haben, während ich zu essen versuchte. Laura sah nicht viel besser aus. Wie ich trug sie kein Make-up, aber während bloße Haut mein bevorzugter Zustand ist, hatte sie stets sorgfältig die Blessuren kaschiert, die Gilbert ihr systematisch zugefügt hatte. Ich konnte ihr ansehen, daß sie die meisten Verletzungen bereits vor einiger Zeit erlitten hatte, da die dunkelsten Verfärbungen bereits zu zarten Grün- und Gelbtönen verblaßt waren. Ray war dagegen ein wahrer Regenbogen der Mißhandlung, verschorft, zerschnitten und hier und da wieder zusammengeflickt. Ich konzentrierte meinen Blick auf die Speisekarte, die sämtliche Standardgerichte bot: paniertes und fritiertes Steak, paniertes und fritiertes Hühnchen, Hamburger, Pommes frites, Sandwich mit Speck, Salat und Tomaten, gegrilltes Käsesandwich und »frische« Suppen, die vermutlich hinten in der Küche aus großen Dosen gekippt wurden. Wir bestellten Cheeseburger, Pommes frites und große Cokes, die fast überhaupt nicht sprudelten. Ohne Kohlensäure schmeckte die Cola wie der Sirup, den man früher als Hausmittel gegen Frauenleiden zu verabreichen pflegte. Die Bedienung war so freundlich, meine Tischgenossen nicht nach ihren Verletzungen zu fragen.
Beim Essen sagte ich zu Ray: »Ich frage nur aus Neugier, aber wie wollen Sie denn herausfinden, wo das Geld versteckt ist, wenn Sie in Louisville angekommen sind?«
Er schluckte einen Bissen Cheeseburger hinunter und wischte sich den Mund mit einer Papierserviette ab. »Weiß ich noch nicht. Johnny sagte, er würde bei meiner Ma Nachricht hinterlassen, für den Fall, daß ihm etwas zustieße, aber wer weiß, ob er das je getan hat. Vereinbart war, daß ich aus dem Gefängnis schnurstracks zu ihm nach Kalifornien kommen sollte. Dann wollten wir zu zweit nach Louisville fahren und das Geld holen. Er hatte es gern zeremoniell, wissen Sie, wollte die lange Wartezeit und die harte Arbeit, die dafür nötig waren, feiern. Auf jeden Fall kann ich sagen, daß man — wo immer sich das Geld befindet — einen Schlüssel braucht, um ranzukommen.«
»Den habe ich«, sagte ich.
»Was für einen Schlüssel?« wollte Laura wissen. Das war ihr offensichtlich neu, und es schien sie zu ärgern, daß ich mehr wußte als sie.
Ray ignorierte sie. »Haben Sie’den noch?«
»Wenn ich es rechtzeitig weiß, kann ich ihn organisieren«, sagte ich.
»Gut. Ich möchte nicht, daß Sie davonspazieren, ohne ihn herzugeben.«
»Glauben Sie, daß ich Ihnen helfen werde, um Chester um seinen rechtmäßigen Anteil zu betrügen?«
»He, er würde das gleiche tun. Er wird Sie vermutlich auch betrügen.«
»Darauf möchte ich wirklich nicht eingehen«, sagte ich. »Glauben Sie, daß Johnny tatsächlich sein Wort gehalten hat?«
»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß er einen solchen Batzen Geld einfach abschreibt. Er muß noch einen Plan in der Hinterhand haben, irgend etwas Idiotensicheres für den Fall, daß er vom Auto überfahren wird oder so. Warum fragen Sie? Haben Sie selbst irgendwelche Ideen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Es ist lediglich ein interessantes Projekt. Was ist Ihre Strategie?«
»Meine Strategie ist, dieses Problem dann zu lösen, wenn es ansteht«, sagte er.
Nachdem wir uns wieder auf den Weg gemacht hatten, verkroch sich Ray auf die Rückbank, um zu schlafen, während ich fuhr und Laura seinen Platz auf dem Beifahrersitz einnahm. Wir sahen zu, wie das silberne Band des Highways unter uns abrollte. Die Lichter am Armaturenbrett strahlten eine sanfte Beleuchtung aus. Ray zuliebe stellten wir das Radio ganz leise und beschränkten unsere Konversation auf eine gelegentliche Bemerkung. Ray begann zu schnarchen, ein abgehacktes, von Stille unterbrochenes Ausatmen, als hielte ihm jemand in regelmäßigen Abständen die Nase zu. Als sich abzeichnete, daß ihn höchstens eine Karambolage mit vier Autos aus dem Schlaf reißen könnte, begannen wir leise zu plaudern.
»Sie haben also nie Gelegenheit gehabt, Zeit mit ihm zu verbringen«, sagte ich.
