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Ich fuhr in die Hotelhalle hinunter und spazierte umher, um ein Gefühl für das Gebäude zu bekommen. Bei Tag besaßen der rote Samt und das Gold eine ebenso trostlose Ausstrahlung wie ein leeres Kino. Ein Weißer in einer roten Uniform schob einen jaulenden Staubsauger auf dem Teppichboden vor und zurück. Die Angestellte der Nachtschicht war verschwunden, und die Rezeption war mit einem Korps gesund aussehender, marineblau gekleideter junger Leute besetzt. Niemand vom Personal würde mir weiterhelfen. Sämtliche merkwürdigen Anfragen würden an den Schichtleiter, den stellvertretenden Geschäftsführer oder den Geschäftsführer selbst weitergereicht werden, die mich allesamt mit genau der Skepsis beäugen würden, die ich verdiente. Auf meiner Suche nach Informationen würde ich einfallsreich vorgehen müssen, also mit den üblichen Lügen und Täuschungsmanövern.
Die meisten Hotelgäste neigen dazu, eine Einrichtung anhand ihrer eigenen Bedürfnisse zu betrachten: Rezeption, Restaurants, Souvenirladen, Toiletten, öffentliche Telefone, Pagen, Konferenzsäle und Besprechungsräume. Bei meinem ersten Erkundungsgang suchte ich nach den Büros der Direktion. Ich ging an der Wand entlang und drückte mich schließlich durch eine Glastür in einen mit üppigem Teppich ausgelegten Flur, der sich durch holzgetäfelte Wände und indirekte Beleuchtung auszeichnete. Die Büros der verschiedenen Abteilungsleiter waren mit glänzenden Messingbuchstaben markiert.
In diesem Teil des Hotels hatte man keine Bemühungen unternommen, die mittelalterliche oder die Cowboy-Attitüde zu verfolgen. Da wir Samstag hatten, waren die verglasten Büros des Verkaufsleiters und des Sicherheitschefs dunkel und die Türen verschlossen. Die Bürozeiten standen in ordentlichen Goldbuchstaben angeschrieben und versicherten mir, daß ich bis Montag morgen um neun Uhr freie Bahn hätte. Ich nahm an, daß vierundzwanzig Stunden lang Wachmänner im Einsatz waren, hatte aber bisher keinen gesehen. Die Verkaufsleiterin hieß Jillian Brace. Der Name des Sicherheitschefs lautete Burnham J. Pauley. Ich prägte mir beide ein und setzte meinen Spaziergang durch den Verwaltungsflügel und eine Tür am anderen Ende des leeren Flurs fort.
Ich kehrte zur Rezeption zurück und wartete, bis einer der Angestellten frei war. Der Junge, der auf mich zukam, war Mitte zwanzig: sauber rasiert, reine Haut, blaue Augen und leichtes Übergewicht. Seinem Namensschild zufolge hieß er Todd Luckenbill. Mr. und Mrs. Luckenbill hatten dafür gesorgt, daß seine Zähne gerade, seine Manieren untadelig und seine Haltung gut waren. Keine Ohrringe, kein Nasenschmuck und keine sichtbaren Tätowierungen. Er sagte: »Ja, Ma’am. Kann ich Ihnen helfen?«
»Tja, das hoffe ich, Todd«, sagte ich. »Ich bin wegen einer Familienangelegenheit nur kurz in Dallas, aber zufälligerweise sucht mein Chef schon lange ein Hotel, wo wir nächstes Frühjahr unsere große Absatzkonferenz abhalten können. Ich dachte, ich könnte dieses Haus empfehlen, weiß aber nun nicht, welche Sonderkonditionen Sie gewähren. Ich wollte Sie fragen, ob Sie mich zum Verkaufsleiter bringen könnten. Ist er heute hier?«
Todd lächelte und antwortete in leicht tadelndem Tonfall: »Es ist kein >er<. Unsere Verkaufsleiterin heißt Jillian Brace, aber sie arbeitet nicht an den Wochenenden. Sie könnten es am Montag morgen bei ihr versuchen. Sie ist meistens ab neun Uhr hier und würde sich sicher gern mit Ihnen unterhalten.«
»Hm, das würde ich auch gern, aber ich fliege um sechs Uhr ab. Könnten Sie mir vielleicht eine Visitenkarte von ihr geben? Da kann ich sie von Chicago aus anrufen.«
»Sicher. Wenn Sie einen Moment warten, bringe ich Ihnen eine.«
»Danke. Ach, und eines fällt mir gerade noch ein. Meinem Chef liegt die Sicherheit der Konferenz am Herzen. Wir hatten letztes Jahr ein kleines Problem mit einem der großen Hotels, und ich weiß, daß er nichts buchen möchte, bevor er sich mit den Sicherheitsmaßnahmen vertraut gemacht hat.«
»In welcher Branche arbeiten Sie denn?«
»Investmentbanken. Ganz oben angesiedelt.«
»Darüber müssen Sie mit Mr. Pauley sprechen. Das ist der Sicherheitschef. Soll ich Ihnen auch von ihm eine Karte geben?«
»Sicher, das wäre gut. Ich wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn es nicht zuviel Mühe macht.«
»Kein Problem.«
Während er in seiner Mission unterwegs war, nahm ich mir aus einem Ständer auf dem Tresen ein paar Postkarten. Das Hochglanzfoto darauf zeigte die weinrote Hotelhalle mit zwei livrierten Herolden, die in Hörner bliesen, die wesentlich länger waren als ihre Arme. Ich sah mich um, aber sie schienen heute morgen keinen Dienst zu haben. Todd kehrte Momente später mit einer Handvoll der versprochenen Visitenkarten zurück. Ich bedankte mich und ging quer durch die Hotelhalle zu einer mit einem Mahagonitisch und zwei samtbezogenen Bänkchen möblierten Nische.
