15
Wir fuhren durch Greenville, Brashear, Saltillo und Mt. Vernon und durchquerten dabei spärlich bewaldetes Ackerland auf sanft gewölbten Hügeln. Der Verkehr war mäßig und die Straße hypnotisch. Zweimal wachte ich ruckartig auf, da ich in eine Art Sekundenschlaf verfallen war. Um wach zu bleiben, rief ich mir meinen geistigen Atlas von Texarkana in Erinnerung. Allerdings barg diese Datei nur zwei Informationshäppchen. Erstens, die Staatsgrenze zwischen Arkansas und Texas teilte die Stadt Texarkana in zwei Hälften, so daß die eine Hälfte der Bevölkerung in Texas und die andere in Arkansas lebt. Und zweitens ist die Stadt Sitz eines Staatsgefängnisses. Damit war diese Form der geistigen Anregung auch erledigt.
Am Stadtrand bog ich zu einer die ganze Nacht geöffneten Tankstelle ab, wo ich anhielt, um die Beine auszustrecken. Ray war noch immer nicht wieder unter den Lebenden, also tauschten Laura und ich die Plätze, und sie setzte sich ans Steuer. Laura rückte fünf Dollar heraus, und für genau diese Summe tankten wir. Es war schon fast halb elf, als wir die Staatsgrenze überquerten, und es würde noch etwa zwei Stunden dauern, bis wir in Little Rock wären. Ich machte es mir auf dem Beifahrersitz bequem, mit krummem Rücken, angewinkelten Knien und auf dem Armaturenbrett abgestützten Füßen. Um mich warm zu halten, verschränkte ich die Arme. Die in meinem Blazer zurückgebliebene Nässe umhüllte mich mit einer feuchten Wolke muffiger Gerüche. Das Dröhnen des Motors, vermischt mit Rays stakkatoartigem Schnarchen, übte eine einlullende Wirkung aus. Ich nahm die Füße herunter und setzte mich aufrecht hin. Ich fühlte mich erschöpft und orientierungslos. Wir kamen an einem Straßenschild vorbei, das besagte, daß wir die U.S. 30 verlassen hatten und nun auf der U.S. 40 in Richtung Norden fuhren. »Wie weit ist es noch bis Little Rock?«
»Wir sind schon an Little Rock vorbeigefahren. Als nächstes kommt Biscoe.«
»Wir sind an Little Rock vorbeigefahren? Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich dort aussteigen will«, flüsterte ich heiser.
»Was hätte ich denn tun sollen? Sie hatten die Landkarte und schliefen tief und fest. Ich hatte keine Ahnung, wo der Flughafen sein sollte, und ich wollte nicht in der Gegend herumfahren und ihn auf gut Glück suchen.«
»Warum haben Sie mich nicht aufgeweckt?«
»Ich habe es einmal versucht. Ich habe Ihren Namen gesagt und keine Antwort bekommen.«
»Gab es denn keine Wegweiser?«
»Soweit ich gesehen habe, nicht. Außerdem startet dort um diese Zeit sowieso kein Flugzeug. Wir sind hier in der finstersten Provinz. Sehen Sie’s ein«, flüsterte sie zurück. Sie schlug wieder einen normalen Tonfall an, dämpfte jedoch Ray zuliebe ihre Stimme. »Es ist höchste Zeit, daß wir uns ein Motel suchen, damit wir ein paar Stunden Schlaf bekommen. Ich bin halbtot. Ich wäre in der letzten Stunde mehr als einmal fast von der Straße abgekommen.«
Ich musterte die Gegend und konnte in der Dunkelheit nur wenig mehr ausmachen als Farmhäuser und vereinzelte, dichte Waldstücke. »Suchen Sie sich eines aus«, sagte ich.
»Es kommt bald wieder ein Ort«, meinte sie ungerührt.
Und tatsächlich gelangten wir in ein Städtchen mit einem einstöckigen Motel in einer Seitenstraße, dessen »Zimmer-frei«-Schild blinkte. Sie bog in den kleinen gekiesten Parkplatz ein und stieg aus. Dann drehte sie sich mit dem Rücken zum Wagen und griff unter ihren Trägerrock, wobei sie vermutlich ein Bündel Bares aus dem Bauchgurt hervorholte, den sie trug. Ich stieß Ray an, der aus den Tiefen aufstieg wie ein Taucher bei der Druckentlastung.
