17
Gilbert trug den Stetson nicht mehr. Sein Haar war zerzaust und wies immer noch dort die leichte Einkerbung auf, wo der Hut gesessen hatte. Seine blaßblaue Jeansjacke war mit Schaffell gefüttert, das an manchen Stellen dunkelrot durchtränkt und steif war. »Maria läßt schön grüßen. Sie wäre ja mitgekommen, nur hat sie sich nicht so wohl gefühlt.«
Bei der Anspielung auf ihre Mutter begann Laura zu weinen. Sie gab keinerlei Geräusch von sich, aber ihr Gesicht wurde fleckig und rot, und in ihren Augen wallten die Tränen auf. Dann stieß sie hinten aus der Kehle ein kaum unterdrücktes quiekendes Geräusch aus und sank auf einen Stuhl.
»He. Steh auf und halt deine Hände so, daß ich sie sehen kann.«
Die Pistole in seiner Hand ermunterte zum Gehorsam. Ich würde gewiß nicht mit ihm streiten. Laura erhob sich langsam und ohne ihn anzusehen. Sie atmete deutlich hörbar aus, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. Sie hatte uns das mit all ihren unüberlegten Entscheidungen eingebrockt. Sie war das Risiko eingegangen, und wir alle würden nun dafür bezahlen. Ich sah jeden einzelnen im Raum überdeutlich: Ray hatte seine Jacke an und die Autoschlüssel in der Hand. Er hatte es geschafft, seine Mutter in einen Mantel zu zwängen. Sie stand dicht neben ihrem Stuhl am Tisch, mit erhobenen Händen und in ihre Wollsachen verpackt wie ein Kind an einem verschneiten Tag. Fünf Minuten mehr, und wir wären wohl weg gewesen. Gilbert mußte uns natürlich einige Zeit belauscht haben, und so spielte es vermutlich keine Rolle. Die Tatsache, daß wir mittlerweile alle die Hände in die Luft hielten, gab der Szene einen leicht komischen Touch. Es sah aus, als hätte man uns mitten in einem Spiritual erwischt, während wir alle mit den Händen gen Himmel winkten. In einem Western wäre jemand auf Gilbert losgegangen und hätte nach der Pistole gegriffen. Hier nicht. Ich hielt den Blick auf sein Gesicht gerichtet und versuchte, seine Absichten zu ergründen. Helens Blick wanderte im Raum umher, ließ sich nirgends nieder, sondern schweifte durch den grauen Nebel mit seinen regungslosen, dunklen Figuren. Ich dachte, sie wäre verwirrt oder aufgeregt, doch sie sagte nichts, da sie womöglich spürte, daß der Situation mit Fragen nicht gedient wäre. Sie bebte nahezu unmerklich, so wie ein Hund zittert, wenn er vor dem Kupieren auf dem Tisch steht.
Die Luft roch nach gebratenen Schweinekoteletts und Milchsoße. Die Überreste des Mahls lagen auf den Tellern, und in der Spüle stapelten sich die Kochtöpfe. Vielleicht würde Freida Green in ein paar Tagen vorbeikommen und aufräumen... nachdem die Tatortabsperrung entfernt und die Versiegelung des Hauses wieder aufgehoben war.
Gilbert hielt die Pistole in der rechten Hand und griff mit der linken in seine Jackentasche, aus der er eine Rolle Isolierband herausholte. »Paßt mal auf, was wir machen«, sagte er im Plauderton. »Ray, setz dich doch einfach auf diesen Stuhl. Laura wird dich mit Isolierband festbinden. He, he, he, Babe. Verdammt noch mal. Hör auf zu heulen. Bis jetzt ist noch nichts passiert. Ich versuche nur, alles unter Kontrolle zu halten. Ich will nicht, daß sich irgendwer auf mich stürzt. Will ja nicht, daß diese Pistole losgeht, sonst wird womöglich noch irgendwer verletzt. Grammy sieht bestimmt nicht mehr so toll aus mit einem Loch im Kopf, aus dem das ganze Hirn herausquillt, oder Ray mit einem riesengroßen Loch in der Brust. Nun kommt schon. Helft mir, einfach um zu zeigen, daß ihr mich noch gern habt.«
Er warf die Rolle silberfarbenen Isolierbandes Laura zu, die es im Flug auffing. Sie schien wie erstarrt und stand regungslos da, während die Sekunden verstrichen. »Gilbert, ich bitte dich —«
»Bind ihn fest!«
Ich fuhr unter seinem plötzlichen Brüllen zusammen. Laura zuckte nicht mit der Wimper, aber ich sah, daß sie sich nun in Bewegung setzte und durch den Raum auf Ray zuging. Langsam und mit nach wie vor erhobenen Händen ließ sich Ray auf den Stuhl gleiten, den ihm Gilbert zugewiesen hatte. Laura weinte so heftig, daß ich mir nicht einmal sicher war, ob sie sehen konnte, was sie tat. Die Tränen wuschen ihr das Make-up von den Wangen und brachten die alten Verletzungen zum Vorschein wie eine Grundierung. Strähnen roten Haares hatten sich gelöst und schwangen ihr ums Gesicht.
