19

Der Laden von Louisville Locksmith lag im westlichen Teil der Main Street in einem dreistöckigen Gebäude aus dunkelrotem Backstein, das vermutlich in den dreißiger Jahren errichtet worden war. Ray fand einen Parkplatz in einer Seitenstraße, woraufhin sich ein kurzer Wortwechsel entspann, in dessen Verlauf sich Helen weigerte, wie vereinbart im Auto zu warten. Schließlich gab er nach und ließ sie mitkommen, obwohl sie darauf bestand, ihren Baseballschläger mitzunehmen. Die Vorderseite des Ladens war schmal und von dunklen Steinsäulen flankiert. Sämtliche Holzverzierungen waren schlammbraun gestrichen, und das einzige Fenster zur Straße war mit handgeschriebenen Zetteln übersät, die die verschiedenen angebotenen Leistungen auflisteten: Installation von Stangenschlössern, Schlüsseldienst, Installation und Reparatur aller Schlösser, Einbau von Boden- und Wandsafes, Kombinationsänderungen.

Innen war das Geschäft tief und eng und bestand fast ausschließlich aus einer langen Theke, hinter der ich eine Vielzahl von Schlüsselschleifmaschinen ausmachen konnte. Reihenweise hingen Schlüssel da, von Wand zu Wand, vom Boden bis zur Decke, geordnet nach einem System, das nur dem Besitzer bekannt war. Eine Schiebeleiter, die oben auf Rollen lief, gewährte offensichtlich Zugang zu den Schlüsseln in den düsteren oberen Regionen. Sämtlichen verfügbaren Raum auf dem abgetretenen Holzboden nahmen Horizon-Safes ein, die zum Verkauf angeboten wurden. Wir waren die einzigen Kunden im Laden, und ich sah weder einen Buchhalter noch einen Verkäufer oder einen Lehrling.

Der Besitzer, Whitey Reidel, maß ungefähr einen Meter fünfzig und war rund um die Leibesmitte. Er trug ein weißes Anzughemd, schwarze Hosenträger und eine schwarze Hose. Ich habe zwar nicht nachgesehen, aber die Hose wirkte ganz so, als ließe sie am Saum eine Menge Knöchel hervorsehen. Er hatte eine weiche, unförmige Nase und große, dunkle Säcke unter den Augen. Sein Haaransatz war zurückgewichen wie das Meer bei Ebbe, und die verbliebenen dünnen Büschel weißen Haares standen vorne in einer Tolle nach oben wie bei einer Kewpie-Puppe. In seiner gewohnten Haltung pflegte er sich leicht nach vorn zu beugen, die Hände auf der Ladentheke, wo er sich festklammerte, als wehte ein heftiger Wind. Er ließ seinen Blick über uns drei gleiten und fixierte schließlich Helens Baseballschläger.

»Sie trainiert die C-Jugend«, sagte Ray als Reaktion auf seinen Blick.

»Was kann ich für Sie tun?« fragte Reidel.

Ich trat nach vorn und stellte mich vor. Dann erklärte ich kurz, was wir brauchten und warum. Er fing an den Kopf zu schütteln und verzog in dem Moment, als ich einen Masterschlüssel für ein Vorhängeschloß erwähnte, der auf der einen Seite die Nummer M550 eingraviert trug, die Mundwinkel nach unten.

»Geht nicht«, sagte er.

»Ich bin noch nicht fertig.«

»Ist auch nicht nötig. Erklärungen ändern nichts. Es gibt keine Serie von Master-Schlüsseln für Vorhängeschlösser, die mit M anfängt.«

Ich starrte ihn an. Ray stand hinter mir, seine Mutter neben ihm. Ich drehte mich zu Ray um. »Sagen Sie es ihm.«

»Sie sind diejenige, die den Schlüssel gesehen hat. Ich habe ihn nicht gesehen. Ich meine, gesehen habe ich ihn, aber ich habe nicht auf irgendwelche Zahlen geachtet.«

»Ich erinnere mich genau«, sagte ich zu Reidel. »Haben Sie ein Blatt Papier? Ich zeige es Ihnen.«

Mit demonstrativer Großmut griff er nach einem Notizblock und einem Stift. Ich schrieb die Nummer hin und zeigte darauf, als würde das meiner Behauptung mehr Gültigkeit verleihen.

Er widersprach mir nicht. Er griff lediglich unter die Theke und holte das Verzeichnis der Master-Vorhängeschlösser hervor. »Wenn Sie ihn finden, schleife ich ihn Ihnen«, sagte er. Er legte die Hände auf die Theke und stützte sein Gewicht auf die Arme.

