16

Das Haus von Rays Mutter lag auf einem schmalen Grundstück in einer ausnahmslos von Einfamilienhäusern gesäumten Straße. Es war ein zweistöckiges Gebäude aus rotem Backstein mit einem ebenfalls aus rotem Backstein errichteten einstöckigen Anbau, der vorn herausragte. Die beiden schmalen Vorderfenster saßen dicht nebeneinander, waren mit einbruchsicheren Gittern versehen und schlossen mit identischen Fensterstürzen ab. Drei Betonstufen führten zur Tür hinauf, die bündig mit dem Haus abschloß und von einem kleinen Holzdach geschützt wurde. Auf der rechten Seite des Hauses konnte ich am Ende eines kurzen Weges einen zweiten Eingang erkennen. Das Haus nebenan war eine Art Zwilling, da es sich lediglich durch das Fehlen der Verandaüberdachung unterschied, womit seine Haustür den Elementen ausgesetzt blieb.

Ray ging auf den Seiteneingang zu, während Laura und ich wie Entenküken hinterhertappten. Die Luft zwischen den beiden Häusern wirkte eisig. Ich verschränkte die Arme, um mich warm zu halten, und trat ruhelos von einem Fuß auf den anderen, da ich es kaum abwarten konnte, in einen geschlossenen Raum zu kommen. Ray klopfte gegen die Tür, auf deren Glaseinsatz ein Ziergitter angebracht war. Durch das Fenster konnte ich aus einem Raum auf der linken Seite helles Licht strahlen sehen, doch war keinerlei Bewegung zu sehen. Beiläufig sprach mich Ray über die Schulter an. »Diese Häuser nennt man >Flintenhäuschen<, da sie ein Zimmer tief und vier Zimmer breit sind und man so an der Vordertür stehen und eine Kugel durchs gesamte Haus feuern konnte.« Er wies nach oben zum ersten Stock. »Das von meiner Mutter nennt man Buckelhäuschen, da es noch ein zweites Schlafzimmer über der Küche hat. Mein Urgroßvater hat diese beiden Häuser 1880 gebaut.«

»Sieht ganz danach aus«, bemerkte Laura.

Er drohte ihr mit dem Finger. »He, paß bloß auf. Ich will nicht, daß du Grandmas Gefühle verletzt.«

»Oh, natürlich. Als ob ich mich allen Ernstes hinstellen und ihr Haus beleidigen würde. Mein Gott, Ray. Trau mir wenigstens ein bißchen Intelligenz zu.«

»Was ist nur mit dir los? Du bist so ein bescheuertes Opfer«, sagte er.

Im Haus ging ein zweites Licht an. Laura verkniff sich die scharfe Bemerkung, die sie ihrem Vater an den Kopf werfen wollte. Der Vorhang wurde zur Seite gezogen, und eine ältere Frau äugte heraus. Aufgrund des fehlenden Gebisses war ihr Mund eingefallen und hatte sich nach innen gerollt. Sie war klein und stämmig, hatte ein weiches, rundes Gesicht und trug ihr weißes Haar stramm zu einem festen Knoten zusammengebunden, den sie mit Gummibändern umwickelt hatte. Sie blinzelte durch eine Nickelbrille mit starken Gläsern. »Was wollen Sie?« brüllte sie uns durch das Glas entgegen.

Ray erhob die Stimme. »Ma, ich bin’s, Ray.«

Sie brauchte ein paar Sekunden, um diese Information zu verarbeiten. Ihre Verwirrung legte sich, und sie fuhr sich mit ihren schwieligen Händen an den Mund. Dann begann sie sich an den Schlössern zu schaffen zu machen — Sicherheitsschloß, Riegel und Vorlegekette — und drehte zum Schluß einen alten Hausschlüssel um, der einiger Bearbeitung bedurfte, bevor er nachgab. Die Tür flog auf, und sie warf sich in seine Arme. »Oh, Ray«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Oh, mein Ray.«

Ray lachte und schloß sie in die Arme, während sie wortlose, miauende Laute der Freude und der Erleichterung ausstieß. Obwohl sie drall war, war sie vermutlich nur halb so groß wie er. Sie trug eine weiße Kittelschürze über einem Baumwollkleid, das handgenäht aussah: rosafarbene Baumwolle mit einem Aufdruck aus weißen, in diagonalen Reihen angeordneten Knöpfen, die Ärmel mit pinkfarbenen Zackenlitzen besetzt. Als sie sich von ihm löste, saß ihr die Brille schief auf der Nase. Ihr Blick wanderte zu Laura, die hinter ihm auf dem Weg stand. Es war offensichtlich, daß es ihr in der trüben Welt einer Sehbehinderten schwerfiel, Gesichter zu unterscheiden. »Wer ist das?« fragte sie.

»Ich bin’s, Grandma. Laura. Und das ist Kinsey. Wir haben sie von Dallas mitgenommen. Wie geht es dir?«

»Oh, meine Sterne. Laura! Mein Liebes. Ich kann es gar nicht glauben. Das ist ja herrlich. Ich freue mich so, euch zu sehen. Seht euch bloß meinen Aufzug an. Hat mir ja niemand gesagt, daß ihr kommt, und jetzt habt ihr mich in diesem alten Ding ertappt.« Laura umarmte und küßte sie und hielt sich seitwärts, um die auffällige Wölbung ihres Bauchgurtes zu verbergen.