Ich sagte: »Laura möchte hier haltmachen. Wir sind beide völlig erledigt.«
»Ist mir recht«, sagte er. Er richtete sich in Sitzposition auf und blinzelte verwirrt. »Sind wir noch in Texas?«
»In Arkansas. Wir haben Little Rock hinter uns und Memphis vor uns.«
»Ich dachte, Sie wollten uns verlassen?«
»Das dachte ich auch.«
Er gähnte und rieb sich mit den Händen das Gesicht. Dann warf er einen Blick auf seine Uhr und versuchte, in dem spärlichen Licht die Zeit abzulesen. »Wie spät ist es?«
»Nach eins.«
Ich konnte Laura am Eingang des Motels sehen. Die Lichter drinnen waren trübe und die Tür muß abgeschlossen gewesen sein, da ich sah, wie sie mehrmals klopfte und schließlich die Hände vor dem Glas wölbte, um hineinzuspähen. Schließlich schleppte sich eine unglücklich dreinblickende Seele aus dem Büro des Geschäftsführers. Längerer lebhafter Wortwechsel, Gestikulieren und Äugen in unsere Richtung. Laura wurde eingelassen, und ich sah sie dort an der Rezeption stehen, wie sie das Anmeldeformular ausfüllte. Ich vermutete, daß ihre scheinbare Schwangerschaft ihr ein Flair von Verletzlichkeit verlieh, insbesondere zu dieser Stunde. Ein Bündel Bargeld schadete ihrem Anliegen sicher auch nicht. Augenblicke später verließ sie das Büro und kehrte zum Wagen zurück, wobei sie zwei Zimmerschlüssel in der Hand baumeln ließ, die sie mir reichte, als sie sich wieder hinters Steuer setzte. »Ray bekommt ein eigenes Zimmer. Ich kann bei diesem Krach nicht schlafen.«
Sie ließ den Wagen an und fuhr hinters Haus. Wir hatten die beiden letzten Zimmer am hinteren Ende. Es stand nur ein einziges anderes Auto da und das hatte Nummernschilder aus Iowa, so daß ich uns momentan vor Gilbert in Sicherheit wähnte. Ray zerrte einen seiner Koffer aus dem Kofferraum, während Laura sich den Matchsack schnappte und ich den Armvoll feuchter Kleider, die ich hineingeworfen hatte. Vielleicht würde es den Trockenprozeß abschließen und sie wieder tragbar machen, wenn ich sie über Nacht aufhängte.
Ray blieb an seiner Tür stehen. »Wann morgen früh?«
»Ich finde, wir sollten um sechs wieder unterwegs sein. Wenn wir schon fahren, dann zügig. Sinnlos, herumzutrödeln«, meinte Laura. »Zieh die Vorhänge beiseite, wenn du auf bist. Wir machen es genauso.« Sie warf mir einen Blick zu. »Ist Ihnen das recht?«
»Klar, keine Einwände.«
Ray verschwand in seinem Zimmer, und ich folgte ihr in unseres: zwei Doppelbetten und ein tristes Interieur, Modergeruch inbegriffen. Wenn die Farbe Beige einen Geruch hätte, würde sie so riechen. Es sah aus wie ein Raum, in dem man nicht aus dem Bett steigen wollte, ohne vorher irgendwie Lärm zu machen. Sonst träte man womöglich auf eine dieser huschenden, hartschaligen Insekten. Das kleine Kerlchen in meinem Blickfeld saß in der Ecke fest, wo es geduldig gegen die Wände scharrte wie ein Hund, der hinauswill. Man kann diese Tierchen nicht zertreten, ohne Gefahr zu laufen, unvermittelt einen Schwall Zitronenpudding an die Schuhsohle gespritzt zu bekommen. Ich hängte meine Kleider in den Wandschrank, den ich zuerst vorsichtig inspiziert hatte. Keine braunen Einsiedlerspinnen oder pelzige Nagetierchen in Sicht.
Das Badezimmer prangte mit braunen Vinylfliesen, einer Duschkabine aus Fiberglas, zwei cellophanverpackten Plastikbechern und zwei papierverpackten Seifchen in Visitenkartenformat. Ich zog meine Reisezahnbürste mitsamt der winzigen Zahnpastatube hervor und putzte mir in wortloser Verzückung die Zähne. Mangels eines Nachtgewands schlief ich in meiner (geborgten) Unterwäsche und faltete die baumwollene Tagesdecke einmal zusammen, um es wärmer zu haben. Laura ging ins Badezimmer und schloß pietätvoll die Tür, bevor sie ihren Bauchgurt entfernte. Ich war binnen Minuten eingeschlafen und hörte gar nicht, wie sie in ihr knarrendes Bett stieg. Es war noch dunkel, als sie mich um Viertel vor sechs anstieß. »Wollen Sie zuerst duschen?« fragte sie.