In der Schublade fand ich mehrere Bogen Hotelbriefpapier und machte mir ein paar Notizen. Dann holte ich tief Luft, nahm den Hörer von einem der Haustelefone ab und bat die Vermittlung, mich mit Laura Huckaby zu verbinden. Es entstand eine Pause, und dann sagte die Telefondame: »Es tut mir leid, aber ich habe keine Eintragung für jemanden dieses Namens.«
»Nicht? Das ist aber seltsam. Ach ja. Einen Moment bitte. Versuchen Sie es mit Hudson.«
Die Telefondame gab keine Antwort, verband mich aber offenbar mit einem Gast dieses Namens. Ich hoffte, daß es die richtige wäre. Ich notierte mir den Namen und malte einen Kreis um ihn herum, damit ich ihn nicht vergaß.
Nach dem ersten Klingeln meldete sich eine Frau, die ängstlich und angespannt klang. »Farley?«
Farley? Was war denn das für ein Name? Ich fragte mich, ob das der Typ war, den sie am Flughafen in Santa Teresa zurückgelassen hatte.
»Ms. Hudson? Hier spricht Sara Fullerton, die Assistentin von Jillian Brace in der Verkaufs- und Marketingabteilung hier im Haus. Wie geht es Ihnen heute?« Ich benutzte diesen falschen, herzlichen Ton, den alle Telefonverkäufer im Telefonverkäuferseminar beigebracht bekommen.
»Gut«, sagte Laura vorsichtig und wartete auf die Pointe.
»Oh, das ist schön. Das freut mich zu hören. Ms. Hudson, wir führen eine vertrauliche Umfrage unter bestimmten ausgewählten Gästen durch, und ich wollte Sie bitten, mir ein paar Fragen zu beantworten. Ich verspreche Ihnen, daß es nicht mehr als zwei Minuten Ihrer Zeit in Anspruch nehmen wird. Können Sie die erübrigen?«
Laura schien nicht interessiert zu sein, wollte aber nicht unhöflich wirken. »In Ordnung, aber fassen Sie sich kurz. Ich erwarte einen dringenden Anruf.«
Mein Herz begann zu klopfen. Wenn das nicht der richtige Gast war, würde es sich bald herausstellen. »Das verstehe ich, und wir sind Ihnen dankbar für Ihre Unterstützung. Also, unserem Melderegister zufolge sind Sie vergangene Nacht mit dem American-Airlines-Flug 508 aus Santa Teresa, Kalifornien, angekommen. Stimmt das?«
Schweigen.
»Entschuldigen Sie bitte, Ms. Hudson. Stimmt das?«
Sie klang argwöhnisch. »Ja.«
»Und Ihre Ankunftszeit war ungefähr ein Uhr fünfundvierzig?«
»Das stimmt.«
»Hatten Sie irgendwelche Schwierigkeiten, den Hotelzubringerbus zu erreichen, als Sie von der Gepäckabholung aus anriefen?«
»Nein. Ich habe einfach den Hörer abgenommen und gewählt.«
»Ist der Zubringerbus gleich gekommen?«
»Im Grunde schon. Es hat etwa fünfzehn Minuten gedauert, aber das ist ja noch im Rahmen.«
»Aha. War der Fahrer höflich und hilfsbereit?«
»Er war in Ordnung.«
»Wie würden Sie den Anmeldevorgang bezeichnen? Hervorragend, sehr gut, angemessen oder schlecht?«
»Ich würde sagen, hervorragend. Ich meine, ich hatte keinerlei Schwierigkeiten oder so.« Sie engagierte sich langsam wirklich für diese Geschichte und bemühte sich, in ihren Antworten objektiv, aber fair zu sein.
