9
Als ich wieder in meinem Zimmer ankam, war es zo.45 Uhr. Ich fühlte mich schmuddelig und halbtot von der Kombination aus körperlicher Arbeit, Streß, fettigem Zimmerservice-Essen und Jetlag. Ich schälte mich aus meiner Uniform und hüpfte unter die Dusche, wo ich mir das heiße Wasser wie einen Wasserfall über den Leib prasseln ließ. Ich trocknete mich ab und zog einen der vom Hotel bereitgestellten Unisex-Bademäntel an. Mein Ersatzslip war mittlerweile trocken, wenn auch ein wenig steif, und hing wie der Balg eines seltenen Tieres über dem Handtuchhalter. Als ich aus dem Badezimmer in die Ankleideecke trat, sah ich, daß das Lämpchen an meinem Telefon blinkte. Es mußte also geklingelt haben, während ich unter der Dusche stand — garantiert Henry, da er der einzige war, der wußte, wo ich mich aufhielt. Es sei denn, die Hotelleitung war hinter mir her.
Mit leichtem Unbehagen rief ich die hausinterne Vermittlung an. »Hier ist Ms. Millhone. Das Lämpchen an meinem Telefon blinkt.«
Der Angestellte ließ mich kurz warten und meldete sich dann wieder. »Es ist eine Nachricht für Sie eingegangen. Ein Mr. Pitts hat um 20.51 angerufen. Dringend. Bitte rufen Sie zurück.«
»Danke.« Ich wählte Henrys Nummer. Noch bevor ich überhaupt den Apparat an seinem Ende klingeln hörte, nahm er den Hörer ab. Ich sagte: »Das ging aber schnell. Du mußt ja buchstäblich auf dem Telefon gesessen haben. Was ist denn los?«
»Ich bin ja so froh, daß du anrufst. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Hast du etwas von Ray Rawson gehört?«
»Warum sollte ich von ihm hören? Ich dachte, er sei verschwunden.«
»Tja, das war er auch, aber er ist wieder da, und ich fürchte, es hat gewisse Komplikationen gegeben. Nell und ich sind heute morgen einkaufen gegangen, kurz nachdem du angerufen hast. William und Lewis waren drüben bei Rosie, um bei den Vorbereitungen fürs Mittagessen zu helfen, und somit ist Charlie allein hier zurückgeblieben. Bist du noch dran?«
»Ja, ich bin noch dran«, antwortete ich. »Ich habe zwar keine Ahnung, worauf du hinauswillst, aber ich höre.«
»Ray Rawson ist bei Chester aufgetaucht, und Bucky hat ihm erzählt, was los ist.«
»Daß was los ist? Daß ich den Kerl gesehen habe, der ihn zusammengeschlagen hat?«
»Ich weiß nicht genau, was man ihm erzählt hat, außer daß du engagiert worden bist. Bucky wußte, daß du die Stadt verlassen hattest, aber er wußte nicht, wo du warst. Ray muß schnurstracks hierhergekommen sein, und da ich nicht da war, hat er Charlie ein ellenlanges Märchen darüber erzählt, in welcher Gefahr du angeblich stecktest.«
»Gefahr? Das ist ja interessant. Was für eine Gefahr?«
»Diesen Teil hat Charlie nicht ganz begriffen. Irgend etwas mit einem Schlüssel, hat er gesagt.«
»Aha. Vermutlich der, den Johnny in seinem Safe hatte. Ich wollte ihn einem Freund von mir zeigen, der sich mit Schlössern auskennt. Ich fürchte nur, daß er infolge seiner Talente leider in Haft sitzt.«
»Wo ist dieser Schlüssel jetzt? Bucky hat Ray erzählt, daß du ihn seines Wissens bei dir hättest.«
»Habe ich auch. Er steckt ganz unten in meiner Handtasche«, sagte ich. »Du klingst besorgt.«
»Hm, ja, aber nicht deswegen.« Ich konnte die Beklemmung aus Henrys Tonfall heraushören. »Es ist mir peinlich, das sagen zu müssen, aber Charlie hat Ray deinen derzeitigen Aufenthaltsort verraten, weil Ray ihn davon überzeugt hat, daß du Hilfe brauchst.«
»Woher wußte Charlie, wo ich bin?«
Henry seufzte unter der Belastung, daß er nun ein vollständiges Geständnis ablegen mußte. »Ich habe Namen und Telefonnummer des Hotels auf einen Block neben dem Telefon geschrieben. Du kennst ja Charlie. Er hört auch unter den günstigsten Umständen kaum noch etwas. Irgendwie ist er auf die Idee gekommen, daß Ray ein guter Freund sei und du nichts dagegen hättest, wenn er ihm die Auskunft gäbe. Vor allem, da du ja in Schwierigkeiten stecktest.«
»O Mann. Einschließlich der Zimmernummer?«
»Leider ja«, sagte Henry. Er klang so schuldbewußt und zerknirscht, daß ich nicht protestieren konnte, obwohl mir der Gedanke, daß Rawson wußte, wo ich war, nicht gefiel. Henry fuhr fort. »Ich glaube kaum, daß der Kerl tatsächlich die ganze Strecke bis nach Dallas fliegt, aber vermutlich wird er anrufen, und ich wollte nicht, daß du dann erstaunt oder verärgert bist. Mir ist das alles gar nicht recht, Kinsey, aber ich kann nichts machen.«