Ich blätterte das Verzeichnis durch und fühlte mich stur und ratlos. Es gab zahlreiche Serien, von denen manche mit Buchstaben, manche mit Zahlen bezeichnet wurden, aber keine mit dem M, das ich gesehen hatte. »Ich kann beschwören, daß es ein Master-Schlüssel für ein Vorhängeschloß war.«

»Das glaube ich Ihnen.«

»Aber wie können auf einem Schlüssel Nummern stehen, die es nicht gibt?«

Er verzog erneut die Mundwinkel nach unten und zuckte die Achseln. »Es war vermutlich ein Duplikat.«

»Was würde das ändern?«

Er griff in seine Hosentasche und holte einen einzelnen Schlüssel hervor. »Das ist der Schlüssel für ein Vorhängeschloß da hinten. Auf dieser Seite steht der Hersteller, in diesem Fall Master, genau wie bei dem Schlüssel, von dem die Rede ist. Hat er so ausgesehen?«

»Mehr oder weniger«, sagte ich.

Helen hatte das Interesse verloren. Sie war zu einem der frei stehenden Safes hinübergegangen, hatte sich daraufgesetzt und stützte sich auf ihren Baseballschläger wie auf einen Stock.

»Okay. Auf dieser Seite steht Master, stimmt’s?«

»Stimmt.«

»Und auf dieser Seite stehen die Zahlen, die mit dem speziellen Schloß übereinstimmen, zu dem der Schlüssel paßt. Können Sie mir folgen?« Er sah zwischen mir und Ray hin und her, und wir nickten beide wie diese Nippesfiguren mit den losen Köpfen.

»Wenn Sie mir diese Zahlen nennen, kann ich sie hier im Verzeichnis suchen und die Daten ablesen, die ich brauche, um den

Schlüssel nachzumachen, wenn Sie ein Duplikat wollen. Aber auf dem Duplikat werden die Zahlen nicht stehen. Das Duplikat ist nicht beschriftet.«

»Okay«, sagte ich und zog das Wort vorsichtig in die Länge. Mir war nicht klar, worauf er damit hinauswollte.

»Okay. Also müssen die Zahlen, die Sie gesehen haben, eingraviert worden sein, nachdem der Schlüssel gemacht worden ist.«

Ich wies auf den Notizblock. »Sie wollen also sagen, daß jemand diese Zahlen auf den Schlüssel gravieren ließ«, sagte ich, indem ich ihn wiederholte.

»Genau«, sagte er.

»Aber warum sollte das jemand tun?« fragte ich.

»Lady, Sie sind zu mir gekommen. Nicht ich zu Ihnen«, sagte er. Als er lächelte, konnte ich die Verfärbungen an seinen Zähnen sehen, die ums Zahnfleisch herum dunkel waren. »Diese Zahlen sind im Zusammenhang mit einem Master-Vorhängeschloß unsinnig.«

»Könnten es Kennziffern eines anderen Schlüsselherstellers sein?«

»Möglich.«

»Wenn wir also herausfänden, welcher Hersteller es ist, dann könnten Sie mir doch den Schlüssel nachmachen?«

»Natürlich«, sagte er. »Das Problem ist nur, daß es etwa fünfzig Hersteller gibt. Sie müßten für jede Firma zwei, drei Handbücher durchgehen, und viele davon habe ich nicht auf Lager. Eingravierte Zahlen oder Buchstaben könnten den Schlüssel auch mit einem Gebäude oder einer Tür in Verbindung bringen, aber das läßt sich anhand dessen, was Sie mir erzählen, nicht feststellen.«

»Haben Sie je von einem Lawless-Schloß gehört?«

Er schüttelte den Kopf. »Gibt’s nicht.«

»Was macht Sie so sicher?« sagte ich, erbost von seiner besserwisserischen Art.

»Mein Vater war Besitzer dieser Firma und davor sein Vater. Wir sind seit über fünfundsiebzig Jahren im Geschäft. Wenn es eine solche Firma gäbe, hätte ich den Namen schon einmal gehört. Es könnte etwas Ausländisches sein.«

Ich verzog das Gesicht, da ich wußte, daß ich das nie herausfinden würde. »Besteht eventuell die Möglichkeit, daß es in den vierziger Jahren eine Firma Lawless gab, die heute nicht mehr existiert?«

»Nee.«

Ray legte mir eine Hand auf den Arm. »Gehen wir. Es ist schon gut. Wir werden die Sache mit Hilfe der Ausschlußmethode lösen.«

»Warten Sie mal«, sagte ich.