Gilbert konzentrierte sich nun auf Ray. »Wenn du irgendwelchen Ärger machst, lege ich sie um«, sagte er.
Ray sagte: »Tu’s nicht. Bleib ruhig. Ich mache mit.«
Gilbert warf mir einen Blick zu. »Wollen Sie mir nicht die Schlüssel geben? Ich wäre Ihnen dankbar.«
Ich griff nach den Schlüsseln, die immer noch auf dem Küchentisch lagen. Es war mir zuwider, sie herzugeben, aber mir fiel keine andere Lösung ein. Ich legte sie auf Gilberts Handfläche. Er beäugte sie kurz und steckte sie dann in seine Jackentasche.
Ray sagte: »Hör mal, Gilbert. Das ist eine alte Geschichte. Sie hat nichts mit diesen dreien zu tun. Du kannst mit mir machen, was du willst, aber laß sie aus dem Spiel.«
»Ich weiß, daß ich machen kann, was ich will. Ich tue es ja bereits. Die beiden sind mir völlig egal, die alte Schachtel und die da«, sagte er mit einem Wink auf mich. »Aber mit ihr muß ich noch abrechnen. Sie ist mir davongelaufen.« Er sah zu Laura hinüber und runzelte die Stirn. »Könntest du jetzt mal mit diesem Isolierband anfangen, wie ich gesagt habe?«
»Gilbert, bitte tu das nicht. Bitte.«
»Würdest du gefälligst damit aufhören? Ich tue doch überhaupt nichts«, sagte er gereizt. »Was tue ich denn? Ich stehe nur hier und rede mit deinem Dad. Los jetzt, tu, was ich dir gesagt habe. Ray versucht bestimmt keine krummen Touren.«
»Können wir nicht einfach gehen? Uns ins Auto setzen und wegfahren, nur wir beide?«
»Du bist noch nicht fertig. Du hast noch nicht einmal angefangen«, sagte Gilbert. Er begann ärgerlich zu klingen — kein gutes Zeichen.
Rays Miene war milde, als er Laura ansah. »Ist schon okay, Liebes. Mach nur, was er sagt. Sorgen wir dafür, daß alle hier die Ruhe bewahren.«
Gilbert lächelte. »Ganz meiner Meinung. Bleibt alle ganz ruhig. Ich will, daß seine Knöchel an die Stuhlbeine gefesselt werden. Und seine Hände möchte ich hinter ihm haben, bind sie nur schön zusammen. Ich werde dich kontrollieren, also bilde dir bloß nicht ein, du könntest so tun, als würdest du ihn fesseln und es dann nicht richtig machen. Ich hasse es, wenn jemand versucht, mich zum Narren zu halten. Du weißt ja, wie ich bin. Putz dir die Nase und hör auf zu heulen.«
Laura kramte in ihrer Tasche herum, zog ein Papiertaschentuch hervor und tat, wie er sie geheißen hatte. Sie steckte es wieder weg und zog ein Stück Isolierband ab, dessen Klebefläche dabei ein reißendes Geräusch verursachte. Dann begann sie das Band um Rays linken Knöchel zu wickeln, indem sie zuerst die Hose um sein Schienbein faltete und anschließend das Band in mehreren Schichten um das Stuhlbein wand.
»Ich will das fest haben. Wenn du es nicht fest genug machst, schieße ich ihm ins Bein.«
»Ich mache es fest!« Sie funkelte Gilbert an, und einen Moment lang stand nichts als Zorn anstelle von Furcht in ihren Augen.
Es schien ihm zu gefallen, daß er sie aufgebracht hatte. Ein leises Lächeln zog sich über sein Gesicht. »Was soll dieser Blick?«
»Wo ist Farley?« fragte sie düster.