»Mach dir keine Sorgen, Henry. Danke für die Warnung.«
»Ich könnte Charlie den Hals umdrehen.«
»Ich bin mir sicher, daß er nur hilfsbereit sein wollte«, sagte ich. »Außerdem macht es wahrscheinlich gar nichts. Ich glaube nicht, daß Ray Rawson eine Bedrohung ist.«
»Das hoffe ich auch. Es ist mir furchtbar peinlich, daß ich diese Information offen herumliegen lassen habe.«
»Sei doch nicht albern. Du hattest keinen Grund anzunehmen, daß irgend jemand danach fragen würde, und du konntest auch nicht wissen, daß Rawson so unvermittelt auftauchen würde.«
»Tja, das weiß ich«, meinte er, »aber ich hätte der Sippschaft etwas sagen können. Ich habe zwar Charlie zur Schnecke gemacht, aber ich gebe mir selbst die Schuld. Ich bin wirklich nicht auf die Idee gekommen, daß er so etwas tun könnte.«
»He, was passiert ist, ist passiert. Es ist nicht deine Schuld.«
»Es ist lieb von dir, das zu sagen. Mir ist nichts anderes mehr eingefallen, als so schnell wie möglich anzurufen. Ich finde, du solltest ausziehen oder dir wenigstens ein anderes Zimmer geben lassen. Mir gefällt der Gedanke nicht, daß er plötzlich vor deiner Tür steht. An der ganzen Sache stimmt was nicht.«
»Da muß ich dir zustimmen, aber ich weiß nicht, was ich tun soll. Im Moment versuche ich hier möglichst nicht aufzufallen«, sagte ich.
Ich merkte genau, daß bei Henry nun die Alarmglocken läuteten. »Warum das?« fragte er.
»Darauf möchte ich jetzt eigentlich nicht näher eingehen. Sagen wir einfach, daß ich es im Moment nicht für einen klugen Schachzug halte.«
»Ich will nicht, daß du irgendwelche Risiken eingehst. Es war von vornherein dumm von dir, überhaupt in dieses Flugzeug zu steigen. Die Sache ist nicht dein Problem, und je länger es dauert, desto unangenehmer wird es.«
Ich lächelte. »Chester hat mich engagiert. Es ist Arbeit. Außerdem macht es Spaß. Ich kann auf Fluren herumschleichen und Leute ausspionieren.«
»Bleib nicht zu lange weg. Die Hochzeit steht vor der Tür.«
»Die werde ich nicht vergessen. Ich komme. Das verspreche ich.«
»Ruf mich an, wenn ich dir irgendwie helfen kann.«
Sowie er aufgelegt hatte, ging ich zur Tür hinüber und legte die Sicherheitskette vor. Ich überlegte, ob ich draußen das »Bitte-nicht-stören«-Schild aufhängen sollte, aber das würde nur aller Welt kundtun, daß ich mich tatsächlich im Zimmer aufhielt. Ich ging auf und ab und dachte ernsthaft über die Situation nach. Ich fühlte mich seltsam verletzlich, nun, da Rawson wußte, wo ich mich aufhielt, obwohl mir im Grunde nicht klar war, weshalb das von Belang sein sollte. Demzufolge, was Chester gesagt hatte, war er in ziemlich schlechter Verfassung, was eine Reise zumindest unangenehm werden ließe. Darüber hinaus würde es ihn eine Stange Geld kosten, und das ohne jede Garantie, daß ich immer noch in Dallas war. Wenn er natürlich von der Polizei in Santa Teresa zum Verhör gesucht wurde, wäre es von seinem Standpunkt aus nicht unklug, von dort zu verschwinden. Ich glaubte eigentlich nicht, daß ich in Gefahr war, schloß die Möglichkeit aber nicht ganz aus. In welchem Zusammenhang Rawson auch mit den Ereignissen der jüngsten Zeit stand, es war offensichtlich, daß er mir die ausschlaggebenden Informationen verschwiegen hatte. Ich würde mich wesentlich sicherer fühlen, wenn ich in einem anderen Zimmer wäre.
Andererseits gefiel mir der Gedanke nicht, um ein anderes Zimmer zu bitten. Die Hotelleitung war nicht auf den Kopf gefallen. Mrs. Spitz dürfte keine Minute gebraucht haben, um darauf zu kommen, daß ich nichts Gutes im Schilde führte. Hotels pflegen Witzbolde und Diebe nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Sie hatte mich aus nächster Nähe gesehen, und mittlerweile verfügten die Sicherheitsleute gewiß über eine ziemlich genaue Beschreibung von mir. Ein Aufruf — eine Art hotelinterner Haftbefehl — wäre inzwischen an sämtliche relevanten Personaleinheiten geleitet worden. Falls Vikki Biggs, die Angestellte von der Nachtschicht, sich an meinen Namen erinnerte, würde schon sehr bald jemand an meine Tür klopfen. Wenn die Geschäftsleitung jedoch andererseits noch nicht auf mich gekommen war, wäre es idiotisch, hinunterzugehen und die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Also kein Zimmerwechsel.