»Wir freuen uns, das zu hören. Und wie lange haben Sie vor zu bleiben?«
»Das weiß ich noch nicht. Ich werde mindestens noch eine Nacht hierbleiben, aber darüber hinaus kann ich noch nichts sagen. Möchten Sie, daß ich Sie davon verständige, sobald ich es weiß?«
»Das wird nicht nötig sein. Wir freuen uns, wenn Sie so lange bei uns bleiben, wie Sie möchten. Wenn ich Sie jetzt nur noch darum bitten dürfte, Ihre Zimmernummer zu bestätigen, dann sind wir schon fertig.«
»Ich bin in Nummer 1236.«
»Wunderbar — 1236 stimmt mit unseren Unterlagen überein. Und damit ist die Umfrage schon beendet. Vielen Dank für Ihre Geduld, Ms. Hudson, und wir hoffen, Sie genießen Ihren Aufenthalt. Wenn wir Ihnen irgendwie dienlich sein können, zögern Sie nicht, uns davon zu unterrichten.«
Jetzt mußte ich mir nur noch eine Methode ausdenken, wie ich in ihr Zimmer kam.
Ich drehte eine zweite Runde durch die Hotelhalle, diesmal auf der Suche nach einem Zugang zur Hinterseite des Hauses. Ich interessierte mich für Lastenaufzüge, Personaltreppenhäuser, nicht gekennzeichnete Türen oder Türen, auf denen »Personal« stand. Ich fand eine, die mit »Nur Personal« beschriftet war, ging hinein und stieg eine kurze Betontreppe zu einer Tür mit der Aufschrift »Kein Zutritt« hinab. Das konnte nicht ernst gemeint gewesen sein, da die Tür unverschlossen war und ich ohne weiteres hindurchspazierte.
Jedes Hotel hat sein öffentliches Gesicht: sauber, mit Teppichböden ausgelegt, gepolstert, glänzend, getäfelt und poliert. Wie ein Hotel aber tatsächlich geführt wird, spielt sich unter wesentlich weniger glanzvollen Bedingungen ab. Der Korridor, den ich betrat, hatte einfache Betonwände und einen Fußboden aus braunen Kunststofffliesen. Die Luft hier war viel wärmer und roch nach Maschinen, gekochtem Essen und alten Putzlumpen. Die Decken waren hoch und von Leitungen, dicken Kabeln und Heizungsrohren überzogen. Ich konnte Geschirrklappern hören, doch machte es die Akustik schwer, dessen Herkunft zu orten.
Ich spähte in beide Richtungen. Zu meiner Linken waren breite Metalltüren hochgerollt worden, und ich konnte die Ladezone sehen. Große Lastwagen waren rückwärts an die Laderampen herangefahren, und Überwachungskameras hingen in die Ecken montiert herab, mechanische Augen, die jeden überwachten, der sich in ihrem Umkreis bewegte. Ich wollte meine Gegenwart nicht publik machen, und so drehte ich mich um und ging in die andere Richtung.
Ich schritt den Korridor entlang und bog um die Ecke in die erste von zahlreichen Küchen, die, einem Irrgarten gleich, ineinander übergingen. Sechs Eismaschinen standen vor mir nebeneinander an der Wand. Ich zählte zwanzig rollende, metallene Speisekarren mit Schubleisten für Tablette. Die Böden waren frisch geputzt, glänzten von Wasser und rochen nach Desinfektionsmittel. Ich ging vorsichtig weiter, vorbei an großen rostfreien Mixschüsseln, Suppenkesseln und Industriespülmaschinen, aus denen Dampf quoll. Gelegentlich blickte ein Küchenarbeiter mit weißer Schürze und Haarnetz interessiert zu mir auf, aber niemand schien meine Anwesenheit hier unten in Frage zu stellen. Eine Schwarze hackte grüne Paprikaschoten. Ein Weißer verkleidete einen der Rollkarren mit Plastikfolie, um die Speisen zu schützen. Es gab riesige, zimmergroße Öfen und Kühlschränke aus blitzendem Stahl, größer als die Leichenhalle im St. Terry’s Hospital. Weiteres Küchenpersonal in weißen Schürzen, mit Haarnetzen und Plastikhandschuhen wusch Salatzutaten und arrangierte sie auf Tellern, die auf der Arbeitsfläche aus rostfreiem Stahl aufgereiht standen.