»Nichts da. Sie ziehen ein Gesicht, als würden Sie den Knaben gleich beißen.« Er drehte sich zu seiner Mutter herum. »He, Ma, wir gehen jetzt.« Er half ihr auf die Beine und nahm mit seiner Rechten ihren Arm, während er mit der Linken meinen packte. Der Druck, den er ausübte, verdeutlichte seine Absichten. Wir würden nicht hierbleiben und mit einem Mann streiten, der mehr wußte als wir.

In mir stieg die Enttäuschung auf. »Es muß einen Zusammenhang geben. Ich weiß, daß ich recht habe.«

»Grübeln Sie nicht übers Rechthaben nach. Grübeln wir lieber darüber nach, wie wir uns Gilbert vom Hals schaffen«, meinte er. Dann sagte er zu Reidel: »Vielen Dank für Ihre Hilfe.« Er machte die Tür auf und bugsierte uns hinaus. »Außerdem brauchen wir den Schlüssel nicht. Gilbert hat ja einen.«

»Tja, er wird ihn uns nicht zurückgeben.«

»Vielleicht doch. Wenn wir die Schlösser finden, wäre er womöglich zur Zusammenarbeit bereit. Es läge in seinem ureigensten Interesse.«

»Aber wozu sind die Zahlen da? Ich meine, M550 muß irgendein Code sein, oder nicht? Wenn nicht für einen Schlüssel, dann für etwas anderes.«

»Lassen Sie das Grübeln«, sagte er.

»Ich grüble aber. Gilbert wird Antworten hören wollen. Das haben Sie selbst gesagt.«

Draußen auf der Straße war es erstaunlich dunkel. Der Spätnachmittagswind peitschte vom Ohio herüber, der meines Wissens nur drei oder vier Häuserblocks weit entfernt lag. Ein paar vereinzelte Schneeflocken schwebten vorüber. Die Straßenlampen waren angegangen. Die meisten Geschäfte auf der Main Street schlossen gerade, und ein Gebäude nach dem anderen wies eine dunkle Front auf. Die Häuser bestanden in der Mehrzahl aus Backstein, waren fünf oder sechs Stockwerke hoch, und ihre Verzierungen ließen auf eine frühe Entstehungszeit schließen. Einige Geschäfte im Erdgeschoß verfügten über metallene Sicherheitsläden, die nun vor den Eingangstüren mit Vorhängeschlössern gesichert waren. Hier und da konnte man tief im Inneren noch einen trüben Lichtschein erkennen, doch im großen und ganzen verstärkte eine eisige Finsternis den umfassenden Eindruck der Verlassenheit, den die Straße ausübte. Der Verkehr in diesem Stadtviertel nahm langsam ab. Die Innenstadt selbst, die nach Osten zu in Sichtweite lag, prunkte mit einer beleuchteten Skyline von zwanzig- bis dreißigstöckigen Bürogebäuden.

Wir fuhren zu Helens Haus zurück und kreisten einmal rund um den Block, um nach Spuren von Gilbert Ausschau zu halten. Niemand von uns wußte, was für einen Wagen er fuhr, doch wir sahen uns aufmerksam um, da wir dachten, ihn vielleicht entdecken zu können, wie er im Dunkeln lauerte oder in einem geparkten Auto saß. Ray ließ seinen Wagen auf dem Schotterweg stehen, der hinter dem Haus seiner Mutter verlief. Wir gingen durch den Garten bis zum unbeleuchteten Hintereingang. Niemand von uns hatte daran gedacht, Licht brennen zu lassen, und so lag das Haus in völliger Dunkelheit. Ray ging zuerst hinein, während Helen und ich uns auf der Hintertreppe neben der Waschküche aneinanderdrängten. Helen stützte sich immer noch auf ihren Baseballschläger, den sie offenbar mittlerweile als ständiges Requisit bei sich trug. Über die Nachbargärten hinweg konnte ich die aufragenden Formen der winterlich kahlen Bäume vor dem vom Großstadtlicht überfluteten Novemberhimmel sehen. Zweige knarrten im Wind. Bis Ray endlich Lampen und Deckenbeleuchtung eingeschaltet hatte und uns hereinließ, fröstelte ich. Wir warteten in der Küche, während er die vorderen Räume und das ungenutzte Schlafzimmer im Obergeschoß kontrollierte.