Was eine eventuelle Abreise betraf, so hatte ich bereits fast einen Tausender für Flugtickets und andere Kosten ausgegeben. Ich konnte jetzt nicht zurückkommen und Chester erzählen, daß ich die Verfolgung aufgegeben hatte, weil Ray Rawson womöglich unangemeldet vor meiner Tür stehen könnte. Am besten war wohl, da zu bleiben, wo ich war, vor allem jetzt, da ich Zugang zu Laura Huckabys Zimmer hatte. Ich zog meine Kleider wieder an. Wenn mitten in der Nacht jemand gegen meine Tür hämmerte, wollte ich nicht unvorbereitet sein. Ich steckte die Gratis-Toilettenartikel in meine Handtasche und legte meine Zahnpasta und die Reisezahnbürste dazu, um im Notfall fluchtbereit zu sein.
Ich nahm den Schlüssel aus meiner Handtasche und überlegte, ob es vielleicht einen sichereren Aufbewahrungsort für ihn gab. Morgen früh würde ich ihn in einen Umschlag stecken und an Henry schicken. Unterdessen studierte ich das Zimmer und die verschiedenen Möbelstücke und erwog mögliche Verstecke. Ich war zwiespältig, was die Aussichten anging. Falls ich gezwungen sein sollte, überstürzt abzureisen, wollte ich mich nicht damit aufhalten müssen, den Schlüssel hervorzukramen. Ich nahm das Gratis-Nähzeug aus meiner Umhängetasche. Dann zog ich meinen Blazer aus und untersuchte seine Machart. Schließlich öffnete ich mit der Schere an meinem Schweizer Offiziersmesser einen kleinen Schlitz neben dem Schulterpolster. Ich ließ den Schlüssel neben die Polsterung gleiten und nähte das Ganze zu. Damit würde ich es nie durch den Metalldetektor einer Sicherheitsschleuse am Flughafen schaffen, aber ich konnte ja jederzeit den Blazer ausziehen und ihn durch das Röntgengerät schicken.
Ich schlief in meinen Kleidern und Schuhen. Mit übereinandergeschlagenen Füßen lag ich flach auf dem Rücken, die Tagesdecke zum Wärmen über mich geworfen.
Als um 8.00 Uhr das Telefon klingelte, hatte ich das Gefühl, als hätte ich einen tödlichen Stromschlag bekommen. Mein Herz sprang von fünfzig Schlägen in der Minute auf erstaunliche hundertvierzig, und das ohne jegliche Aktivität — abgesehen von dem Schrei, den ich ausstieß. Ich schnappte mir den Hörer, während mir der Puls in der Kehle pochte. »Was?«
»O Jesses. Ich habe Sie aufgeweckt. Das wollte ich nicht. Hier ist Ray.«
Ich schwang die Füße über die Bettkante, setzte mich auf und rieb mir mit einer Hand das Gesicht, um wach zu werden. »Das habe ich schon mitbekommen. Wo sind Sie?«
»Unten in der Hotelhalle. Ich muß mit Ihnen reden. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich hinaufkomme?«
»Ja, allerdings«, sagte ich gereizt. »Was wollen Sie hier?«
»Auf Sie aufpassen. Ich finde, Sie sollten wissen, womit Sie es zu tun haben.«
»Wir treffen uns in fünfzehn Minuten im Coffee Shop.«
Ich ließ mich wieder aufs Bett fallen und blieb eine Minute liegen, während ich versuchte, mich zu sammeln. Half nicht viel. In mir rumorte es vor leisem Grauen. Schließlich schleppte ich mich ans Waschbecken, wo ich mir die Zähne putzte und mir das Gesicht wusch. Ich schnupperte an meinem Rollkragenpullover, der langsam begann, nach etwas zu riechen, das ich seit zwei Tagen trug. Eventuell müßte ich mich dazu überwinden, mir etwas Neues zu kaufen. Wenn ich meine gesamte Kleidung zum Waschen und Bügeln schickte, säße ich bis sechs Uhr abends in meiner roten Uniform fest. Wenn Laura Huckaby unterdessen aufbrach, müßte ich sie im Aufzug eines Zimmermädchens quer durch Texas verfolgen. Ich rieb mir ein bißchen Hotellotion auf die entsprechenden Körperteile und hoffte, daß die Parfümierung den reifen Geruch ungewaschener Kleidung überdecken würde.
Ich steckte die beiden Zimmerschlüssel in meine Jackentasche — meinen und den, den ich von Laura Huckabys Tisch entwendet hatte — und äugte durch den Türspion. Wenigstens lauerte mir Rawson nicht im Flur auf. Ich ging die Feuertreppe hinunter, um den Aufzug zu umgehen, und kam auf der anderen Seite der Hotelhalle wieder heraus.
Als ich am Coffee Shop des Hotels anlangte, blieb ich in der Tür stehen. Rawson war nicht schwer zu erkennen. Er war im ganzen Lokal der einzige Mann mit einem geschwollenen, grün-violett verfärbten Gesicht. Er hatte eine Bandage über der Nase, ein blaues Auge, eine aufgeplatzte Lippe sowie verschiedenste Schnittwunden, und drei Linger seiner rechten Hand waren mit Pflaster zusammengeklebt. Er nahm seinen Kaffee mit dem Löffel zu sich, vermutlich um sich den Schmerz zu ersparen, den abgebrochene, beschädigte oder fehlende Zähne verursachen. Sein weißes T-Shirt war so neu, daß ich noch die Lalten von der Verpackung erkennen konnte. Entweder kaufte er seine T-Shirts eine Nummer zu klein, oder er war besser gebaut als in meiner Erinnerung. Wenigstens erlaubten mir die kurzen Ärmel, seine Drachentätowierung zu bewundern.