Ich steckte den Kopf in einen großen Vorratsraum vom Umfang eines Waffenlagers der Nationalgarde, der angefüllt war mit Kartons voller Ketchupflaschen, Kisten mit Senf-, Oliven- und Mixed-Pickles-Gläsern, Regalen mit abgepacktem Brot, Reihen von Croissants, hausgemachten Torten, Käsekuchen, Obstkuchen und Brötchen. Plastikbehälter waren mit Frischprodukten gefüllt. Die Luft war geschwängert von intensiven Gerüchen: gehackte Zwiebeln, köchelnde Tomatensauce, Kohl, Sellerie, Zitrusfrüchte, Hefe; Schicht um Schicht Küchen- und Putzaromen. Die Flut an Gerüchen hatte etwas Unangenehmes an sich, und mir wurde massiv bewußt, wie meine Geruchsnerven eine verworrene Mischung von Daten zu uralten Teilen meines Gehirns leiteten. Es war geradezu eine Erleichterung, auf der anderen Seite des Komplexes wieder herauszukommen. Die Lufttemperatur fiel, und die Gerüche waren auf einmal so klar wie in einem Wald. Ich fand den Hauptkorridor und bog nach rechts.
Vor mir stand ein regelrechter Zug aus Wäschewagen an der Wand. Ihre Segeltuchflanken waren gelb und wölbten sich von den Bergen verschmutzter Bettwäsche und Handtüchern. Ich machte mich entschlossenen Schrittes auf den Weg und blickte in jeden Raum, an dem ich vorbeikam. An der Tür zur Hotelwäscherei blieb ich stehen: ein riesiger Raum voller an den Wänden montierter Waschmaschinen, von denen die meisten wesentlich höher waren als ich. Eine Laufschiene hing an der Decke, und gewaltige Netzsäcke voller Wäsche schwenkten an einer Reihe von Haken um die Ecke. Irgendwo konnte ich gigantische Trockner laufen hören. Die Luft war durchdrungen vom Geruch feuchter Baumwolle und Waschmitteldämpfen. Zwei Frauen in Uniform arbeiteten gemeinsam an einer Maschine, deren Funktion darin zu bestehen schien, die Hotelbettwäsche zu bügeln und zu falten. Die Bewegungen der Frauen wiederholten sich ständig, wenn sie die Laken aus der Maschine nahmen, nachdem diese ihren zweifachen Arbeitsgang ausgeführt hatte. Jedes Päckchen wurde noch einmal gefaltet und auf der Seite gestapelt, ohne jeglichen Spielraum für Fehler, während die Maschine das nächste frisch gebügelte Laken entließ.
Ich ging weiter den Korridor entlang und verlangsamte meinen Schritt. Diesmal kam ich an einer niedrigen, geteilten Tür mit einem schmalen Sims vorbei, das eine kleine Theke bildete. Auf dem Schild über der Tür stand »Personalwäsche«. So, so, so. Ich blieb stehen und blickte auf das, was die Wäscherei für die Uniformen der Angestellten gewesen sein muß. Wie in einer chemischen Reinigung waren mehrere hundert zusammengehörige Uniformen gesäubert und gebügelt worden und hingen nun an einer mechanischen Laufschiene, wo sie darauf warteten, vom Personal abgeholt zu werden. Ich lehnte mich über die quergeteilte Tür und äugte durch einen dichten Wald aus Reinigungssäcken. Es schien niemand da zu sein.
»Hallo?«
Keine Antwort.
Ich drehte am Knopf, öffnete die geteilte Tür und schlich mich hinein. Rasch ging ich die Uniformen durch. Offenbar bestand jede von ihnen aus einem kurzen roten Baumwollrock und einem darüberfallenden roten Kittel. Unmöglich zu erraten, was welche Größe war. Ein an jedem Kleiderbügel angebrachter Zettel nannte den Vornamen der Trägerin: Lucy, Guadalupe, Historia, Juanita, Lateesha, Mary, Gloria, Nettie. Es waren endlos viele Namen. Ich wählte aufs Geratewohl drei aus, schlich wieder davon und schloß leise die Tür hinter mir.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Ich fuhr zusammen und wäre beinahe mit der stämmigen weißen Frau in der roten Uniform kollidiert, die direkt hinter mir im Korridor stand. In meinem Gehirn herrschte völlige Leere.
Die Nüstern der Frau blähten sich, als witterte sie den Schwindel. »Was machen Sie mit diesen Uniformen?« Ich konnte ihr praktisch die Nase hinaufsehen, was kein schöner Anblick war. Auf ihrem Namensschild stand »Mrs. Spitz, Wäschereileitung«.
»Ah, gute Frage, Mrs. Spitz. Ich habe Sie gerade gesucht. Ich bin die Assistentin von Jillian Brace von der Verkaufs- und Marketingabteilung.« Mit der freien Hand griff ich in meine Jackentasche und zog eine Visitenkarte hervor, die ich vor ihr schwenkte.
Sie schnappte sich die Karte und studierte sie mit scheelem Blick. »Da steht Burnham J. Pauley. Was wird denn hier gespielt?« Sie hatte ein breites Gesicht, und jeder Zug darin schien vor Argwohn zu beben.