Wir waren weniger als eine Stunde weg gewesen, aber das Haus schien bereits vor Vernachlässigung muffig zu riechen. Die Glühbirne in der Küche gab ein harsches, unbarmherziges Licht von sich. Der Pappeinsatz im Küchenfenster wies an einer Ecke eine Lücke auf. Helen werkelte im gesamten Raum herum, zwischen Speisekammer und Kühlschrank hin und her, und holte Dinge für ein improvisiertes Abendessen hervor. Sie bewegte sich sicher, doch ich konnte sehen, daß sie die Schritte abzählte. Ray und ich halfen ihr und sagten wenig oder nichts, da wir alle unbewußt darauf warteten, daß das Telefon klingelte. Helen besaß keinen Anrufbeantworter, und so war es zwecklos sich zu fragen, ob Henry oder Gilbert während unserer Anwesenheit angerufen hatten.

Wir setzten uns zu einem Abendessen aus Rührei mit Speck, in Speckfett gebratenen Kartoffeln, Resten von gebratenen Äpfeln und Zwiebeln und selbstgebackenen Brötchen mit selbstgemachter Erdbeermarmelade. Jammerschade, daß ihr keine Methode eingefallen war, wie sie die Brötchen ebenfalls braten konnte, anstatt sie zu backen. Trotz der Überdosis Cholesterin war alles, was wir aßen, hervorragend. Das ist es also, was Großmütter tun, dachte ich. Mittlerweile hatte ich jegliche Hoffnung darauf aufgegeben, noch am selben Tag nach Hause zu kommen. Schließlich war erst Montag. Mir blieben noch der ganze Dienstag und der ganze Mittwoch, um ein Flugzeug zu ergattern. Langsam bekam ich es satt, mich deswegen aufzuregen. Warum sollte ich mir ins Hemd machen? Ich würde hier tun, was ich konnte, und dann den Heimweg antreten.

Nach dem Abendessen machte Helen es sich in ihrem Schlafzimmer vor dem Fernseher gemütlich. Ray kümmerte sich um den Abwasch, während ich den Küchentisch abräumte. Ich war gerade dabei, ihn abzuwischen und stellte die Zuckerdose sowie die Salz- und Pfefferstreuer beiseite, als mir die Beileidskarte ins Auge stach, die Johnny Lee geschickt hatte. Helen hatte sie offenbar auf dem Tisch liegen lassen, beschwert von der Zuckerdose. Ich las den Text ein weiteres Mal und hielt die Karte schräg gegen das Licht.

»Was ist das?« wollte Ray wissen.

»Die Karte von Johnny. Ich habe gerade noch einmal den Text darin gelesen. Der Vers sieht aus, als wäre er mit der Schreibmaschine geschrieben worden.«

»Lesen Sie ihn mir noch einmal vor.«

»>Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreichs geben; was du auf Erden binden wirst, das wird auch im Himmel gebunden sein, was du auf Erden lösen wirst, das wird auch im Himmel gelöst sein. Matthäus 16, 19. In der Stunde deines Verlusts in Gedanken bei dir.< Ich glaube, das ist eine dieser leeren Karten, wo man den Text selbst hineinschreibt.«

»Klingt einleuchtend. Wenn der Vers als geheime Botschaft gedacht war, wie hätte er dann eine Karte mit genau diesem Zitat finden sollen? Er mußte praktisch eine Karte ohne Text kaufen und sie selbst beschriften.«

Ich starrte auf den Bibelvers. »Vielleicht steht das M550 für Matthäus, Kapitel fünf, Vers fünfzig«, schlug ich vor.

»Matthäus fünf ist die Bergpredigt. Die hat keine fünfzig Verse, sondern nur achtundvierzig.« Er sah mich an und lächelte verlegen. »Das ist das zweite, was ich im Gefängnis gemacht habe, außer mich in puncto Verbrechen schlau zu machen. Ich habe jeden Montagabend an einer Bibelgruppe teilgenommen.«

»Sie sind ein äußerst erstaunlicher Mann.«

»Das will ich hoffen«, meinte er.