Ich durchquerte den Raum und ließ mich ihm gegenüber in die Nische gleiten. »Wann sind Sie hier angekommen?«
Auf dem Tisch lagen zwei Speisekarten, von denen er mir eine reichte. »Heute morgen um halb vier. Das Flugzeug hatte Verspätung wegen Nebels. Ich habe mir am Flughafen einen Leihwagen genommen. Ich habe versucht, Sie in Ihrem Zimmer anzurufen, sowie ich angekommen war, aber die Vermittlung wollte mich nicht durchstellen, also habe ich bis acht gewartet.« Seine Augen waren von der Prügelei blutunterlaufen, was seinen ansonsten sanften Gesichtszügen einen dämonischen Anstrich verlieh. Ich konnte sehen, daß sein linkes Ohrläppchen wieder angenäht worden war.
»Was sind Sie nur rücksichtsvoll«, sagte ich. »Haben Sie ein Zimmer?«
»Ja, 1006.« Sein Lächeln flackerte und verschwand. »Sehen Sie, ich weiß, daß Sie keine besondere Veranlassung haben, mir zu trauen, aber es ist Zeit, mit offenen Karten zu spielen.«
»Das hätten Sie vor zwei Tagen schon tun können, bevor wir in dieses... was auch immer geraten sind.«
Die Bedienung erschien mit der Kaffeekanne in der Hand. Sie war der mütterliche Typ und sah aus, als würde sie streunende Hunde und Katzen aufnehmen. Ihr gekräuseltes graues Haar wurde von einem Haarnetz gehalten, das wie ein Spinnennetz über ihrem Kopf lag, und ihre rauhe Stimme ließ eine lebenslange Vorliebe für filterlose Zigaretten vermuten. Sie warf Ray einen forschenden Blick zu. »Was ist denn mit Ihnen passiert?«
»Autounfall«, sagte er kurz angebunden. »Wenn Sie mir ein Aspirin bringen, vermache ich Ihnen etwas in meinem Testament.«
»Ich sehe hinten mal nach. Ich werde schon was finden.« Sie wandte sich mir zu. »Wie wär’s mit Kaffee? Sie sehen aus, als könnten Sie welchen gebrauchen.«
Stumm hielt ich meine Kaffeetasse in die Höhe, die sie bis unter den Rand füllte. Sie stellte die Kaffeekanne beiseite und griff nach ihrem Bestellblock. »Möchten Sie schon bestellen, oder brauchen Sie noch ein bißchen?«
»Das tut’s schon«, sagte ich und meinte damit, daß die Tasse Kaffee reichen würde.
Ray meldete sich zu Wort. »Frühstücken Sie doch etwas. Ich lade Sie ein. Das ist das mindeste, was ich tun kann.«
Ich sah wieder die Bedienung an. »In diesem Fall hätte ich gern Kaffee, Orangensaft, Speck, Würstchen, drei Rühreier und Roggentoast.«
Er hielt zwei Finger in die Höhe. »Ich auch.«
Nachdem sie abgezogen war, stützte er sich nach vorn auf die Ellbogen. Er sah aus wie ein Halbschwergewichtler am Tag, nachdem der Meistertitel wieder an den anderen zurückgefallen war. »Ich nehme es Ihnen nicht übel, daß Sie sauer sind, aber ehrlich gesagt... nach dem Einbruch bei Johnny habe ich nicht gedacht, daß er noch einmal kommen würde. Ich war der Meinung, daß es damit erledigt wäre, aber wer konnte das schon wissen?«
»>Er< — wer?«
»Darauf komme ich noch«, sagte er. »Ach, bevor ich es vergesse. Erinnern Sie sich an den Schlüssel, den Bucky aus Johnnys Safe geholt hat?«
»Ja«, sagte ich vorsichtig.