»Gehen Sie vor.«
Das Licht im Badezimmer blitzte auf und schoß mir kurz übers Gesicht, bevor sie die Tür schloß. Sie hatte die Vorhänge aufgezogen, wodurch Licht von den Lampen draußen auf dem Parkplatz hereinkam. Durch die Wand glaubte ich die Dusche von nebenan zu hören, was hieß, daß Ray wach war. Im Gefängnis war er vermutlich immer um diese Zeit aufgestanden. Jetzt bedeutete eine Dusche Luxus, da er sie für sich allein hatte und nicht jedesmal, wenn er die Seife fallen ließ, eine sexuelle Attacke befürchten mußte. Ich stützte mich auf einen Ellbogen und sah zu der Autowerkstatt auf der anderen Straßenseite hinaus. Eine Vierzig-Watt-Birne brannte über dem Servicebereich. Es war Montag morgen, und wo war ich? Ich sah auf dem bedruckten Streichholzbriefchen im Aschenbecher nach. Ach ja. Whiteley, Arkansas. Ich erinnerte mich an das Ortsschild vor der Stadt, das eine Bevölkerungszahl von 523 genannt hatte. Vermutlich übertrieben. Ich empfand ein kurzes Aufwallen von Melancholie und sehnte mich nach Hause. In den wilden Tagen meiner Jugend, vor Herpes und Aids, bin ich gelegentlich in Zimmern wie diesem aufgewacht. Es birgt einen gewissen Schrecken, wenn man sich nicht mehr genau daran erinnern kann, wer da so fröhlich hinter der Badezimmertür pfeift. Wenn es mir wieder eingefallen war, konnte ich oft nicht umhin, meinen Geschmack hinsichtlich männlicher Gesellschaft in Zweifel zu ziehen. Ich brauchte nicht lange, um Tugendhaftigkeit als den schnellsten Weg zur Vermeidung von Selbsthaß zu erkennen.
Als Laura das Badezimmer freimachte, vollständig angezogen und den Bauchgurt an Ort und Stelle, putzte ich mir die Zähne und wusch mir mit dem zusammenschrumpfenden Seifenstückchen die Haare. Meine Jeans waren zwar trocken, erinnerten aber immer noch an Aschenbecher und erloschene Lagerfeuer, und so zog ich wieder Lauras Jeanskleid an. Sauber zu sein, hob meine Stimmung bereits enorm. Ich sammelte den Rest meiner aufgehängten Kleidungsstücke aus dem Wandschrank zusammen und brachte sie hinaus zum Auto.
Die Route hatte uns auf einer geraden Linie in Richtung Norden geführt. Hier war die Kälte spürbarer. Die Luft wirkte dünner und der Wind schneidender. Ray hatte eine mit Webpelz gefütterte Jeansjacke angezogen, und als wir ins Auto stiegen, warf er jeder von uns ein Sweatshirt zu. Dankbar zog ich es über den Kopf und meinen Blazer darüber. Über dem Volumen des Sweatshirts saß er so eng, daß ich kaum die Arme bewegen konnte, aber wenigstens war mir warm. Laura legte sich ihr Sweatshirt wie eine Stola um die Schultern. Ich setzte mich auf den Rücksitz und wartete im Wagen, während Laura die Schlüssel abgab und Ray Kleingeld in den Automaten warf, der bei der Rezeption um die Ecke stand. Sie kehrten mit verschiedenen Knabbereien und Erfrischungsgetränken, die Ray verteilte, zum Wagen zurück. Nachdem Laura losgefahren war, verzehrten wir ein Frühstück aus No-name-Cola, Erdnüssen, Schokoriegeln, Erdnußbutterkeksen und Käsecrackern ohne jeden Nährwert.