Ich drehte die Karte um und studierte die Schwarzweiß-Fotografie, die vorne aufgeklebt war. Sie zeigte das ausgebleichte Bild eines Friedhofs im Schnee. Ich zupfte an der losen Kante und spähte auf die vorgefertigte Karte darunter. Der Abzug war über ein kommerzielles Standardfoto von einem Sonnenuntergang am Meer geklebt worden. Ich zog ihn ab und musterte in der Hoffnung auf irgendeine handschriftliche Mitteilung seine Rückseite. Der Abzug selbst maß zehn mal fünfzehn Zentimeter auf gewöhnlichem Kodak-Papier, war matt und hatte keinen Rand. Abgesehen von dem Wort Kodak, das mehrfach quer über die Rückseite lief, stand nichts darauf. »Glauben Sie, daß das ein neues Foto ist, das von einem alten Negativ abgezogen wurde? Oder vielleicht ein neues Foto, das nach einem alten gemacht wurde?«

»Was macht das schon für einen Unterschied?«

Ich zuckte die Achseln. »Tja, ich glaube nicht, daß uns ein Bild von einem Sonnenuntergang am Meer irgend etwas sagt. Vielleicht hängen die Schlüssel gar nicht damit zusammen. Vielleicht ist das Foto die Botschaft, und die Schlüssel sind ein Ablenkungsmanöver.«

Er nahm die Karte und ging an den Tisch. Dann hielt er sie gegen das Licht, genau wie ich es getan hatte, und studierte die Fotografie. Ich spähte über seine Schulter. Sämtliche Grabsteine wirkten alt, und die verzierten Beschriftungen waren vom Regen ausgewaschen und von der Härte des winterlichen Schnees abgeschliffen worden. Zu sehen waren fünf niedrigere Grabsteine und drei größere Monumente aus der Lamm-und-Engel-Schule. Sogar die kleineren Steine, vermutlich aus Granit oder Marmor, waren mit Flachreliefs von Blättern, Schnörkeln, Kreuzen und Tauben versehen. Das bildbeherrschende Denkmal war ein weißer Marmorobelisk von schätzungsweise dreieinhalb Metern Höhe, der auf einem Granitsockel stand und von dem man den Namen Pelissaro ablesen konnte. Die umstehenden Bäume waren allesamt betagt und trugen kein Laub. Eine dünne Schneeschicht bedeckte den Boden. Ein Grüppchen Grabsteine war von einem Eisenzaun umgeben, und zur Rechten konnte ich einen Teil einer steinernen Mauer erkennen.

»Ich nehme an, daß Sie nicht wissen, wo das ist«, sagte ich.

Ray schüttelte den Kopf. »Könnte ein Privatfriedhof sein, so etwas wie ein Familiengrab auf dem Anwesen von jemandem.«

»Dafür kommt es mir zu ausgedehnt vor. Ein Privatfriedhof wäre kompakter und ländlicher. Einheitlicher. Sehen Sie sich nur die Grabsteine an, wie unterschiedlich die Größen und Stilrichtungen sind.«

»Und was hat das alles mit zwei Schlüsseln zu tun? Er hatte keine Zeit, einen Sarg freizuschaufeln und das Zeug zu vergraben. Es war mitten im Winter. Die Erde war hartgefroren.«

Ich sah Ray interessiert an. »Tatsächlich. Es war also Winter. Die Aufnahme könnte also zur gleichen Jahreszeit gemacht worden sein?«

»Möglich wäre das schon, aber wenn er das Geld vergraben hat, hätte er dazu Grabaushebemaschinen gebraucht, die er sich vermutlich sogar irgendwie hätte besorgen können. Ich erinnere mich übrigens dunkel daran, daß er mir erzählt hat, er wäre mal Friedhofsgärtner gewesen. Er hätte das Geld in einer Grabstätte verstecken können, schätze ich. Und was glauben Sie?«

»Aber warum ein Foto hiervon? Vielleicht ist es der Name Pelissaro. Nur wilde Spekulationen meinerseits. Vielleicht hat er das Geld bei jemandem dieses Namens gelassen. In einem Gebäude oder einer Firma in der Nähe dieses Friedhofs. Das Pelissaro-Haus. Die Pelissaro-Farm. Der alte Pelissaro-Landsitz«, sagte ich und runzelte die Augenbrauen.

Ray schüttelte den Kopf. »Sie sind auf dem Holzweg.«

»Na gut. Vielleicht ist es etwas, was man von dort aus sehen kann. Ein Wasserturm, ein Nebengebäude, ein Steinbruch. Wo ist das Telefonbuch? Sehen wir mal nach. Stellen wir uns einfach dumm. Womöglich treffen wir ja ins Schwarze.«