»Haben Sie ihn noch?«
Ich zögerte einen Sekundenbruchteil und log dann instinktiv. Warum sollte ich mich ihm anvertrauen? Bis jetzt hatte er mir auch nichts gesagt. »Ich habe ihn nicht bei mir, aber ich weiß, wo er ist. Weshalb?«
»Ich habe über ihn nachgedacht. Ich meine, er muß ja wichtig sein. Warum sollte ihn Johnny sonst in seinem Safe aufbewahren?«
»Ich dachte, Sie wüßten das. Haben Sie Charlie nicht erzählt, daß ich wegen des Schlüssels in Gefahr sei?«
»Gefahr? Ich nicht. Das habe ich niemals gesagt. Ich frage mich, wie er auf diese Idee kommt.«
»Ich habe gestern abend mit Henry gesprochen. Er sagt, auf diese Weise hätten Sie Charlie dazu gebracht, Ihnen zu verraten, wo ich bin. Sie haben gesagt, ich sei in Gefahr, und deshalb hat Ihnen Charlie die Information ja auch gegeben.«
Ray schüttelte verblüfft den Kopf. »Er muß mich falsch verstanden haben«, sagte er. »Klar, ich habe nach Ihnen gesucht, aber ich habe nichts von Gefahr gesagt. Das ist ja merkwürdig. Der alte Knabe hört schlecht. Vielleicht hat er sich geirrt.«
»Macht ja nichts. Lassen wir das beiseite. Sprechen wir von etwas anderem.«
Er blickte hinüber zum Eingang des Restaurants, wo sich eine buntgemischte Truppe Heranwachsender zu sammeln begann. Es mußten dieselben Kinder gewesen sein, die ich am Vortag die Straße hinauslaufen gesehen hatte. Sie mußten zu irgendeiner Leichtathletikveranstaltung hier gewesen sein. Der Geräuschpegel stieg an, und Ray erhob die Stimme, um sich gegen den Lärm durchzusetzen. »Wissen Sie, Sie haben mich neulich in meinem Hotelzimmer wirklich erstaunt.«
»Wie das?«
»Sie hatten recht in bezug auf Johnny. Er war nie bei der Armee. Er war im Gefängnis, genau wie Sie gesagt haben.«
Ich liebe es, recht zu haben. Es hebt regelmäßig meine Stimmung. »Was ist mit der Geschichte, wie Sie sich kennengelernt haben? War daran irgend etwas Wahres?«
»Im wesentlichen schon«, antwortete er. Er hielt inne und lächelte und entblößte dabei eine Lücke anstelle des ersten Backenzahns. Dann legte er sich eine Hand auf eine Stelle seiner Wange, wo ein tiefblauer Bluterguß von einem dunkelvioletten Ring umgeben war. »Sehen Sie jetzt nicht hin, aber wir sind umzingelt.«
Das Läuferteam schien sich auszudehnen und uns zu umgeben wie eine Flüssigkeit, während es sich in Nischen auf allen Seiten um uns herum niederließ. Die einsame Kellnerin teilte Speisekarten aus wie Programme für eine Sportveranstaltung.
»Hören Sie auf, Zeit zu schinden«, sagte ich.
»Entschuldigung. Wir haben uns in Louisville kennengelernt, aber nicht bei den Jefferson Boat Works. Und auch nicht 194z. Es war schon früher. Etwa 39 oder 40. Wir haben zusammen in der Ausnüchterungszelle gesessen und uns angefreundet. Ich war damals neunzehn und schon ein paarmal im Knast gewesen. Wir sind ein bißchen zusammen herumgezogen, Sie wissen schon, einfach Mist bauen. Keiner von uns ist zur Armee gegangen. Wir waren beide 4-F. Ich weiß nicht mehr, was für ein Leiden Johnny hatte. Irgend etwas mit einer Bandscheibenfraktur. Ich hatte zwei geplatzte Trommelfelle und ein kaputtes Knie. Bei schlechtem Wetter macht mir das Ding immer noch Ärger. Auf jeden Fall mußten wir irgend etwas tun — wir langweilten uns zu Tode — , und so haben wir angefangen, Einbrüche zu machen und Lagerhäuser, Läden und so auszuräumen, Sie wissen schon. Ich nehme an, wir haben ein Ding zuviel gedreht und sind dabei auf frischer Tat ertappt worden. Ich mußte dann ins Bezirksgefängnis, aber ihn haben sie in die staatliche Besserungsanstalt nach Lexington geschickt. Er hat zwanzig Monate einer Strafe von fünf Jahren abgesessen und ist mit seiner Familie nach Kalifornien gezogen. Danach ist er sauber geblieben, soweit ich gehört habe.«
»Wie steht’s mit Ihnen?«
Er senkte den Blick. »Tja, wissen Sie, nachdem Johnny weg war, bin ich in schlechte Gesellschaft geraten. Ich hielt mich für schlau, aber ich war genauso eine Niete wie alle anderen. Ein Typ hat mir bei einem anderen Ding, das wir gedreht haben, einen falschen Tip gegeben. Die Bullen haben uns erwischt, und ich wurde in die Federal Correctional Institution droben in Ashland, Kentucky, geschickt, wo ich weitere fünfzehn Monate absaß. Danach war ich ein Jahr draußen und dann wieder drin. Ich hatte nie das Geld für einen noblen Anwalt, also mußte ich mich mit meinem Schicksal abfinden. Eines kam zum anderen, und so war ich bis jetzt im Knast.«
»Sie haben über vierzig Jahre lang im Gefängnis gesessen?«
»Mehr oder weniger. Sie glauben, es gäbe keine Leute, die so lange im Knast waren? Ich hätte wesentlich früher ‘rauskommen können, aber mein Temperament hat mich immer wieder in der Gewalt gehabt, bis ich endlich herausgefunden habe, wie man sich benimmt«, sagte er. »Ich litt unter etwas, was die Docs >mangelnde Impulskontrolle< nennen. Das habe ich im Bau gelernt. So zu reden. Wenn ich damals an etwas gedacht habe, habe ich es eben getan. Ich habe aber nie jemanden umgebracht«, fügte er hastig hinzu.
»Das ist mir eine große Erleichterung«, sagte ich.