»Tja«, sagte ich. »Herrje. Ich bin froh, daß .Sie das fragen. Weil nämlich. Offen gestanden erwägt die Geschäftsleitung neue Uniformen. Aus Sicherheitsgründen. Und Mr. Pauley hat Ms. Brace gebeten, ihm ein Exemplar der vorhandenen Uniformen zu zeigen.«
»Das ist das Lächerlichste, was ich je gehört habe«, fauchte sie. »Wir haben diese Uniformen gerade erst bekommen, wie die Geschäftsleitung sehr wohl weiß. Außerdem ist das keine korrekte Vorgehensweise, und davon habe ich die Nase voll. Ich habe Mr. Tompkins bei unserer letzten Abteilungsleiterbesprechung gesagt, daß das mein Bereich ist und ich auch vorhabe, das so beizubehalten. Sie warten hier. Ich rufe ihn auf der Stelle an. Ich lasse mir von der Geschäftsleitung nicht in meinem Bereich herumpfuschen.« Sogar ihr Atem roch indigniert. Ihr Blick wandte sich wieder mir zu. »Wie heißen Sie?«
»Vikki Biggs.«
»Wo ist Ihr Namensschild?«
»Oben.«
Sie zeigte mit dem Finger auf mich. »Rühren Sie sich nicht vom Fleck. Ich werde dieser Sache auf den Grund gehen. Die Geschäftsleitung hat vielleicht Nerven, jemanden einfach so hier herunterzuschicken. Welche Nummer hat Ms. Braces Anschluß?«
»202.«, sagte ich automatisch. Sehen Sie? Das ist das Schöne daran, wenn man diese Fertigkeiten pflegt. In einer Krisensituation brauche ich nur den Mund aufzumachen, und schon plumpst eine Flunkerei heraus. Ein ungeübter Lügner kann sich nicht immer so ohne weiteres aus einer Situation retten wie ich.
Sie schritt durch die geteilte Tür und bewegte sich dabei mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloß. Ich legte mir die Uniformen über den linken Arm und ging zielstrebig und mit klopfendem Herzen weiter. Als ich um die Ecke gebogen war, verfiel ich in den Laufschritt. Ich fand das Treppenhaus und eilte die Treppen hinauf, indem ich zwei Stufen auf einmal nahm. Ich wagte nicht, die Hotelaufzüge zu benutzen. Ich malte mir aus, wie Mrs. Spitz den Sicherheitsdienst alarmierte und Wachleute auf der Suche nach mir die Ausgänge umstellten. In der dritten Etage ging mir die Luft aus, aber ich stieg weiter. Den sechsten Stock passierte ich keuchend, mit brennenden Schenkeln und dem Gefühl, als würden mir gleich die Kniescheiben abfallen. Schließlich wankte ich durch die Tür mit der Acht, endlich wieder auf vertrautem Boden, nur eine Biegung des Korridors von meinem Zimmer entfernt.
Ich schloß die Tür zu Zimmer 815 auf, warf die unrechtmäßig erworbenen Uniformen über eine Stuhllehne und brach auf dem Bett zusammen, das mittlerweile ordentlich gemacht worden war. Ich mußte lachen, als ich dalag und versuchte, wieder ruhig zu atmen. Mrs. Spitz sollte lieber ihren Hormonspiegel überprüfen oder die Dosierung ihrer Medikamente einstellen lassen. Sie würde noch gefeuert werden, wenn sie weiterhin so über die Geschäftsleitung lästerte. Ich erwartete beinahe, daß jemand mit Fragen und Anschuldigungen an meine Tür klopfen und eine detaillierte Erklärung für all die Lügen verlangen würde, die ich erzählt hatte.
Ich stand auf und ging hinüber zur Tür, wo ich die Sicherheitskette vorlegte. Die nächsten Minuten verbrachte ich damit, gestohlene Uniformen anzuprobieren. Die erste paßte mir am besten. Ich musterte mich in dem hohen Spiegel. Der Rock war in der Taille zu weit, aber mit dem Kittel darüber machte das ja nichts. An jedem Kittel waren mit einer Nadel weiße Rüschen befestigt, die eine Art Halskrause bildeten, wenn man sie anknöpfte. Der Kittel selbst hatte leicht gebauschte Ärmel. Mit nackten Beinen und meinen Joggingschuhen sah ich aus, als könnte ich im Handumdrehen ein Badezimmer putzen. Ich schlüpfte wieder in meine Jeans und hängte die Uniform in den Wandschrank. Ich wußte nicht, was ich mit den zwei übrigen Uniformen tun sollte, also faltete ich sie zusammen und legte sie in die Schreibtischschublade. Bevor ich das Hotel verließ, würde ich einen Ort finden, an dem ich sie lassen konnte.