»Was nachsehen?«

»Den Namen Pelissaro. Vielleicht hatte er ja einen Verbündeten.«

Ich sah mich in der Küche um und entdeckte das Telefonbuch auf dem Stuhl, wo er es liegengelassen hatte. Ich zog mir einen Stuhl hervor, setzte mich und blätterte durch die Einträge, bis ich beim P angelangt war. Es war kein Pelissaro aufgeführt. Nicht einmal ein ähnlicher Name. Ich sagte: »Mist. Ähmmn. Tja, vielleicht gab es in den vierziger Jahren hier einen Pelissaro. Wir versuchen es morgen früh in der Bibliothek. Das kann nicht schaden.«

»Wir sollten uns lieber schleunigst etwas einfallen lassen. Gilbert muß jede Minute anrufen, und ich werde ihm nicht erzählen, daß wir auf dem Weg in die Stadtbibliothek sind. Ich möchte ihm gern erzählen, daß wir eine Spur verfolgen, und nicht, daß wir hier sitzen und uns dumm stellen. Das heißt in meinen Augen das gleiche wie tot.«

»Sie sind eine Nervensäge, wissen Sie das? Hier, versuchen Sie’s mal damit.« Ich griff nach den Gelben Seiten und schlug die Rubrik »Friedhöfe« auf. Etwa zwanzig waren verzeichnet. »Werfen Sie mal einen Blick darauf und sagen Sie mir, wo die alle sind«, bat ich. »Wenn wir uns eine Karte vornähmen und einen großen Kreis zögen, könnten wir vermutlich das Gebiet eingrenzen. Wenigstens könnten wir sämtliche Friedhöfe in einem bestimmten Umkreis der Stelle herausfinden, wo Johnny festgenommen wurde. Wäre das nicht hilfreich? Das können nicht so viele sein. Nach der Fotografie zu urteilen, gibt es den Friedhof schon lange. Diese Gräber sind alt. Die sind nicht verschwunden.«

»Das wissen Sie nicht. Hier in der Gegend werden Gräber verlegt, wenn sie einen Fluß zu einem See aufstauen«, wandte er ein.

»Ja, klar, wenn das Geld unter Wasser ist, sind wir geliefert«, meinte ich. »Gehen wir doch von der Annahme aus, daß es nach wie vor irgendwo über der Erde ist. Haben Sie eine Karte von Louisville? Dann können Sie mir zeigen, was wo ist.«

Ray ging zum Wagen hinaus und kam mit einer großen Karte der südöstlichen Vereinigten Staaten und dazu einer Reihe Einzelkarten sowie einem Stadtplan von Louisville zurück. »Mit freundlicher Empfehlung von Triple A. Das Auto, das ich gemietet habe, war gut ausgestattet«, sagte er.

»Was sind Sie nicht aufmerksam«, sagte ich, als ich den Stadtplan von Louisville aufklappte. »Fangen wir mal mit dem hier an. Wo ist der Dixie Highway?«

Einen nach dem anderen arbeiteten wir uns durch die in den Gelben Seiten aufgeführten Friedhöfe voran und kennzeichneten ihre Lage auf dem Stadtplan von Louisville. Es gab vier, eventuell fünf, die in einem vernünftigen Zeitraum von der Stelle aus, wo Johnny Lee von der Polizei gefaßt worden war, mit dem Auto erreichbar waren. Ich notierte mir jeden Friedhof mitsamt Adresse und Telefonnummer auf einem Blatt Papier.

»Und was nun?« wollte er wissen.

»Wir werden morgen früh bei allen diesen Friedhöfen anrufen und feststellen, ob irgendwo ein Pelissaro begraben liegt.«

»Falls der Friedhof in Louisville ist.«

»Würden Sie gefälligst aufhören, den Spielverderber zu mimen?« sagte ich. »Wir müssen davon ausgehen, daß das hier von Belang ist, sonst hätte Johnny Ihnen das Bild nicht geschickt. Sein Ziel war es, Ihnen Informationen zu geben, nicht, Sie an der Nase herumzuführen.«

»Na schön, hoffen wir nur, daß er seine Sache nicht zu gut gemacht hat. Sonst entziffern wir es nie.«

Gegen neun Uhr fühlte ich mich erschöpft und begann nach einem Bett zu winseln. Ray wirkte ruhelos und hektisch, da es ihm Kopfzerbrechen bereitete, daß Gilbert nicht angerufen hatte.

»Was wollen Sie ihm sagen, wenn er anruft?« fragte ich.