»Na ja, später im Knast schon, aber das war Notwehr.«
Ich nickte. »Aha.«
Rawson fuhr fort. »Jedenfalls, Ende der vierziger Jahre habe ich angefangen, dieser Frau namens Maria zu schreiben, die ich durch eine Anzeige für Brieffreundschaften kennengelernt hatte. Ich schaffte es einmal, auszubrechen, und das reichte uns, um zu heiraten. Sie wurde schwanger, und wir bekamen ein kleines Mädchen, das ich seit Jahren nicht mehr gesehen habe. Viele Frauen verlieben sich in Häftlinge. Sie würden staunen.«
»Mich erstaunt nichts, was Menschen tun«, sagte ich.
»Ein anderes Mal, als ich draußen war, habe ich schließlich die Bewährungsauflagen gebrochen. Manchmal glaube ich, Johnny fühlte sich verantwortlich. Als ob ich mich, wenn er nicht gewesen wäre, nie so tief mit dem kriminellen Element eingelassen hätte. War nicht so, aber ich glaube, er hat das gedacht.«
»Möchten Sie damit sagen, daß Johnny den Kontakt über all die Jahre aus Schuldgefühlen heraus gehalten hat?«
»In erster Linie schon«, sagte er. »Und vielleicht auch, weil ich außer seiner Frau der einzige war, der wußte, daß er im Gefängnis war. Bei allen anderen tat er immer so, als wäre er etwas ganz anderes. Diese ganzen Geschichten über Birma und Claire Chennault. Das hatte er aus Büchern. Seine Kinder hielten ihn für einen Helden, aber er wußte, daß er keiner war. Bei mir konnte er er selbst sein. Unterdessen hatte ich mich in schweren Diebstahl und bewaffneten Raubüberfall verstrickt, wodurch ich schließlich ein Anrecht auf Kost und Logis auf Staatskosten erwarb. Ich habe eine Zeitlang in Lewisburg und ein Weilchen in Leavenworth gesessen, aber die meiste Zeit war ich in Atlanta inhaftiert. Das trainiert die Überlebensfähigkeiten ungemein. In Atlanta bringen sie nämlich all die kubanischen Kriminellen unter, die Castro rüberschickt, damit sie uns Gesellschaft leisten.«
»Was ist mit Maria geschehen? Sind Sie immer noch mit ihr verheiratet?«
»Nee. Sie hat sich schließlich von mir scheiden lassen, weil ich mich nicht zusammenreißen und anständig werden konnte, aber das war meine Schuld, nicht ihre. Sie ist eine gute Frau.«
»Es muß beunruhigend sein, nach vierzig Jahren wieder frei zu sein.«
Rawson zuckte die Achseln und blickte ziellos in den Raum. »Sie haben getan, was sie konnten, um mich für draußen vorzubereiten. Als ich sechzig wurde, hat die Haftbehörde begonnen, mir den harten Vollzug abzugewöhnen. Mein Sicherheitsniveau ist immer weiter gefallen, bis ich den Bau verlassen durfte. Ich wurde zurück in die FCI Ashland überstellt. Das war vielleicht ein Erwachen. Fünfunddreißig Jahre war es her, seit ich den Schuppen zuletzt gesehen hatte, und dann steh’ ich Knilchen gegenüber, die genauso alt sind, wie ich es war, als ich zum ersten Mal verknackt wurde. Mit einem Mal >kapier< ich es, verstehen Sie? Als hätte ich den großen Durchblick. Ich habe mich innerhalb eines Jahres komplett verändert, habe meinen Schulabschluß nachgemacht und angefangen, Collegekurse zu belegen. Dann habe ich begonnen, mich um mich selbst zu kümmern, habe das Rauchen aufgegeben, angefangen, Gewichte zu heben und so. Hab’ mich aufgemöbelt. Dann bin ich noch einmal vor die Bewährungskommission getreten und bekam einen Teil der Haftzeit erlassen.«
Ray hielt inne, um die Jugendlichen um uns herum zu betrachten. Sie drängten sich in Nischen und an Tischen, an die sie weitere Stühle herangezogen hatten. Die Speisekarten wan-derten über ihren Köpfen von Hand zu Hand, während das Rauschen unermüdlichen Lachens in Wellen über sie hinwegschwappte. Es war ein Geräusch, das ich mochte, energiegeladen, unschuldig. Ray schüttelte den Kopf. »Die Kids sind auf meinem Stockwerk, ungefähr zwei Zimmer weiter. Mein Gott, das Gekreische und Getrample die Flure auf und ab. Bis spät in die Nacht hinein.«
»Haben Sie noch Kontakt zu Maria?«
»Ab und zu. Sie hat wieder geheiratet. Soweit ich zuletzt gehört habe, lebt sie noch irgendwo in Louisville. Ich würde gern hinfahren und sie besuchen, sobald ich hiermit fertig bin. Ich möchte auch meine Tochter sehen und alles wieder gutmachen. Ich weiß, daß ich kein guter Vater war — ich war zu sehr damit beschäftigt, Mist zu bauen — , aber ich würde es gern versuchen. Auch meine Mutter möchte ich wiedersehen.«
»Ihre Mutter lebt noch?«
»Klar. Sie ist fünfundachtzig, aber unglaublich zäh.«
»Nicht, daß es mich etwas anginge, aber wie alt sind Sie?«
»Fünfundsechzig. Alt genug, um in Rente zu gehen, wenn ich je einen richtigen Job gehabt hätte.«
»Sie sind also erst vor kurzem entlassen worden«, sagte ich.