Laura drehte die Heizung auf, und schon bald war der Wagen erfüllt vom seifigen Duft von Rays Rasierwasser. Abgesehen von seinem zerschundenen Gesicht und den gebrochenen Fingern, was beides übel aussah, war seine äußere Erscheinung untadelig. Offenbar verfügte er über einen endlosen Vorrat an weißen T-Shirts und Chinos. Für einen Mann Mitte sechzig schien er in guter körperlicher Verfassung zu sein. Unterdessen sahen Laura und ich von Stunde zu Stunde abgerissener aus. In der Enge des Mietwagens konnte ich sehen, daß ihr dunkles, kastanienrotes Haar zu diesem flammenden Ton gefärbt war. Die Farbe wuchs sich am Scheitel langsam aus und brachte einen breiter werdenden grauen Streifen zum Vorschein. Die Strähnen um ihr Gesicht herum bildeten einen weißen Saum wie die schmale Umrandung in einem Bilderrahmen. Ich überlegte, ob vorzeitiges Ergrauen wohl in der Familie lag.
Die Sonne ging hinter einem Gebirge frühmorgendlicher Wolken am Horizont auf, und der Himmel wechselte von Apricot über Buttergelb hin zu einem weichen, klaren Blau. Die Landschaft um uns herum war flach. Ein Blick auf die Karte sagte mir, daß dieser Teil des Bundesstaates zur Schwemmebene des Mississippi gehörte und alle Flüsse östlich und südlich auf den Mississippi zuflossen. Seen und heiße Quellen tüpfelten die Landkarte wie Regentropfen, während die Nordwestecke des Bundesstaates von den Boston und den Ouachita Mountains geprägt war. Laura hielt den Fuß fest aufs Gaspedal gedrückt und fuhr konstant sechzig Meilen die Stunde.
Um sieben Uhr waren wir in Memphis. Ich hielt Ausschau nach einer Telefonzelle, da ich Henry anrufen wollte, als mir einfiel, daß es in Kalifornien zwei Stunden früher war. Er pflegte zwar früh aufzustehen, aber fünf Uhr morgens war wirklich übertrieben. Laura merkte, was ich dachte, und fing meinen Blick im Rückspiegel auf. »Ich weiß, daß Sie nach Hause wollen, aber können Sie nicht bis Louisville warten?«
»Was spricht denn gegen Nashville? Wir kommen am späteren Morgen dort an, was ideal für mich wäre.«
»Sie würden uns Zeit kosten. Sehen Sie auf die Karte, wenn Sie es nicht glauben. Wir kommen auf der 40 herein und fahren auf der 65 weiter über die Staatsgrenze. Der Flughafen von Nashville liegt auf der anderen Seite der Stadt. Damit verlieren wir eine Stunde.« Sie reichte mir die Karte, aufgeschlagen bei der Gegend, von der sie sprach, wieder nach hinten.
Ich überschlug die ungefähren Entfernungen. »Sie verlieren keine Stunde. Es dreht sich höchstens um zwanzig Minuten. Ich dachte, Sie wollten gar nicht nach Louisville, also weshalb plötzlich so eilig?«
»Ich habe nie gesagt, daß ich nicht dorthin will. Ich lebe dort. Ich habe nur gesagt, daß Gilbert dorthin fährt. Ich möchte meine Sachen aus der Wohnung holen, bevor er auftaucht.«
»Vergiß deine Sachen. Kauf dir was Neues. Halt dich von dort fern. Wenn du in die Wohnung gehst, läufst du ihm direkt in die Arme.«
»Nicht, wenn ich vor ihm dort bin«, wandte sie ein. »Deshalb will ich ja keine Zeit verlieren, Sie zum Flughafen zu bringen. Sie können von Louisville abfliegen. Das ist nicht so viel weiter.«
Ich merkte, wie meine Körpertemperatur mit meiner anschwellenden Wut stieg. »Es sind noch einmal drei Stunden.«
»Ich halte nicht an«, sagte sie.
»Wer hat Ihnen denn das Kommando übertragen?«
»Und wer Ihnen?«
»Ladies, he! Hört auf. Ihr geht mir auf die Nerven. Wir müssen schon mit Gilbert fertig werden. Das reicht.« Ray wandte sich um, um mich anzusehen, und gab sich bemüht. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Ich weiß, daß Sie unbedingt nach Hause wollen, aber ein paar Stunden Verzögerung spielen doch keine Rolle. Kommen Sie mit uns nach Louisville. Wir nehmen Sie mit zu meiner Ma. Dort sind wir in Sicherheit. Sie können heiß duschen und sich waschen, während Sie Ihre Kleider durch die Waschmaschine laufen lassen.« Er sah Laura an. »Du kommst auch mit. Sie würde sich freuen, dich zu sehen, da bin ich mir sicher. Vor wie vielen Jahren hast du denn deine Grandma zum letzten Mal besucht?«
»Vor fünf oder sechs«, sagte sie.