»Ach, der. Ich habe ihn in Kalifornien gelassen. Er hat sich zu einem richtig nutzlosen Drecksack entwickelt. Nichts als Jammern und Nörgeln. Sowas widert mich wirklich an. Es war nämlich so: Der Typ hat dich verpfiffen. Ehrlich wahr. Er hat dich verraten. Farley hat mir alles erzählt, weil er seine eigene Haut retten wollte. Ich bewundere sowas nicht. Ich finde es ekelhaft.« Er schob sich seitwärts zu dem Stuhl hinüber, auf dem Ray saß. Dabei behielt er uns alle genau im Auge, um sicherzugehen, daß sich niemand bewegte, während er sich neben den Stuhl hockte und das Band kontrollierte. Dann stand er auf, offenbar zufrieden mit ihrer Arbeit. »Wenn du mit ihm fertig bist, kannst du mit ihr weitermachen«, sagte er und meinte mich.
Sie riß ein weiteres Stück Isolierband ab und begann, Rays linkes Bein am Stuhl festzubinden. »Was hast du mit ihm gemacht?« fragte sie.
Gilbert stand wieder aufrecht und trat zwei Schritte zurück. »Was ich gemacht habe? Wir reden nicht davon, was ich gemacht habe. Ich habe gar nichts gemacht. Es geht darum, was du gemacht hast. Du hast mich verraten, Baby. Wie oft habe ich dir das gesagt? Du lernst es nie, oder? Ich versuche — weiß Gott, ich versuche es wirklich — dir klarzumachen, was ich erwarte.«
»Farley ist tot?«
»Ja, das ist er«, sagte Gilbert feierlich. »Es tut mir leid, daß ich derjenige sein muß, der es dir sagt.«
»Er war dein Neffe. Dein eigenes Fleisch und Blut.«
»Was hat denn das damit zu tun? Das zieht ja nun wirklich nicht. Fleisch und Blut bedeuten einen Scheißdreck. Es geht um Loyalität. Ist dieser einfache Begriff für dich so schwer zu begreifen? Hör mal, ich sage dir etwas. Du kannst mir nicht die Schuld daran geben. Wenn irgend jemand verletzt wird, geht das auf dein Konto, nicht auf meines. Wie oft habe ich dir gesagt, daß du zu tun hast, was ich dir sage. Wenn du mir nicht gehorchen willst, kann ich auch nicht die Verantwortung tragen.«
»Ich tue ja, was du gesagt hast. In welcher Hinsicht tue ich nicht, was du gesagt hast?«
»Das meine ich nicht. Ich meine das Geld. Ich meine Rio. Kommst du jetzt mit? Genau. Du bist nicht nach Rio geflogen, wie du es hättest tun sollen, und jetzt schau nur, was wegen deines Benehmens alles schiefgegangen ist. Farley... na ja, sei’s drum. Ich denke, wir haben genug über ihn gesagt.«
Helen meldete sich zu Wort. Wie ich war sie verbissen mit den Händen in der Luft dagestanden. »Junger Mann. Ich wüßte gern, ob ich diesen Mantel ausziehen und mich hinsetzen kann.«
Gilbert runzelte von der Unterbrechung verärgert die Stirn. Es war offenkundig, daß es ihm Spaß machte, sich aufzuregen, sich im Recht zu fühlen und auf die vielen Punkte hinzuweisen, in denen andere die Schuld trugen. Helen sah ihn nicht an. Ihr Blick war auf einen Punkt zu seiner Rechten fixiert, wo sie offensichtlich den Türpfosten mit ihm verwechselte. Gilbert war vorübergehend abgelenkt, von ihrem Irrtum belustigt. Er schwenkte die Arme. »He, hier drüben, Süße. Sie sehen wohl nicht so besonders gut. Sie haben mich mit einem Kleiderständer verwechselt.«
»Ich sehe gut genug. Es sind meine Füße, die nicht mehr wollen«, sagte sie. »Ich bin fünfundachtzig Jahre alt.«
»Stimmt das? Da werden die Arme lahm, was?«
Helen sagte nichts. Ihr wäßriger Blick schweifte umher. Ich spähte auf der Suche nach einer Waffe im Raum umher und versuchte, einen Plan zu schmieden. Ich wollte die anderen nicht noch mehr gefährden. Seine Absichten schienen unzweifelhaft. Einer nach dem anderen würden wir gefesselt und geknebelt werden, woraufhin er uns umbringen würde, aber was konnten wir schon tun? Ich stand näher bei ihm als Laura, aber wenn ich versuchte, mich auf ihn zu stürzen, drehte er womöglich durch und feuerte los. Ich mußte bald etwas unternehmen, aber ich wollte nicht waghalsig sein, indem ich wie eine Heldin agierte, wenn uns das in eine noch schlechtere Lage bringen könnte als die, in der wir ohnehin schon steckten.
»Ich setze mich hin. Sie können mich ja erschießen, wenn es Ihnen nicht paßt«, sagte Helen.