»Vor ungefähr drei Wochen. Nach Ashland habe ich noch ein halbes Jahr in einer Resozialisierungseinrichtung verbracht. Sowie ich rauskam, bin ich zur Küste gefahren. Ich habe Johnny im April geschrieben und ihm meinen Entlassungstermin mitgeteilt. Er sagte, ich solle ruhig kommen, er würde mir helfen. Und das habe ich auch gemacht. Der Rest ist genau so, wie ich Ihnen schon gesagt habe. Ich wußte nicht, daß er tot war, bis ich an Buckys Tür geklopft habe.«
»Inwiefern wollte Johnny Ihnen helfen?«
Rawson zuckte die Achseln. »Unterkunft. Eine Partnerschaft. Er hatte ein paar Ideen für ein kleines Geschäft, das wir betreiben könnten. Ich habe im Knast gearbeitet — jeder körperlich dazu fähige Häftling arbeitet — , aber ich habe nur vierzig Cents in der Stunde verdient, von denen ich mir Schokoriegel, Limonade, Deo und solches Zeug selbst kaufen mußte, so daß ich mir nichts auf die hohe Kante legen konnte.«
»Wie haben Sie die Reise hierher bezahlt?«
»Meine Mutter hat mir das Geld geliehen. Ich habe gesagt, ich würde es ihr zurückzahlen.«
»Wer ist der Kerl, der in Johnnys Wohnung eingebrochen ist?«
»Er heißt Gilbert Hays und ist ein früherer Zellengenosse von mir. Vor ein paar Jahren waren wir zusammen eingebuchtet. Ich habe meine blöde Schnauze aufgerissen, weil ich diesen Dreckskerl beeindrucken wollte. Fragen Sie mich nicht, weshalb. Er ist ein derart mieses Stück Scheiße, daß ich mich immer noch in den Hintern beißen könnte.« Seine Grimasse ließ den Riß in seiner Unterlippe aufplatzen. Ein Faden Blut quoll hervor. Er preßte sich eine Papierserviette auf den Mund.
»Die Schnauze worüber aufgerissen?«
»Passen Sie auf, wir sitzen also im Knast. Was haben wir denn schon groß zu tun, außer uns gegenseitig wilde Storys zu erzählen? Er prahlte andauernd mit irgendwas herum, und so habe ich ihm von Johnny erzählt. Der gute Mann war ein Geizkragen und hat ständig Geld beiseite geschafft. Johnny hat es nicht offen gesagt, aber er hat immer wieder durchblicken lassen, daß er die dicke Kohle auf seinem Grundstück versteckt hätte.«
»Und Sie wollten es ihm abknöpfen?«
»Ich doch nicht. He, kommen Sie, das würde ich ihm nicht antun. Wir haben nur großspurige Märchen verzapft. Später haben Hays und ich uns verkracht. Vermutlich hat er sich eingebildet, er könnte sich ein Bündel Bares schnappen, und ich käme nie dahinter.«
»Sie haben ihm verraten, wo Johnny wohnt?«
»Ich habe nur Kalifornien gesagt. Er muß mir quer durchs Land gefolgt sein, dieser schleimige Drecksack.«
»Woher hat er gewußt, daß Sie draußen sind?«
»Also, das weiß ich wirklich nicht. Vielleicht hat er mit meinem Bewährungshelfer gesprochen. Ich erinnere mich dunkel, daß ich ihn einmal bedroht habe. Vermutlich hat er ihm erzählt, daß er Angst davor hätte, ich sei hinter ihm her. Was ich immer noch tun könnte.«
»Wie haben Sie herausgefunden, daß er es war?«
»Zuerst wußte ich es ja gar nicht. Sowie ich von dem Einbruch erfuhr, merkte ich, daß etwas faul war, aber ich habe nicht an Hays gedacht. Dann wurde mir klar, was passiert war, und daß er es gewesen sein mußte. Andere Möglichkeiten kamen einfach nicht in Frage, weil ich nie jemand anderem gegenüber ein Wort über Johnny habe verlauten lassen.« Ray nahm die Serviette von seiner blutenden Lippe. »Wie sieht’s aus?«
»Tja, das Blut strömt nicht gerade«, sagte ich. »Können wir ein bißchen zurückgehen? Als Sie erfahren haben, daß Johnny tot ist, warum waren Sie sich da so sicher, daß er immer noch irgendwo Geld versteckt hatte?«
»Ich war mir nicht sicher, aber es lag auf der Hand. Wenn ein Typ mit einem Herzinfarkt tot umfällt, hat er keine Zeit mehr, irgend etwas zu unterrjehmen. Als ich mit Bucky gesprochen habe, habe ich herausgefunden, daß der Junge keinen Cent hat, also ist das Geld, falls es überhaupt existiert, wahrscheinlich noch irgendwo auf dem Anwesen versteckt. Ich denke mir, wenn ich Johnnys Wohnung miete, kann ich mich in aller Ruhe umsehen.«
»Und in der Zwischenzeit haben Sie Bucky kein Wort von alledem erzählt.«