»Siehst du? Sie hat dich bestimmt schrecklich vermißt. Da bin ich mir sicher«, meinte er. »Sie wird uns fantastische Hausmannskost vorsetzen, und dann bringen wir Sie zum Flughafen. Wir zahlen Ihnen sogar das Flugticket.«
Laura wandte den Blick von der Straße ab. »Wir? Seit wann?«
»Komm schon. Sie hängt nur deswegen mit drin. Chester wird sie vermutlich nie bezahlen, also kann sie die Knete abschreiben. Was kostet uns das schon? Es ist das mindeste, was wir tun können.«
»Du bist sehr großzügig mit Geld, das du nicht hast«, bemerkte sie.
Rays Lächeln versiegte. Sogar vom Rücksitz aus konnte ich seinen Stimmungsumschwung sehen. »Du willst sagen, daß ich keinen Anspruch auf das hier drin habe?« sagte er und wies auf ihren Bauch.
»Natürlich hast du einen Anspruch. Ich habe es nicht so gemeint, aber es kostet uns ohnehin schon eine ganze Menge«, sagte sie.
»Und?«
»Und du könntest mich wenigstens fragen. Ich habe auch etwas zu sagen. Und außerdem habe ich erst kürzlich von dir gehört, daß du mir die ganzen acht Riesen schenken wolltest.«
»Du hast abgelehnt.«
»Habe ich nicht!«
»Sie haben in meiner Gegenwart abgelehnt«, sagte ich und streckte ihr damit praktisch die Zunge heraus.
»Würdest du ihr bitte sagen, daß sie sich heraushalten soll! Das hat nichts mit Ihnen zu tun, Kinsey, also kümmern Sie sich bitte um Ihren eigenen Kram.«
Ich merkte, wie mir ein Lachen in die Kehle stieg. »Seien Sie keine Spielverderberin. Mir macht das Spaß. Ich bin die Adoptivtochter. Das hier ist >Familiendynamik<. Heißt es nicht so? Ich habe davon gelesen, es aber nie selbst erlebt. Rivalität in der Familie ist zum Brüllen.«
»Was wissen Sie schon von Familien?«
»Gar nichts. Das ist es ja gerade. Langsam gefällt mir all dieses Gezänk, seit ich kapiert habe, wie es funktioniert.«
Ray fragte: »Stimmt das? Sie haben keine Familie?«
»Ich habe Verwandte, aber keine nahen. Ein paar Cousinen oben in Lompoc, aber nicht diese Alltagskiste, wo sich die Leute gegenseitig angiften, Stunk machen und fies sind.«
»Ich habe jahrelang ohne Familie gelebt. Das ist etwas, was ich sehr bedauere«, sagte er. »Also, kommen Sie nun mit uns nach Louisville? Wir bringen Sie auf den Nachhauseweg. Ich schwöre es.«
Ich falle grundsätzlich darauf herein, wenn mich jemand nett fragt, vor allem ein ehrenamtlicher Vater, der so gut roch wie er. Ich sagte: »Klar. Warum nicht? Ihre Mutter scheint eine Reise wert zu sein.«
»Das ist sie allerdings«, bekräftigte er.