Ich ließ mir vom Zimmerservice etwas zum Mittagessen bringen, da ich es nicht wagte, mich so bald wieder im Hotel blicken zu lassen. Um zwei Uhr betrat ich den Flur zu einer Erkundungstour und machte mich mit den Gegebenheiten des Stockwerks vertraut. Ich entdeckte den Feuerlöscher, zwei Notausgänge und die Eismaschine. Auf einer Konsole gegenüber den Aufzügen stand ein Haustelefon. Im Lagerraum am Ende des Korridors konnte ich zwei Wäschekarren erkennen, die schief hineingeschoben worden waren. Ich ging auf sie zu und verbrachte ein paar Minuten damit, die Bestände zu mustern. Weitere Bügeleisen und Bügelbretter, zwei Staubsauger. Hinten in der Nische stand ein großer Wäscheschrank, dessen Einlegeböden fast bis unter die Decke mit sauberen Laken und Handtüchern beladen waren. Ich konnte Kisten voller Toilettenpapier sehen und kleine Türme aus Plastikpaletten, die die Miniaturtoilettenartikel enthielten. Nett. Das gefiel mir. Ein Arm voller Handtücher ist ein guter Vorwand dafür, in ein Zimmer einzudringen. Ich fand ein Türschild aus Plastik mit der Aufschrift »Zimmermädchen anwesend«, das ich mir gleich schnappte, wo ich schon dabei war.
Nachdem ich die Möglichkeiten erschöpfend studiert hatte, fuhr ich zum Souvenirladen hinab und kaufte mir ein Buch. Ich sah mich gezwungen, zwischen fünfzehn glühenden Liebesromanen auszuwählen, da das Hotel nichts anderes auf Lager hatte. Zusätzlich kaufte ich eine Handvoll Mini-Pfefferminzplätzchen und hielt mich nur so lange in der Hotelhalle auf, wie es dauerte, um Laura auf ihrem Zimmer anzurufen. Als sie sich meldete, sagte ich »Hoppla, es tut mir leid«, und legte auf. Klang, als hätte ich sie mitten in einem Nickerchen aufgeschreckt. Ich vertrieb mir den Nachmittag mit Lesen und Schlafen. Aus einem phänomenalen Mangel an Einfallsreichtum heraus bestellte ich mir über den Zimmerservice eine Abendmahlzeit, die ein exaktes Abbild meines Mittagessens war: Cheeseburger, Pommes frites und Diät-Pepsi.
Kurz nach sieben streifte ich meine Jeans ab und zog meine schicke rote Uniform an. Ich war nicht gerade begeistert von den nackten Beinen mit den Joggingschuhen, aber was sollte ich machen? Ich stopfte mir die Taschen voller Pfefferminzplätzchen und holte die übrigen gestohlenen Uniformen aus der Schublade, in der ich sie versteckt hatte. Ich schob den Zimmerschlüssel in die Tasche und ging auf die Feuertreppe zu. Auf dem Weg nach oben hielt ich mich lang genug im zehnten Stock auf, um die entwendeten Uniformen in den Lagerraum zu hängen. Ich wollte die anderen Zimmermädchen wegen meines Diebstahls nicht in Schwierigkeiten bringen.
Der zwölfte Stock war genauso angelegt wie der achte, außer daß der Lagerraum nicht so gut bestückt war. Ich schnappte mir ein Staubtuch und einen Staubsauger, suchte mir im Flur eine Steckdose und begann mich staubsaugend auf Laura Huckabys Zimmer zuzubewegen. Der Teppich war eine extravagante Wiese aus geometrischen Formen; Dreiecke überlappten sich auf einem leuchtenden Streifen in Hell-/Dunkelgold und Grün. Staubsaugen ist immer beruhigend: eine langsame, eintönige Bewegung, begleitet von einem tiefen, stöhnenden Geräusch und diesem befriedigenden Knacken, wenn etwas richtig Tolles aufgesaugt wird. Noch nie war der Teppichboden so gründlich gesäubert worden. Ich arbeitete, bis ich schwitzte, doch erlaubte mir diese Mühe, mich nach Belieben hier aufzuhalten.
Um 19.36 Uhr hörte ich das Ping des Aufzugs, und jemand vom Zimmerservice erschien mit einem Speisetablett. Er ging auf Zimmer 1236 zu. Er balancierte das Tablett bequem auf Schulterhöhe und klopfte an ihre Tür. Ich saugte in diese Richtung weiter und schaffte es, einen Blick auf sie zu werfen, als sie ihn hereinließ. Sie war barfuß und sah in dem Hotelbademantel, aus dem unten ein Nachthemd heraushing, massig aus. Die lässige Kleidung ließ vermuten, daß sie bald zu Bett gehen wollte, was für meine Zwecke günstig war. Der Kellner kam Momente später wieder heraus. Er ging ohne ein Wort an mir vorbei und verschwand im Aufzug, ohne meine Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen. Da es trotz allem möglich war, daß Laura Besuch bekommen oder ausgehen und sich mit jemandem treffen könnte, blieb ich auf meinem Überwachungsposten.