Gilbert gestikulierte mit der Pistole. »Setzen Sie sich genau dorthin, wo Sie sind. Sie können die Hände für den Moment herunternehmen, aber fassen Sie nichts auf dem Tisch an.«
Sie sagte: »Danke.« Dann stützte sie die Hände auf den Tisch und ließ sich schwer auf den Stuhl sinken. Sie schüttelte ihren Mantel ab. Ich konnte sehen, wie sie vorsichtig die Finger streckte, um die Blutzirkulation wieder in Gang zu bringen, bevor sie die Hände in den Schoß legte.
Gilbert reckte sich, damit er Lauras Vorgehen beobachten konnte, als sie die Hände ihres Vaters mit Isolierband fesselte. Rays Arme befanden sich hinter seinem Körper. Damit seine Handgelenke sich hinter dem hölzernen Stuhl trafen, mußte er sich leicht nach vorn beugen und die Schultern zusammenziehen.
Gilbert schien Rays unbequeme Stellung zu genießen. »Wo ist der Bauchgurt?« fragte er Laura.
»Im anderen Zimmer.«
»Wenn du damit fertig bist, bringst du ihn hierher, damit wir sehen können, was wir da haben.«
»Ich dachte, du hättest gesagt, ich solle sie fesseln.«
»Hol erst den Bauchgurt und feßle sie dann, du verfluchte Idiotin«, sagte er.
»Es sind nur achttausend Dollar. Du hast von einer Million gesprochen«, sagte sie gereizt. Sie legte die Rolle Isolierband beiseite und ging ins andere Zimmer. Ich für mein Teil hätte es nicht gewagt, ihm gegenüber einen solchen Ton anzuschlagen. Gilbert wirkte nicht erstaunt, was das Geld anging, und so mußte ich annehmen, daß Farley ihm neben allem anderen auch von den acht Riesen erzählt hatte.
Laura kehrte mit dem Gurt in der Hand zurück. Er nahm ihr ihn ab und legte ihn auf die Arbeitsfläche hinter sich. Dann warf er einen Blick auf seinen Inhalt und musterte die Geldbündel. Sein Blick wanderte zu Ray. »Wo ist das restliche Geld? Wo ist der ganze Schmuck und die Münzsammlungen?«
»Ich weiß es nicht. Ich kann wirklich nicht beschwören, daß irgend etwas übrig ist«, sagte Ray.
Gilbert schloß die Augen. Langsam ging ihm die Geduld aus. »Ray, ich war dabei, weißt du noch? Ich habe euch dabei geholfen, all das Bargeld und den Schmuck herauszuschleppen. Was ist mit den Diamanten und den Münzen? Da drinnen lagerte ein Vermögen; es müssen mindestens zwei Millionen gewesen sein, und Johnny hatte es todsicher nicht bei sich, als er gefaßt wurde.«
»He, ich will mich nicht mit dir anlegen, aber du warst siebzehn Jahre alt. Keiner von uns hatte je eine Million Mäuse zu Gesicht bekommen, geschweige denn zwei. Wir haben wirklich keine Ahnung, wieviel es war, da wir nie dazu gekommen sind, es zu zählen, und das ist die Wahrheit«, erklärte Ray.
»Es war verteufelt viel mehr als das hier. Sieben oder acht große Säcke. So eine Beute hat sich nicht einfach in Luft aufgelöst. Dieser Mistkerl muß sie versteckt haben. Aber wo?«
»Da kann ich auch nur raten. Deshalb bin ich ja hier. Um zu versuchen, es herauszufinden.«
»Er hat es dir nicht gesagt?«
»Ich schwöre bei Gott, das hat er nicht. Er wußte, daß er sich auf sich selbst verlassen konnte, aber ich schätze, bei mir war er sich da nicht so sicher.«
Ich meldete mich zu Wort und sah Ray an. »Woher wollen Sie wissen, daß er es nicht ausgegeben hat?«
»Das ist natürlich möglich«, meinte er. »Ich weiß, daß er meiner Ma Geld geschickt hat. Das haben wir von vornherein vereinbart.«
»Er hat was?« sagte Gilbert. Er wandte sich zu Helen. »Stimmt das?«
»Ach Gott, ja«, sagte sie selbstzufrieden. »Ich habe jeden Monat seit neunzehnhundertvierundvierzig eine Zahlungsanweisung von fünfhundert Dollar bekommen. Allerdings hat das vor ein paar Monaten aufgehört. Im Juli oder August, soweit ich mich erinnere.«
»Seit 1944? Ich fasse es nicht. Wieviel hat er geschickt? Fünfhundert im Monat? Das ist ja lächerlich«, sagte Gilbert.