»Wie lange haben Sie sie nicht gesehen?«
»Siebzehn Jahre. Ich war auf Bewährung draußen, bin aber wegen einer Verletzung der Auflagen wieder eingebuchtet worden, bevor ich so weit kam. Sie hat mich nie im Gefängnis besucht. Ich schätze, sie wollte sich nicht damit auseinandersetzen.«
Nachdem wir uns soweit geeinigt hatten, fuhren wir friedlich weiter. Wir kamen um 10.35 Uhr in Nashville an, allesamt hungrig. Laura entdeckte einen McDonald’s, dessen goldene Bogen vom Briley Parkway herab zu sehen waren. Sie nahm die nächste Ausfahrt. Sowie wir auf den Parkplatz einbogen, sah ich, wie sie mit einer Hand unter ihren Rock griff und eine diskrete Abhebung von der Bauchnabel-Staatsbank vornahm. Da meines das einzige nicht von jüngst verabreichten Schlägen gezeichnete Gesicht war, wurde ich dazu bestimmt, in das Lokal zu gehen und unser zweites Frühstück zu besorgen. Um unsere Ernährung variabel zu gestalten, kaufte ich ein Sortiment aus Hamburgern, Big Macs und Viertelpfündern mit Käse. Dazu erstand ich zwei verschieden große Portionen Pommes frites, Zwiebelringe und Cokes, die so groß waren, daß wir garantiert alle zwanzig Minuten pinkeln müßten. Außerdem nahm ich dreimal Kekse in Tierform in Schachteln mit schicken Henkeln aus Schnur mit, gedacht für diejenigen von uns, die brav ihren Teller leeraßen. Um zu demonstrieren, wie kultiviert wir waren, speisten wir, solange das Auto noch hinter dem Lokal auf dem Parkplatz stand, und bedienten uns dann der Sanitäranlagen, bevor wir uns wieder auf den Weg machten. Diesmal fuhr Ray, Laura wechselte auf den Beifahrersitz, und ich streckte mich hinten aus und machte ein Nickerchen.
Als ich aufwachte, hörte ich Ray und Laura leise miteinander reden. Irgendwie versetzte mich das Gemurmel zurück zu den Autofahrten meiner Kindheit, bei denen meine Eltern vorne saßen und unzusammenhängende Bemerkungen austauschten. Dabei habe ich vermutlich bereits lauschen gelernt. Ich hielt die Augen geschlossen und hörte ihrem Gespräch zu.
Ray sagte: »Ich weiß, daß ich dir kein Vater gewesen bin, aber ich würde es gern versuchen.«
»Ich habe einen Vater. Paul ist mir bereits ein Vater gewesen.«
»Vergiß ihn. Der Typ ist ein Scheißhaufen. Ich habe es dich selbst sagen hören.«
»Wann?«
»Letzte Nacht im Auto, als du mit Kinsey geredet hast. Du hast erzählt, er hätte dich in deiner Jugend in Grund und Boden kritisiert.«
»Genau. Ich hatte einen Vater. Wozu sollte ich also zwei brauchen?«
»Nenn’ es eine Beziehung. Ich möchte ein Teil deines Lebens sein.«
»Wozu?«
»Wozu} Was soll denn das für eine Frage sein? Du bist das einzige Kind, das ich habe. Wir sind Blutsverwandte.«
»Blutsverwandte? So ein Schrott.«
»Von wie vielen Menschen kannst du das sagen?«
»Zum Glück nicht von vielen«, sagte sie bissig.
»Vergiß es. Ganz wie du willst. Ich dränge mich dir nicht auf. Du kannst machen, was du willst.«
»Du brauchst nicht beleidigt zu sein. Es geht nicht um dich«, meinte sie. »So ist das Leben eben. Seien wir doch ehrlich. Ich habe nie etwas anderes von Männern bekommen als Kummer.«
»Danke für das Vertrauensvotum.«
Das Gespräch verstummte. Ich wartete einen angemessenen Zeitraum ab und gähnte dann hörbar, als erwachte ich gerade erst. Ich setzte mich auf dem Rücksitz auf und blinzelte in die Landschaft hinaus, die an den Autofenstern vorbeischwirrte. Die Sonne war herausgekommen, doch das Licht wirkte blaß. Ich sah von mattem Novembergrün überzogene Hügelketten. Das Gras war noch nicht abgestorben, aber sämtliche Laubbäume hatten bereits ihre Blätter verloren. Die kahlen Äste bildeten einen grauen Schleier, der sich dahinzog, so weit das Auge reichte. An manchen Stellen, an denen wir vorbeifuhren, erkannte ich Hemlocktannen und Kiefern. Ich malte mir aus, daß das Land im Sommer in einem intensiven Grün gefärbt und die Anhöhen dicht bewachsen wären. Ray beobachtete mich im Rückspiegel. »Sind Sie schon einmal in Kentucky gewesen?«