»Keine Ahnung. Ich erzähle ihm irgendwas. Ich möchte, daß er morgen in aller Herrgottsfrühe mit Laura hierher kommt, damit ich sehen kann, daß sie unverletzt ist. In der Zwischenzeit bringen wir Sie mal zu Bett. Sie sehen erledigt aus.«

Im oberen Fach des Wandschranks seiner Mutter fand er ein paar Decken und ein Kopfkissen. »Sie gehen besser noch vorher für kleine Mädchen. Oben ist keine Toilette.«

Ich verbrachte ein paar Minuten im Badezimmer und folgte anschließend Ray nach oben. Wie sich herausstellte, gab es dort überhaupt nicht viel: ein Einzelbett mit Holzrahmen und durchgelegener Matratze, einen Nachttisch mit einem einzigen kurzen Bein und eine Lampe mit Vierzig-Watt-Birne und vergilbtem Schirm. Kurzfristig dachte ich über Ungeziefer nach, bis mir klar wurde, daß es hier oben viel zu kalt war, als daß irgend etwas überleben könnte.

»Haben Sie alles, was Sie brauchen?«

»Alles bestens«, antwortete ich.

Ich ließ mich vorsichtig auf dem Bett nieder, während er wieder nach unten polterte. Ich konnte mich nicht aufrecht hinsetzen, weil die Dachschräge über dem Bett so steil war. Es war bitterkalt, und der Raum roch nach Ruß. Zur Isolierung hatte jemand lagenweise Zeitungspapier zwischen Matratze und Sprungfedern geschoben, und ich konnte es bei jeder meiner Bewegungen knistern hören. Ich hob eine Ecke der Matratze an und spähte kurz nach dem Datum: 5. August 1962.

Ich schlief in meinen Kleidern und wickelte mich in so viele Deckenschichten wie möglich. Indem ich mich zu fötaler Position zusammenrollte, bewahrte ich mir die Reste meiner Körperwärme. Dann schaltete ich die Lampe aus, obwohl ich nur ungern auf die dürftige Wärme verzichtete, die sie abgab. Das Kissen war flach und fühlte sich leicht klamm an. Eine Zeitlang nahm ich noch Licht wahr, das die Treppe heraufschien. Ich hörte Geräusche — wie Ray auf und ab ging und ein Stuhl über dem Boden scharrte oder ein gelegentliches Lachen aus dem Fernseher. Ich weiß nicht, wie es mir gelungen ist, unter diesen Umständen einzuschlafen, aber ich schaffte es. Einmal wachte ich auf und machte das Licht an, um auf meine Uhr nach der Zeit zu sehen: Zwei Uhr morgens, und die Lichter im Erdgeschoß brannten immer noch. Ich konnte den Fernseher nicht mehr hören, doch die nächtliche Ruhe wurde von gelegentlichen, unidentifizierbaren Geräuschen durchbrochen. Einige Zeit später wachte ich erneut auf, und nun war das Haus dunkel und vollständig still. Meine Blase machte sich massiv bemerkbar, aber es gab nichts anderes für sie als geistige Disziplin.

Ich weiß wirklich nicht, was schlimmer ist, wenn man in einem fremden Haus schläft: zu frieren, ohne Zugang zu weiteren Decken zu haben, oder pinkeln zu müssen, ohne Zugang zu den sanitären Einrichtungen zu haben. Vermutlich hätte ich in beiden Missionen auf Zehenspitzen nach unten schleichen können, aber ich hatte Angst, daß Helen mich für einen Einbrecher halten und Ray denken würde, ich wolle ihn anmachen und zu ihm ins Bett kriechen.

Bei Tagesanbruch erwachte ich wieder, lag da und fühlte mich elend. Ich schloß eine Weile lang die Augen. Sowie ich hörte, daß sich jemand regte, rollte ich mich aus dem Bett und eilte schnurstracks auf die Treppe zu. Sowohl Ray als auch seine Mutter waren auf den Beinen. Ich machte einen Umweg übers Badezimmer, wo ich mir unter anderem die Zähne putzte. Als ich in die Küche kam, las Ray gerade die Morgenzeitung. Er war noch nicht dazu gekommen, sich zu rasieren, und sein Kinn war voller stachliger, weißer Stoppeln und fühlte sich vermutlich so rauh an wie Asphalt. Ich war derart an seine zahlreichen Gesichtsverletzungen gewöhnt, daß ich sie kaum wahrnahm. Er hatte sein gewohntes weißes T-Shirt mit einem Arbeitshemd aus Jeansstoff überdeckt, das er über der Hose trug. Trotz seines Alters war er gut in Form, wobei die Konturen seines Oberkörpers wahrscheinlich stundenlangem Gewichtheben im Gefängnis zu verdanken waren.

»Haben wir von Gilbert gehört?«

Er schüttelte den Kopf.