Laura zuckte die Achseln. »Im Grunde nicht. Meine Mutter hat mich gezwungen, ihm einmal im Monat zu schreiben. Sie hat immer großen Wert darauf gelegt, sich um Leute zu kümmern, denen es nicht so gut ging wie uns. Ich weiß noch, wie ich mich umsah und mich fragte, von wem zum Teufel sie denn redete. Dann heiratete sie wieder und schien nicht mehr an Ray zu denken. Zuerst bekam ich deshalb Schuldgefühle, bis ich ihn selbst vergaß. Kleine Kinder sind nicht gerade bekannt dafür, die Bedürfnisse anderer Menschen zu erfüllen.«
Ich sagte: »Ich bin eigentlich der Meinung, daß Kinder versuchen, es jedem recht zu machen. Was haben sie sonst schon für eine Wahl? Wenn man von jemandem abhängig ist, paßt man besser auf, daß man ihn bei Laune hält.«
»Sagte die wahre Neurotikerin. Leben Ihre Eltern noch?«
»Nein. Sie kamen gemeinsam bei einem Unfall ums Leben, als ich fünf war.«
»Aha. Nun stellen Sie sich vor, einer von beiden würde eines Tages plötzlich auftauchen. Da bringt man sein Leben damit zu, sich einen Vater zu wünschen. Dann hat man auf einmal einen und merkt, daß man nicht die leiseste Ahnung hat, was man mit ihm anfangen soll.« Sie warf Ray auf dem Rücksitz einen beklommenen Blick zu. Wenn er nur so tat, als ob er schliefe, dann machte er es wirklich gut.
Ich fragte: »Stehen Sie Ihrer Mutter nahe?«
»Bevor ich Gilbert traf, schon. Sie mag ihn nicht besonders, aber das kommt vermutlich daher, daß er sie nie richtig beachtet hat. Sie ist so eine Art >Southern belle<. Sie mag Männer, die sie umgarnen.«
»Was ist mit Ihrem Stiefvater? Was gibt’s von ihm zu erzählen?«
»Er und Gilbert sind dicke Freunde. Er wollte nie glauben, daß Gilbert mich schlug, ohne daß ich ihn provoziert habe. Nicht, daß er es gutgeheißen hätte. Er geht nur einfach immer davon aus, daß es auch eine andere Sichtweise gibt. Er ist einer von denen, die sagen: >Tja, das ist deine Meinung. Bestimmt hätte Gilbert etwas anderes dazu zu sagen.< Er brüstet sich damit, fair zu sein und keine vorschnellen Schlüsse zu ziehen. Wie ein Richter, wissen Sie. Er möchte die Argumente der Anklage und der Verteidigung hören, bevor er seine Strafe verkündet. Er sagt, er möchte nicht voreingenommen sein. Was er eigentlich damit meint, ist, daß er mir kein Wort glaubt. Was immer Gilbert tut, ich habe es verdient, wissen Sie? Vermutlich wünscht er sich, er könnte selbst mal auf mich losgehen.«
»Was ist mit Ihrer Mutter? Hatte sie nichts dagegen, daß Gilbert Sie geschlagen hat, oder wußte sie nichts davon?«
»Sie sagt dasselbe wie Paul. Es ist wie ein stilles Übereinkommen. Sie will ihre Ehe nicht gefährden. Sie mag keine Konflikte oder Meinungsverschiedenheiten. Sie will nur Ruhe und Frieden. Sie ist so begeistert davon, daß sie keinen Wirbel machen will. Paul tut immer so, als täte er ihr einen Riesengefallen damit, daß er mit ihr verheiratet ist. Ich glaube, sie war vierundzwanzig, als sie sich kennengelernt haben. Ich war vielleicht fünf Jahre alt. Da stand sie nun, mit einem Ex-Ehemann im Knast und ohne Rücklagen. Der einzige Job, den sie hatte, war als Aushilfe in einem Drugstore. Sie verdiente nicht genug zum Überleben. Sie mußte Sozialhilfe beantragen, was für sie das Allerletzte bedeutete. Ihre große Schande. Wie auch immer. Sie brauchte Hilfe. Ich war zwar nicht unehelich, aber in ihren Augen war es das Schlimmste. Sie will nie wieder so tief sinken. Außerdem braucht sie bei Paul überhaupt nicht zu arbeiten. Er will nicht, daß sie arbeitet. Er will, daß sie den Haushalt macht und sich seinen Launen beugt. Kein übles Abkommen.«
»O doch. Es klingt grauenhaft.«
Laura lächelte. »Ja, eigentlich schon, oder? Na, auf jeden Fall, als ich aufwuchs, war Paul kritisch und autoritär. Er war der Herr im Haus. Er hätte sich beinahe den Arm dabei gebrochen, daß er sich für alles, was er für uns tat, ständig selbst auf die Schulter geklopft hat. Auf seine Art war er gut zu ihr. Um mich hat er sich nie geschert, aber um fair zu sein, muß ich sagen, daß ich wohl ätzend war. Bin ich vermutlich immer noch, wenn man’s genau nimmt.« Sie lehnte ihren Kopf gegen den Sitz. »Sind Sie verheiratet?«
»Ich war’s mal.« Ich hielt zwei Finger in die Höhe.
»Sie waren zweimal verheiratet? Ich auch. Einmal mit einem Typen mit einem >Drogenproblem<«, sagte sie und markierte die Gänsefüßchen um das Wort mit den Fingern.
»Kokain?«
»Das und Heroin. Speed, Gras, solches Zeug. Mein anderer Ehemann war ein Muttersöhnchen. Mein Gott, so ein Schwächling. Er ist mir mit seiner Unsicherheit auf die Nerven gegangen. Er hatte keine Ahnung von irgendwas. Außerdem brauchte er ständig Bestätigung. Aber was verstehe ich schon davon? Ich bin weiß Gott nicht dazu in der Lage, jemand anderen aufzubauen.«
»Und was ist mit Gilbert?«
»Er war toll, am Anfang. Sein Problem ist, daß er einem nicht vertraut, verstehen Sie? Er kann sich nicht öffnen. Dabei kann er im Grunde so lieb sein. Machmal wenn er trinkt, fängt er an zu weinen wie ein kleines Baby. Bricht mir das Herz.«
»Und die Nase«, sagte ich.