»Nein, nie«, antwortete ich. »Ist das hier nicht die Pferdegegend? Ich hatte blaues Gras und weiße Gatter erwartet.«
»Das ist eher bei Lexington, nordöstlich von hier. Die Gatter sind heutzutage schwarz. Drüben, im östlichen Teil des Staats, liegen die Kohlenreviere von Harlan County. Das hier ist West-Kentucky, wo der meiste Tabak angebaut wird.«
»Sie will keinen Reisebericht hören, Ray.«
»Doch, will ich«, sagte ich. Sie versetzte ihm ständig Seitenhiebe, was bei mir Beschützerinstinkte auslöste. Wenn sie die böse Tochter sein wollte, wäre ich eben die liebe. »Zeigen Sie es mir auf der Karte.«
Er wies auf eine Gegend nördlich der Grenze zu Tennessee, zwischen dem Barren River Lake und dem Nolan River Lake. »Wir sind soeben durch Bowling Green gefahren, und vor uns zur Linken kommt gleich der Mammoth Cave National Park. Wenn wir Zeit hätten, könnten wir die Führung mitmachen. Da ist es vielleicht dunkel, wenn man in die Höhlen hinuntersteigt und der Führer die Lichter ausmacht. Man sieht ums Verrecken nichts. Es ist schwärzer als schwarz und totenstill. Zwölf Grad. Wie in einer Großschlachterei. Bislang haben sie dreihundert Meilen Gänge gefunden. Das letzte Mal, daß ich dort war, war vermutlich 1932. Auf einem Wandertag mit der Schule. Hat mich schwer beeindruckt. Als ich im Knast saß, habe ich immer wieder daran gedacht. Verstehen Sie? Daß ich eines Tages wieder dorthin kommen und noch einmal die Führung mitmachen würde.«
Laura sah ihn befremdet an. »Daran hast du gedacht? Nicht an Frauen oder Whiskey oder schnelle Autos?«
»Ich wollte nichts als von der grellen Deckenbeleuchtung und dem Lärm wegkommen. Der Krach kann einen wahnsinnig machen. Und der Geruch. Das ist noch ein Punkt von Mam-moth Cave: Es riecht nach Moos und nassen Felsen. Nicht nach Schweiß und Testosteron. Es riecht wie das Leben vor der Geburt... wie heißt das Wort — primordial.«
»Mann, es tut mir richtig leid, daß ich so bald schon wieder nach Kalifornien zurück muß. Sie bringen mich echt auf den Geschmack«, sagte ich trocken.
Ray lächelte. »Sie machen Witze, aber es würde Ihnen gefallen. Garantiert.«
»Primordial?« wiederholte Laura ungläubig.
»Was, du wunderst dich, daß ich solche Wörter kenne? Ich habe meinen Schulabschluß nachgemacht. Ich habe sogar Collegekurse besucht. Wirtschaft und Psychologie und solchen Scheiß. Bloß weil ich im Gefängnis war, heißt das nicht, daß ich ein Idiot bin. Gibt ‘ne Menge schlauer Jungs im Knast. Du würdest staunen«, sagte er.
»Tatsächlich«, sagte sie, ohne überzeugt zu klingen.
»Ja, tatsächlich. Ich wette, ich kann besser mit einer Nähmaschine umgehen als du — und das ist nur der Anfang.«
»Dazu gehört nicht viel«, meinte sie.
»Das ist ja sehr aufbauend, hier zu sitzen und mit dir zu reden. Du weißt wirklich, wie du einem Menschen Selbstbewußtsein einflößen kannst.«
»Leck mich am Arsch.«
»Du bist doch diejenige, die sich darüber beklagt, daß ihr Stiefvater sie ständig niedermacht. Warum machst du es dann nicht besser und schaffst eine freundlichere Stimmung, anstatt dich genau wie er zu verhalten?«
Laura sagte nichts. Ray studierte ihr Profil und blickte schließlich wieder auf die Straße.
Das Schweigen dehnte sich beklemmend aus, und ich merkte, wie ich mich wand. »Wie weit ist es noch?«
»Ungefähr anderthalb Stunden. Wie geht’s Ihnen da hinten?«
»Mir geht’s gut«, sagte ich.
Wir kamen kurz vor zwölf Uhr mittags in Louisville an und näherten uns der Stadt auf dem Highway 65. Ich konnte den Flughafen zu unserer Linken sehen und hätte vor Sehnsucht beinahe gewinselt. Wir bogen auf einen anderen Highway in Richtung Westen ab und fuhren durch einen Stadtteil namens Shively, wobei wir am größten Teil des Geschäftsviertels in der Innenstadt vorbeikamen. Zu unserer Rechten konnte ich zahlreiche hohe Gebäude sehen, robuste Betonklötze, von denen die meisten viereckig zuliefen. Vor uns lag der Ohio, an dessen anderem Ufer man Indiana sehen konnte.