»Zweihundertsechsundvierzigtausend Dollar«, warf Ray ein. »Ich habe in der FCI Ashland Oberstufen-Mathe belegt. Du solltest den Laden selbst mal ausprobieren, Gilbert. Deine Grundkenntnisse aufpolieren. Wortschatz, Grammatik...«
Gilbert hing immer noch an Johnnys Verschleudertaktik fest. »Du verarschst mich doch. Johnny Lee hat dieser alten Schachtel zweihundertsechsundvierzigtausend Dollar geschenkt? Ich fasse es nicht. Das ist ja kriminell.«
»Ich habe darüber Buch geführt, wenn Sie es sehen möchten. Es ist ein kleines, rotes Notizbuch in der Schublade dort drüben«, sagte Helen und wies mit zitternden Fingern in die ungefähre Richtung der Schublade, wo sie auch Rays Post aufbewahrt hatte.
Gilbert ging zu der Schublade hinüber, riß sie auf und wühlte den Haufen Krimskrams ungeduldig durch. Dann zog er die Schublade ganz heraus und warf ihren Inhalt auf die Erde. Er griff nach unten, hob ein kleines, rotes Notizbuch mit Spiralheftung auf und blätterte es mit der linken Hand durch, während er in der rechten nach wie vor die Pistole hielt. Sogar von meinem Standort aus konnte ich Spalte über Spalte sehen, Datumsangaben und gekritzelt aussehende Zahlen, die sich schief über eine Seite nach der anderen zogen. »Dieser Dreckskerl!« fauchte Gilbert. »Wie konnte er das nur tun, einfach das Geld herschenken?« Er warf das Notizbuch auf den Küchentisch, wo es in der Schüssel mit den geschmorten Tomaten landete.
Nun war es an Ray, die Situation zu genießen. Er war zwar nicht so unvorsichtig, daß er gelächelt hätte, aber sein Tonfall verriet seine Zufriedenheit. »Der Knabe hat auch fünfhundert für sich behalten, also was ergibt das dann? Nach einundvierzig Jahren macht das eine Gesamtsumme von vierhundertzweiundneunzigtausend Dollar«, sagte Ray. »Rechne es selbst nach. Wenn wir eine halbe Million Mäuse davongekarrt haben, bleiben damit ziemlich genau acht Riesen übrig.«
Gilbert ging zu Ray hinüber und stieß ihm den Pistolenlauf brutal unters Kinn. »Verdammt noch mal! Ich weiß, daß es mehr war, und ich will es haben! Ich puste dir deinen verfluchten Kopf noch in dieser Minute weg, wenn du es nicht ausspuckst.«
»Mich umzubringen, hilft dir auch nichts. Wenn du mich umbringst, hast du überhaupt keine Chance«, sagte Ray ungerührt. »Vielleicht kann ich es finden, wenn noch etwas übrig ist. Ich weiß, wie Johnnys Hirn funktioniert hat. Du hast keine Ahnung, wie er seine Angelegenheiten zu regeln pflegte.«
»Ich habe die Sockelleiste gefunden, oder nicht?«
»Nur weil ich es dir verraten habe. Du hättest sie nie gefunden ohne mich«, sagte Ray.
Gilbert nahm mit düsterem Gesicht die Pistole beiseite. Seine Bewegungen wirkten aufgeregt. »Hör zu, es läuft folgendermaßen. Ich nehme Laura mit. Du läßt dir besser bis morgen etwas einfallen, sonst ist sie tot, kapiert?«
»He, komm schon. Sei vernünftig. Ich brauche Zeit«, sagte Ray.
»Morgen.«
»Ich tue, was ich kann, aber ich kann nichts versprechen.«
»Tja, ich schon. Du besorgst diese Kohle, oder sie ist ein totes Stück Fleisch.«
»Wie soll ich dich denn finden?«
»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf. Ich finde dich«, sagte Gilbert.
Helen zog eine Grimasse und rieb sich eine knotige Hand mit der anderen.
»Was haben Sie denn?«
»Meine Arthritis plagt mich wieder. Ich habe Schmerzen.«
»Soll ich das in Ordnung bringen«, sagte er und wedelte mit seiner Pistole. Er wandte sich wieder zu Ray. Helen hob die Hand, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.
»Was?«
»Jetzt bin ich schon zu lange gesessen. Das Dumme am Altwerden ist, daß man nichts länger als fünf Minuten tun kann. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich mich ein bißchen hinstelle.«
»Verdammt noch mal, altes Weib. Die ganze Zeit stehen Sie auf und setzen sich wieder hin.«
Helen lachte, da sie seinen mörderischen Zorn offenbar mit schlechter Laune verwechselte. Ich spürte, wie in mir eine Blase der Verzweiflung an die Oberfläche stieg. Vielleicht war sie zu allem Überfluß auch noch senil. Er würde sie ohne zu zögern umbringen — uns alle — , aber das schien sie nicht zu »kapieren«. Seine Drohungen glitten über sie hinweg. Vielleicht war es ganz gut so. Wer konnte in ihrem Alter schon Angst von solchen Ausmaßen ertragen? Allein die Furcht könnte sie in einen Herzinfarkt treiben. Mich übrigens auch.