Als ich zum Staubsaugen keine Lust mehr hatte, zog ich mein Staubtuch hervor, kniete mich hin und wischte Fußleisten ab, die offenbar seit Jahren niemand mehr angefaßt hatte. Manchmal ist es wirklich schwer, sich vorzustellen, wie die männlichen Detektive so etwas machen. In regelmäßigen Abständen wandte ich den Kopf zu Laura Huckabys Tür, ohne je etwas zu hören. Vielleicht würde sie mich hineinlassen, wenn ich bellte und kratzte. Hin und wieder kamen und gingen andere Hotelgäste, doch niemand widmete mir auch nur die geringste Aufmerksamkeit.
Folgendes habe ich über das Dasein eines Zimmermädchens gelernt: Die Menschen sehen einem selten in die Augen. Gelegentlich huscht einem jemandes Blick übers Gesicht, aber daraufhin könnte einen später niemand bei einer Gegenüberstellung identifizieren. Gut für mich, obwohl ich glaube, daß es nicht einmal in Texas als Verbrechen gälte, sich als Zimmermädchen auszugeben.
Um 20.15 Uhr stellte ich den Staubsauger zurück in die Wäschekammer und bewaffnete mich mit einer Ladung frischer Handtücher. Ich kehrte zu Ziffer 1236 zurück, klopfte und rief gleichzeitig mit glockenheller Stimme: »Das Zimmermädchen.« Wirkte wie ein Zaubertrick. Nur Augenblicke später öffnete Laura Huckaby mit vorgelegter Sicherheitskette die Tür einen Spalt weit. »Ja?«
Ohne Augen-Make-up sahen ihre haselnußbraunen Augen sanft und blaß aus. Ihr Teint wirkte durch die leichte Musterung aus zuvor von Make-up verdeckten Sommersprossen frisch. Außerdem hatte sie ein Grübchen im Kinn, das mir zuvor noch nicht aufgefallen war.
Ich richtete meinen Kommentar an den Türknauf, um nicht hochnäsig zu erscheinen. »Ich bin gekommen, um das Bett aufzudecken.«
»In diesem Hotel wird einem das Bett aufgedeckt?« Sie klang rechtschaffen verblüfft, als wäre allein die Vorstellung grotesk.
»Ja, Ma’am.«
Sie hielt inne und zuckte dann die Achseln. »Einen Moment bitte«, sagte sie und schloß die Tür. Es gab eine Verzögerung von ein paar Minuten, dann löste sie die Kette und trat beiseite, um mich einzulassen.
Es war interessant festzustellen, wieviel ich durch meine Seitenblicke wahrnehmen konnte. Wie eitel war sie eigentlich? Ich hätte schwören können, daß sie die Zeit genutzt hatte, um wieder Make-up aufzulegen. Das wirre kastanienrote Haar war frisch gewaschen und klebte ihr noch am Kopf. Warme, feuchte, nach Shampoo duftende Luft wehte aus dem Badezimmer. Ich legte die frischen Handtücher auf die Ablagefläche neben dem Waschbecken, ging weiter in den Schlafbereich und zog die Vorhänge zu. Der Fernseher lief ohne Ton. Sie hatte ihren Zimmerschlüssel auf den Schreibtisch geworfen. Sofort begann ich zu überlegen, wie ich ihn in die Finger bekommen könnte. An der Unordnung konnte ich sehen, daß sie mit dem Telefon in Reichweite auf dem Bett gelegen war. Vielleicht hatte sie den Anruf bekommen, auf den sie gewartet hatte. Soweit ich erkennen konnte, war der Matchsack nirgends zu sehen.
Sie setzte sich mit ihrer Illustrierten an den Schreibtisch. Als sie die Beine übereinanderschlug, konnte ich einen Streifen blanke Haut sehen. Ihr rechter Knöchel und das Schienbein waren eine dunkle Masse alter Blutergüsse, die an den Rändern grün wurden. Hatte ihr über fünfzig Jahre alter Begleiter sie nach Strich und Faden verprügelt? Das würde jedenfalls erklären, warum sie ihn so eisig behandelt hatte und weshalb sie so um ihr Aussehen bemüht war. Ihr Essenstablett stand immer noch vor ihr auf dem Tisch, eine zerknitterte weiße Serviette achtlos über die schmutzigen Teller geworfen. Was auch immer sie bestellt hatte, sie hatte nicht viel gegessen. Obwohl es ja vermeintlich mein Job war, schien ihr meine Anwesenheit im Raum peinlich zu sein, was sich im Endeffekt zu meinem Vorteil auswirkte. Sie ignorierte mich weitestgehend, obwohl sie mir hin und wieder einen verunsicherten Blick zuwarf. Langsam begann ich meine Unsichtbarkeit zu genießen. Ich konnte sie, ohne lästige Floskeln zu wechseln, aus nächster Nähe beobachten. War das der Schatten eines blauen Flecks an ihrem rechten Kiefer, oder bildete ich mir da etwas ein? Mit was für einem Mann war sie zusammen? Allem Anschein nach hatte er Ray Rawson wüst zugerichtet, also könnte er auch sie verprügelt haben.