»Von dem Geld? Selbstverständlich nicht. Wissen Sie, warum? Angenommen, ich liege falsch. Warum soll ich ihnen Hoffnungen machen, wenn gar nichts da ist? Wenn ich Geld finde, kann ich sie um einen Anteil bitten.«
»Oh, sicher. Es handelt sich um Geld, von dem sie gar nichts wissen, und Sie wollen mir erzählen, daß Sie es ihnen geben würden?«
Er lächelte schüchtern. »Vielleicht würde ich einen kleinen Prozentsatz abschöpfen, aber wem täte das weh? Sie bekommen immer noch mehr, als sie sich je erhoffen konnten.«
»Und in der Zwischenzeit ist Ihnen dieser frühere Zellengenosse bis zu Johnnys Türschwelle gefolgt?«
»Das nehme ich an.«
»Woher wußte er von der Sockelleiste?«
Ray hielt seine verletzte Hand in die Höhe. »Weil ich es ihm gesagt habe. Sonst hätte er mir jeden Knochen in der Hand gebrochen. Er war mir gegenüber im Vorteil, weil ich ihn nicht erwartet hatte. Das nächste Mal weiß ich Bescheid, und das wird einer von uns nicht überleben.«
»Woher wußten Sie von der Sockelleiste?«
Ray tippte sich an die Schläfe. »Ich weiß, wie Johnnys Kopf funktioniert hat. An dem Tag, als ich hier aufgetaucht bin und Sie seine Bücher durchsucht haben? Da habe ich eine kleine Inspektion vorgenommen. Er hatte zuvor schon einmal eine Sockelleiste benutzt — nämlich seinerzeit — , und so habe ich mir gedacht, daß ich es zuerst damit versuchen würde.« Er rutschte auf seinem Stuhl herum. »Sie glauben mir nicht. Das sehe ich an Ihrem Blick.«
Ich lächelte verhalten. »Sie sind ein sehr raffinierter Mann. Sie lügen mindestens so gut wie ich, nur daß Sie schon mehr Übung haben.«
Er wollte etwas sagen, doch die Bedienung war mit zwei dampfenden Tellern auf einem Tablett zurückgekehrt. Sie sah mehr als erledigt aus. Sie stellte Saft, zwei Portionen gebutterten Toast und eine Auswahl Marmelade auf den Tisch. Dann holte sie zwei kleine Papierpäckchen aus der Tasche ihrer Uniform und legte sie neben seinen Teller. »Ich hab’ Ihnen die mitgebracht«, sagte sie.
Ray nahm eines der Päckchen in die Hand. »Was ist Midol?«
»Gegen Krämpfe, aber es hilft bei allem, was einen plagt. Nehmen Sie nur nicht zu viele. Sonst bekommen Sie PMS.«
»PMS?« sagte er verständnislos.
Keine von uns antwortete. Sollte er es selbst herausfinden. Sie füllte unsere Kaffeetassen auf und ging zum nächsten Tisch weiter, während sie ihren Bestellblock herauszog. Ray öffnete eines der Papierpäckchen und schluckte mit seinem Orangensaft zwei Tabletten. Wir verbrachten eine kurze, intensive Phase damit, Nahrung unsere Schlünde hinabzuschaufeln.
Schließlich tupfte sich Rawson sachte mit einer Papierserviette das Kinn. »Wenn Sie mich fragen, würde ich sagen, hören wir auf, auf Vergangenem herumzureiten, und denken wir lieber darüber nach, was als nächstes ansteht.«
»Ach. Jetzt sind wir Partner. Das Kumpelsystem«, sagte ich.
»Klar, warum nicht? Gilbert Hays hat Johnnys Geld genommen, und ich will es zurück. Nicht nur für mich. Ich spreche von Bucky und Chester. Haben sie Sie nicht deswegen engagiert? Um das wiederzubeschaffen, was Hays gestohlen hat?«
»Ich nehme es an«, sagte ich.
Er zuckte lakonisch die Achseln. »Was meinen Sie dann dazu? Was haben Sie für einen Plan?«
»Wieso ist das meine Sache? Lassen Sie sich doch etwas einfallen«, sagte ich.
»Sie sind diejenige, die bezahlt wird. Ich bin nur zur Assistenz da.«
Ich musterte ihn und dachte über die verworrene Geschichte nach, die er gerade erzählt hatte. Ich glaubte eigentlich nicht, daß er mir die Wahrheit gesagt hatte, aber ich kannte ihn nicht gut genug, um zu wissen, zu welcher Art Lügen er neigte. »Offen gestanden gibt es eine Möglichkeit, und ich könnte ein bißchen Hilfe brauchen«, sagte ich.
»Gut. Worum geht’s?«
Ich zog Lauras Zimmerschlüssel hervor und legte ihn auf den Tisch. »Ich habe den Schlüssel zu Laura Huckabys Zimmer.«
Seine Miene wurde zuerst völlig ausdruckslos, dann setzte er einen schiefen Blick auf. Er beugte sich vor und starrte mich an. Dann sagte er: »Was?«
»Die Frau mit dem Matchsack. Sie benutzt den Namen Hudson, aber das hier ist der Schlüssel zu ihrem Zimmer.«