Gilbert wies mit der Pistole in ihre Richtung. »Sie können aufstehen, aber benehmen Sie sich«, sagte er. »Ich will nicht, daß Sie hier rauslaufen und versuchen, Hilfe herbeizuholen.« Sein Tonfall verlagerte sich, als er mit ihr sprach, und wurde nahezu kokett. »Gönnerhaft«, wäre ein anderer Ausdruck, aber Helen schien das nicht aufzufallen.
Sie winkte gelangweilt ab. »Die Zeiten, als ich das noch konnte, sind vorbei. Außerdem brauchen Sie sich nicht meinetwegen Sorgen zu machen, sondern wegen meiner Freundin Freida Green.«
Wenigstens hatte sie seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Ich konnte sehen, wie er ein Lächeln unterdrückte und so tat, als nähme er sie ernst. »Oh-oh. Wer ist denn diese Freida Green, eine Art Krawallmacherin?«
»Ja, das ist sie. Ich übrigens auch. Mein verstorbener Mann hat mich immer Hell on Wheels genannt. Kapieren Sie? >Hell on< — das klingt wie Helen.«
»Hab’s kapiert, Granny. Wer ist denn Freida? Kann es passieren, daß sie unangemeldet hier hereinplatzt?«
»Freida ist meine Nachbarin. Sie wohnt zwei Häuser weiter mit ihrer Freundin Minnie Paxton, aber sie sind momentan verreist. Hat zwar nie jemand direkt gesagt, aber ich glaube, die beiden sind ineinander verliebt. Auf jeden Fall hatten wir hier vor etwa vier Monaten eine Einbruchsepidemie. So haben sie das nämlich genannt, eine >Epidemie<, als wäre es eine Krankheit. Zwei nette Polizisten sind in unser Viertel gekommen und haben uns etwas über Selbstverteidigung erzählt. Minnie hat gelernt, richtig fest seitlich auszuschlagen, aber Freida ist flach auf den Rücken gefallen, als sie es versucht hat.«
Ray sah mich durchdringend an, aber ich konnte nicht herauslesen, was er ausdrücken wollte. Vermutlich simple Verzweiflung angesichts der Banalität ihres Wortwechsels.
Gilbert lachte: »Herrgott, das hätte ich gern gesehen. Wie alt ist denn diese alte Schachtel?«
»Mal überlegen. Ich glaube, Freida ist einunddreißig. Minnie ist zwei Jahre jünger und viel besser in Form. Freida hat sich das Steißbein gebrochen und ist stocksauer geworden. Huu! Hat gesagt, es müsse ja wohl noch bessere Methoden der Verbrechensbekämpfung geben, als einen Kerl in die Kniescheibe zu treten.«
Gilbert schüttelte skeptisch den Kopf. »Ich weiß nicht. Jemandem die Kniescheibe zu brechen, das kann echt weh tun«, sagte er.
»Ja, stimmt«, meinte Helen, »aber dazu muß man nahe genug herankommen, was nicht immer einfach ist. Und mein Gleichgewichtssinn ist auch nicht mehr der beste.«
»Freidas Gleichgewichtssinn auch nicht, nach dem, was Sie erzählen. Was hat sie denn dann vorgeschlagen?«
»Sie hat vorgeschlagen, daß sich jeder von uns ein Gestell baut und unter die Tischplatte schraubt, in dem man eine geladene Flinte bereithalten kann, so wie die hier.« Helen drehte sich leicht zur Seite, als sie aufstand. Sie trat einen großen Schritt vom Tisch weg und zog eine doppelläufige 12-Kaliber-Schrot-flinte mit 66-Zentimeter-Läufen hervor. Sie klemmte sich den Kolben zwischen Oberarm und Rumpf und stützte ihn auf der Hüfte ab. Wir vier starrten sie allesamt an, gefesselt vom Anblick einer so sperrigen Flinte in den Händen einer Person, die noch eine Nanosekunde vorher so harmlos und begriffsstutzig gewirkt hatte. Die Wirkung wurde leider von den Gegebenheiten des Alters unterminiert. Wegen ihrer schlechten Augen zielte sie auf den Fensterrahmen anstatt auf Gilbert, was ihm nicht entging. Er verzog das Gesicht und sagte: »Hoppla! Legen Sie lieber die Knarre weg!«
»Legen Sie Ihre Knarre weg, bevor ich Sie ins Jenseits befördere«, drohte sie. Sie stellte sich mit dem Rücken an die Wand, ganz bei der Sache, abgesehen von dem Problem mit ihrer Zielsicherheit, das beträchtlich war. Das schwere Fleisch an ihren Oberarmen zitterte, und es war offensichtlich, daß sie den Lauf kaum halten konnte, selbst wenn er in die falsche Richtung zielte. Ich merkte, wie mein Herz zu hämmern begann. Ich rechnete damit, daß Gilbert zu schießen begänne, doch er nahm sie anscheinend nicht ernst.