Ich setzte mich an den Küchentisch, den Helen irgendwann in der Nacht zuvor gedeckt hatte. Ray reichte mir einen Teil des Courier-]ournal. Noch ein Tag zusammen und wir hätten unsere Rituale perfekt eingeübt, wie ein altes Ehepaar, das bei der Mutter des Mannes lebt. Helen humpelte unterdessen in der Küche herum und benutzte den Baseballschläger als Stock.

»Macht Ihnen Ihr Fuß Probleme?« fragte ich.

»Meine Hüfte. Ich habe einen Bluterguß von hier bis da«, sagte sie zufrieden.

»Lassen Sie’s mich wissen, wenn ich etwas helfen kann.«

Kurz darauf lief der Kaffee durch, und Helen machte sich daran, Würstchen zu braten. Diesmal übertraf sie sich selbst und zauberte für jeden von uns ein Gericht, das sie einäugige Buben nannte und bei dem jeweils ein Ei in einem Loch gebraten wird, das zuvor in eine Scheibe getoastetes Brot geschnitten wurde. Ray kippte Ketchup auf seines, aber das traute ich mich nicht.

Nach dem Frühstück setzte ich mich ans Telefon und rief bei den fünf Friedhöfen an, die wir auf unsere Liste gesetzt hatten. Jedesmal behauptete ich, ich sei Amateur-Ahnenforscherin und der Geschichte meiner Familie in dieser Gegend auf der Spur. Nicht daß das irgend jemanden interessiert hätte. Es waren allesamt nicht konfessionsgebundene Einrichtungen, in denen noch Grabstätten zum Verkauf standen. Beim vierten Anruf ging die Frau in der Geschäftsstelle ihre Unterlagen durch und fand einen Pelissaro. Ich ließ mir den Weg dorthin beschreiben und versuchte es dann noch beim letzten Friedhof, da ja immerhin möglich war, daß noch ein zweiter Pelissaro hier in der Gegend begraben lag. Doch es gab nur den einen.

Ray und ich wechselten einen Blick. Er sagte: »Ich hoffe, Sie liegen damit richtig.«

»Sehen Sie’s doch mal so: Was haben wir sonst schon?«

»Stimmt.«

Ich entschuldigte mich und machte mich auf den Weg unter die Dusche. Das Telefon klingelte, als ich mir gerade die Haare ausspülte. Ich konnte es durch die Wand hören, ein schriller Kontrapunkt zum Rauschen des Wassers, während mir die letzten Shampooblasen über den Körper rannen. Ray ging im Schlafzimmer an den Apparat, und ich hörte kurz seine Stimme poltern. Ich beließ es bei einer Katzenwäsche, drehte das Wasser ab, trocknete mich ab und warf mir die Kleider über. Wenigstens war ich die Sorge los, mir zu überlegen, was ich anzie-hen sollte. Als ich in der Küche ankam, war Ray auf den Beinen und stellte ein Werkzeugsortiment zusammen, für das er einige Bestandteile aus einem kleinen Schuppen im Garten hereinholte. Er hatte zwei Schaufeln aufgetrieben, ein Stück Seil, eine Blechschere, Zangen, einen Bolzenschneider, einen Hammer, eine Spule, einen uralt aussehenden Handbohrer und zwei Schraubenschlüssel. »Gilbert ist mit Laura auf dem Weg hierher. Ich weiß nicht, was auf uns zukommt. Womöglich müssen wir einen Sarg ausgraben, deshalb dachte ich, wir sollten uns lieber vorbereiten.« Der Colt lag auf dem blechernen Auszug des Eastlake-Schränkchens. Ray nahm ihn im Vorübergehen und steckte ihn sich wieder in den Hosenbund.

»Wofür brauchen Sie den?«

»Er soll mich nicht noch einmal unvorbereitet erwischen.«

Ich wollte eigentlich protestieren, aber ich konnte ihn verstehen. Meine Anspannung wuchs. Mein Brustkorb fühlte sich wie zugeschnürt an, und in meinem Magen schien sich irgend etwas ständig zusammenzuziehen und wieder zu lösen, das mir kleine Angstwellen den Körper hinauf und hinab sandte. Ich schwankte unsicher zwischen dem Drang zu fliehen und einer maßlosen Neugier darauf, was als nächstes gesehen würde. Was glaubte ich eigentlich? Daß ich das Endergebnis beeinflussen könnte? Vielleicht. Vor allem aber mußte ich, nachdem ich schon so weit gekommen war, die Sache bis zum Schluß mitmachen.