Meine Uniform machte ein emsiges, kleines raschelndes Geräusch, als ich die Tagesdecke zweimal faltete. Ich rollte sie zu einem dicken Wulst zusammen und stopfte sie in eine Ecke. Dann deckte ich das Bett halb auf, schüttelte die Kissen und ließ eines der einzeln verpackten Pfefferminzplätzchen auf dem Nachttisch liegen.
Ich ging wieder zu der Spiegelkommode und putzte das Waschbecken, wobei ich ständig das Wasser an- und ausdrehte, auch wenn ich sonst nicht viel tat. Ich musterte ihre Schminksachen: Abdeckstift, Make-up, Puder, Rouge. In einem kleinen runden Behälter hatte sie ein Produkt namens DermaSeal, »ein wasserfestes Kosmetikum zum Kaschieren kleiner Unregelmäßigkeiten«. Ich äugte kurz um die Ecke zu ihr hinüber, nur um festzustellen, daß sie ihrerseits in meine Richtung äugte. Hinter mir war der Wandschrank, den ich liebend gern durchsucht hätte. Ich ging ins Badezimmer und hob ein feuchtes Handtuch auf, das sie über den Badewannenrand gehängt hatte. Ich zog den Duschvorhang gerade und spülte die Toilette, als hätte ich sie soeben geschrubbt. Dann ging ich zurück in die Ankleideecke und öffnete die Schranktür. Bingo. Der Matchsack.
Ich hörte sie rufen: »Was machen Sie da?« Sie klang verärgert, und ich fürchtete, meine Grenzen übertreten zu haben.
»Brauchen Sie noch mehr Kleiderbügel, Miss?«
»Was? Nein. Ich habe jede Menge.«
Wollte ja nur hilfsbereit sein. Sie brauchte nicht so gereizt zu reagieren.
Ich schloß die Tür des Wandschranks und nahm die restlichen sauberen Handtücher wieder an mich. Sie stand nun auf der anderen Seite des Zimmers und beobachtete mich genau, während ich meine Aufgaben erledigte. Ich richtete meinen Blick auf einen Punkt links von ihr. »Was ist mit dem Tablett? Ich kann es mitnehmen, wenn Sie fertig sind.«
Sie warf einen raschen Blick auf den Schreibtisch. »Bitte.«
Ich legte die Handtücher beiseite und ging zum Schreibtisch hinüber, wo ich den Zimmerschlüssel ergriff und auf das Tablett schob, während ich ihn mit der zerknitterten Serviette bedeckte. Ich ging zur Tür hinüber und hielt sie mit der Hüfte auf, während ich das Tablett im Flur auf den Fußboden stellte. Dann nahm ich die Handtücher wieder an mich.
Sie stand neben der Tür und hielt mir etwas entgegen. Zuerst dachte ich, sie reichte mir eine Nachricht. Dann wurde mir klar, daß sie mir ein Trinkgeld gab. Ich murmelte »Dankeschön« und ließ den Geldschein in die Tasche meines Kittels gleiten, ohne nachzusehen, wieviel es war. Ihn zu beäugen, hätte Habgier meinerseits vermuten lassen. »Einen angenehmen Abend noch«, wünschte ich.
»Danke.«
Sowie ich zur Tür draußen war, zog ich den Schein hervor und sah nach, wieviel es war. Oh, wow. Sie hatte mir fünf Dollar gegeben. Nicht schlecht für ein simples zehnminütiges Aufräummanöver. Vielleicht konnte ich noch an der Tür gegenüber klopfen. Wenn ich die ganze Etage durchmachte, könnte ich mir mein Zimmer heute nacht gerade so leisten. Ich nahm ihren Zimmerschlüssel von dem Tablett herunter und ließ es stehen, wo es war. Es sah zwar eklig aus, wie es da so stand, und seine Wirkung auf meinen frisch gesaugten Flur gefiel mir gar nicht, aber im Jargon meines derzeitigen Jobs ausgedrückt, fiel das Abservieren von Tabletts nicht in meinen Bereich.