»Die Flinte ist ganz schön schwer. Sind Sie sicher, daß Sie sie halten können?«
»Kurzfristig«, antwortete sie.
»Was wiegt sie denn, sechs oder sieben Pfund? Klingt nicht nach viel, wenn man sie nicht lang haaalten muß.« Er zog das Wort »halten« in die Länge, damit es ermüdend klang. Ich wurde allein vom Hören schon müde, aber Helen schien ungerührt.
»Ich schieße lange bevor mir die Arme lahm werden auf Sie. Für mich ist es ein Gebot der Fairneß, Sie zu warnen. Der eine Lauf ist mit Vogeldunst Nummer neun geladen. Im anderen ist Doppelnull-Rehposten, der pustet Ihnen glatt das Gesicht weg.«
Gilbert lachte erneut. Er schien von der Art der alten Frau ehrlich amüsiert zu sein. »Mein Gott, Hell on. Das ist aber nicht nett. Und was ist mit Ihrer Arthritis? Ich dachte, Sie hätten so schwere Arthritis.«
»Habe ich auch. Das stimmt schon. Außer an dem einen Finger. Passen Sie auf.« Helen verlagerte die Flinte zur linken Seite, zielte auf ihn und drückte den Abzug. Ka-blast! Ich sah ein paar grellgelbe Funken. Die Detonation war ohrenbetäubend und erfüllte den ganzen Raum. Eine Druckwelle aus Luft und Gas strömte aus der Mündung, gefolgt von einer schwarzen Rauchwolke. Die Ladung Vogelschrot jagte an seinem linken Ohr vorüber, zog an ihm vorbei nach oben und zerschmetterte das Küchenfenster. Vereinzelte Schrotkügelchen rissen ihm das Ohrläppchen und die Oberkante seiner Schulter auf, während die auseinanderlaufenden Strahlen der Schrotladung ihm den Hals aufschürften und mit Blut bemalten. Laura schrie und warf sich auf die Erde. Ich war noch vor ihr unten. Ray kippte vor Verblüffung mitsamt seinem Stuhl seitlich um. Gilbert schrie vor Schmerz und Unglauben auf und riß die Hände nach oben. Seine Pistole flog nach vorn und schlitterte über den Boden.
Die Erschütterung der Mündung hatte Helen an die Wand zurückgeschleudert, und der Gewehrkolben schlug gegen ihre rechte Hüfte, als die Läufe durch den Rückstoß nach oben schnellten. Sie faßte sich und ließ das Gewehr wieder sinken, schußbereit. Gilberts rechte Wange war bereits rot gesprenkelt wie von einem plötzlichen Akneausschlag, und Blut sickerte in das Haar über seinem rechten Ohr. Die Luft roch beißend, und ich hatte mit einem Mal einen süßlichen Geschmack im Rachen.
»Diesmal puste ich Ihnen den Kopf weg«, sagte sie.
Gilbert stieß ein wildes, kehliges Geräusch aus, griff nach unten und packte Laura bei den Haaren. Er zerrte sie auf die Füße und preßte sie gegen sich, während er sich herunterbeugte und sich mit der anderen Hand den Geldgurt schnappte.
Noch immer auf der Erde, reckte Ray den Hals, um zu sehen, was vor sich ging. »Ma, nicht schießen!«
»Wenn Sie abdrücken, ist sie tot. Ich breche ihr das Genick«, sagte Gilbert. Er hatte offensichtlich Schmerzen und atmete schwer, nun nicht mehr bewaffnet, aber immer noch unberechenbar. Er hatte seinen Unterarm unter Lauras Kinn geklemmt, so daß sie gezwungen war, dicht bei ihm zu bleiben, während sie die Knie beugte, um nicht erwürgt zu werden. Gilbert begann langsam rückwärts aus der Küche und ins Eßzimmer zu gehen. Laura stolperte rückwärts mit, die Füße nur halb auf dem Boden.