Wir fuhren in einem Viertel namens Portland ab. Hier war Ray Rawson aufgewachsen. Ich sah, wie sein Lächeln breiter wurde, als er die Gegend betrachtete. Er drehte sich halb zu mir um und schlang die Arme um die Sitzlehne. »Dort unten ist der Portland-Kanal. Die Schleusen sind vor hundert Jahren gebaut worden, um den Schiffsverkehr an den Wasserfällen vorbeizubringen. Mein Urgroßvater hat beim Bau mitgearbeitet. Ich führe Sie hin, wenn wir die Zeit dazu haben.«
Ich war mehr daran interessiert, einen Flug zu bekommen, als irgendwelche lokalen Sehenswürdigkeiten zu besichtigen, aber ich wußte, daß das Angebot seiner Begeisterung darüber entsprang, nach Hause zu kommen. Nachdem er den größten Teil der letzten fünfundvierzig Jahre inhaftiert gewesen war, fühlte er sich vermutlich wie Rip van Winkle, der sich über all die Veränderungen auf der ganzen Welt wundert. Es mochte ein Trost sein, daß sein gesamtes Viertel vom Lauf der Zeit unberührt geblieben zu sein schien. Die Straßen waren breit, und die Bäume trugen die letzten Überreste des Herbstlaubs. Die meisten waren bereits kahl, doch einen Block weiter konnte ich noch vereinzelte Farbtupfer an den Zweigen erkennen. In der Straße, auf die wir nach der Abfahrt vom Highway eingebogen waren, hatte man viele Vorderhäuser zu Geschäften umgewandelt: Schilder warben für eine Kindertagesstätte, einen Friseursalon und einen Anglerladen. Die Vorgärten waren gleichförmig klein und flach und voneinander durch Maschendrahtzäune mit klapperigen Toren getrennt. Herabgefallene Blätter, die aussahen wie braune Papierfetzen, verstopften die Dachrinnen und lagen auf den Gehwegen verstreut. Zehn und zwölf Jahre alte Autos parkten am Straßenrand. Ältere Modelle standen in Einfahrten und trugen »Zu verkaufen«-Schilder an den Windschutzscheiben. Es gab mehr Telefonmasten als Bäume, und die Drähte zogen sich kreuz und quer über die Straßen, wie Schnüre für Zelte, die noch nicht aufgestellt worden waren. Am Ende einer Seitenstraße konnte ich Eisenbahnwaggons auf einem Nebengleis stehen sehen.
Ich hätte Geld darauf verwettet, daß das Viertel seit den vierziger Jahren so aussah. Es gab keine Baustellen, keinen Hinweis darauf, daß irgendwelche Altbauten abgerissen worden waren. Büsche wucherten. Die Baumstämme waren massiv und verdunkelten Fenster und Veranden, wo einst die überhängenden Zweige lediglich Halbschatten gespendet hatten. Gehwege hatten sich aufgeworfen, von Wurzeln durchbrochen. Vierzig Jahre lang hatten die Unbilden des Wetters an manchen Häuserverkleidungen aus Asphalt genagt. Hier und da konnte ich frische Farbe erkennen, aber ich vermutete, daß sich in den Jahren, seit Ray hier gelebt hatte, nicht viel verändert hatte.
Als wir vor dem Haus seiner Mutter vorfuhren, senkte sich ein Gefühl der Bedrücktheit auf mich herab. Es war wie die tiefe, dröhnende Note in der Partitur für einen Horrorfilm, der Mollakkord, der eine dunkle Gestalt im Wasser ankündigt oder etwas Unbekanntes, das in den Schatten hinter der Kellertür lauert. Das Gefühl war vermutlich nichts als eine simple Depression, gewachsen aus geliehenen Kleidern, schlechtem Essen und unregelmäßigem Schlaf. Woher es auch immer stammte, ich wußte, daß es noch Stunden dauern würde, bis ich mich in ein Flugzeug nach Kalifornien setzen konnte.
Laura stellte den Motor des Mietwagens ab und stieg aus. Ray kam auf seiner Seite heraus und musterte staunend die Fassade des Hauses. Ich hatte keine andere Wahl, als mich zu ihnen zu gesellen. Ich fühlte mich wie eine Gefangene und machte eine vorübergehende Klaustrophobie durch, die so ausgeprägt war, daß meine Haut zu jucken begann.