Helen zögerte, zweifellos durcheinander angesichts des Gewirrs aus Geräuschen und Formen.
Gilbert verschwand im Eßzimmer und pflügte sich rückwärts durch die Berge von Sperrmüll. Laura stieß eine Reihe ächzender Geräusche aus, da sie angesichts ihrer abgedrückten Luftröhre nicht sprechen konnte. Ich konnte ein Krachen und dann das Zerbrechen von Glas hören, als er die Haustür auftrat. Dann Stille.
Ich schwankte zwischen dem Wunsch, Gilbert nachzusetzen, und dem Bedürfnis, Helen zu helfen, da sie zitterte und leichenblaß war. Sie ließ den Gewehrlauf sinken und fiel ermattet auf ihren Stuhl. »Was ist denn los? Wohin ist er gegangen?«
»Er hat Laura bei sich. Beruhige dich. Alles wird gut«, sagte Ray. Er war immer noch auf dem Boden, lag seitlich in seinem Stuhl und kämpfte sich aus den Fesseln. Ich kroch zu ihm hinüber und versuchte ihm dabei zu helfen, sich aufzurichten, aber mitsamt dem sperrigen Stuhl war er für mich zu schwer, um ihn aufzuheben. Ich schnappte mir ein Fleischmesser von der Arbeitsfläche und durchtrennte die Schichten von Isolierband, die seine Hände und Füße fesselten. Als er eine Hand frei hatte, begann Ray den Rest des Klebebandes selbst abzuziehen. Seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich immer noch auf seine Mutter. »Helfen Sie mir hier mal«, grunzte er mir zu.
»Was wird er ihr antun?«
»Nichts, bis er das Geld hat. Sie ist seine Versicherung.« Ich ergriff seine Hand und nahm alle meine Kräfte zusammen, während er sich vom Boden hochzog. Er sah mich kurz an. »Alles in Ordnung?«
»Mir fehlt nichts«, sagte ich. Wir richteten beide unsere Aufmerksamkeit auf Helen.
Die Schrotflinte lag quer über ihrem Schoß. Ich ging zu ihr hinüber, hob das Gewehr auf und legte es auf den Küchentisch. Ihre Schultern waren zusammengesunken, ihre Hände zitterten heftig, und ihr Atem ging flach und abgehackt. Vermutlich hatte sie einen Bluterguß an der Hüfte, wo der Gewehrkolben sie gestoßen hatte. Sie hatte alle ihre Energiereserven aufgebraucht, und ich fürchtete schon, sie würde einen Schock erleiden. »Ich hätte ihn umbringen sollen. Die arme Laura. Ich konnte mich nicht dazu überwinden, aber ich hätte es tun sollen.«
Ray griff nach einem Stuhl und zog ihn näher zu seiner Mutter heran. Er nahm ihre Hand, tätschelte sie behutsam und fragte dann mit sanfter Stimme: »Wie fühlst du dich denn, Hell on Wheels?«
»Mir geht’s gleich wieder gut. Ich muß nur ein bißchen verschnaufen«, antwortete sie. Sie klopfte sich gegen die Brust und versuchte sich zu sammeln. »Ich bin nicht ganz so schwachsinnig, wie ich mich benommen habe.«
»Ich habe einfach nicht begriffen, was du vorhattest«, sagte er. »Ich kann es nicht fassen, daß du das getan hast. Als du angefangen hast, mit ihm zu reden, hielt ich das alles für Blödsinn, bis du diese Schrotflinte hervorgeholt hast. Du warst phantastisch. Vollkommen furchtlos.«
Helen winkte ab, schien aber mit sich selbst zufrieden und von seinem Lob angetan zu sein. »Nur weil man alt wird, heißt das noch lange nicht, daß man die Nerven verliert.«
»Ich dachte, Sie hätten Probleme mit den Augen«, sagte ich. »Woher wußten Sie, wo er stand?«
»Er stand direkt vor dem Küchenfenster, und so konnte ich seine Gestalt ausmachen. Ich mag ja fast blind sein, aber meine Ohren funktionieren noch. Er hätte nicht so viel reden sollen. Freida hat mich dazu überredet, Gewichtheben zu trainieren, und mittlerweile kann ich fünfundzwanzig Pfund drücken. Habt ihr gehört, was er gesagt hat? Er hat sich eingebildet, ich könne nicht einmal eine Schrotflinte von sieben Pfund halten. Das hat mich beleidigt. Die Alten in ein Klischee zwängen. Das ist der typische Macho-Scheiß«, erklärte sie. Sie preßte sich die Finger auf die Lippen. »Ich glaube, jetzt wird mir schlecht. Ach du liebe Zeit.«