Rays Mutter schien es ohnehin nicht zu bemerken. »Laß dich mal ansehen.« Sie legte eine Hand auf jede Seite von Lauras Gesicht und studierte es gewissenhaft. »Ich wünschte, ich könnte dich besser sehen, Kind, aber ich glaube, du schlägst nach deinem Großvater Rawson. Bei meiner Seele. Wie lange ist es schon her?« Tränen liefen ihr die Wangen hinunter, und schließlich zog sie sich die Schürze vors Gesicht, um ihre Verlegenheit zu verbergen. Dann fächelte sie sich Luft zu und schüttelte ihre Emotionen ab. »Was ist nur mit mir los? Kommt jetzt rein hier, ihr alle. Sohn, das werde ich dir nie verzeihen, daß du nicht vorher angerufen hast. Ich sehe schrecklich aus. Im Haus sieht’s schrecklich aus.«

Wir marschierten in den Flur. Zuerst Laura, dann Ray und ich am Schluß. Wir blieben stehen, während die alte Frau die Türen wieder zusperrte. Mir fiel auf, daß niemand ihren Vornamen genannt hatte. Zur Rechten war die schmale Stiege, die zu dem Schlafzimmer im ersten Stock hinaufführte und die sogar zu dieser Tageszeit im Dunkeln lag. Zur Linken befand sich die Küche, die der einzige beleuchtete Raum zu sein schien. Da die Häuser so nah beieinander standen, gelangte nur wenig Tageslicht bis hierher. Es gab nur ein einziges Küchenfenster, und zwar an der gegenüberliegenden Wand oberhalb einer Spüle aus Porzellan und Gußeisen. Ein großer Eichentisch mit vier nicht zusammenpassenden hölzernen Stühlen, über dem eine nackte Glühbirne hing, nahm die Mitte des Raums ein. Die Glühbirne muß allerdings eine Stärke von 250 Watt besessen haben, da das Licht, das sie verströmte, nicht nur blendete, sondern auch die Raumtemperatur um mindestens zehn Grad erhöht hatte.

Der alte Herd war aus grünem Email mit schwarzen Kanten und besaß vier Gasbrenner und eine Abdeckklappe. Zur Linken der Tür stand ein Eastlake-Schränkchen mit einer ausziehbaren Blechplatte und eingebautem Mehlbehältnis und — sieb. Ich spürte, wie eine Welle der Erinnerung auf mich zurollte. Irgendwo hatte ich einen solchen Raum schon einmal gesehen, vielleicht in Grands Haus in Lompoc, als ich vier Jahre alt war. Vor meinem geistigen Auge sah ich immer noch die Waren auf den Borden vor mir: die Wachspapierschachtel der Marke Cut-Rite, der zylindrische, dunkelblaue Morton-Salzbehälter mit dem Mädchen unter dem Schirm (»Immer vom Regen in die Traufe«), Sanka-Kaffee in einer niedrigen orangefarbenen Dose, Malzkaffee und die Büchse mit Hershey’s Kakao. Mrs. Rawsons Speiseschrank war fast mit den gleichen Waren bestückt, bis hin zu dem undurchsichtigen, minzgrünen Glas, das die Aufschrift Zucker trug. Die beiden zusammenpassenden überdimensionalen Salz- und Pfefferstreuer mit den Schraubdeckeln standen direkt daneben.

Rays Mutter war gerade dabei, gegen Rays Einspruch Stapel von Zeitungen von den Küchenstühlen zu entfernen. »Also, Ma, jetzt komm schon. Das brauchst du nicht zu machen. Gib mir das.«

Sie versetzte ihm einen Klaps auf die Hand. »Finger weg. Ich kann das selbst. Wenn du mir gesagt hättest, daß du kommst, hätte ich das Haus in Schuß gebracht. Laura wird denken, ich wüßte nicht, wie man einen Haushalt führt.«

Er nahm ihr ein Bündel Zeitungen ab und legte sie in einem unordentlichen Stapel an die Wand. Laura murmelte etwas, entschuldigte sich und ging ins Hinterzimmer. Ich hoffte, daß eine Toilette in der Nähe war, die ich in Bälde aufsuchen konnte. Ich zog mir einen Stuhl heran, setzte mich und betrieb ein bißchen visuelles Schnüffeln, während Ray und seine Mutter aufräumten.

Von meinem Platz aus konnte ich einen Teil des Eßzimmers mit seinen eingebauten Geschirrschränken einsehen. Der Raum war mit Plunder vollgestellt, und Möbel und Pappkartons erschwerten ein Durchkommen. Ich entdeckte ein altes braunes Radio mit Holzgehäuse, ein Zenith mit einer runden Skala, eingelassen in eine Musiktruhe mit abgerundeten Kanten, die so groß war wie eine Kommode. Ich konnte die runde Form des Lautsprechers an der Stelle ausmachen, wo sich der abgeschabte Stoff über ihn spannte. Das Tapetenmuster war ein Wunder aus wirbelnden braunen Blättern.

Der Raum hinter dem Eßzimmer mit seinen zwei Fenstern zur Straße und der eigenen Eingangstür war vermutlich der Salon. In der Küche roch es wie eine Mischung aus Mottenkugeln und starkem Kaffee, der zu lang auf dem Herd gestanden hatte. Ich hörte das Rauschen der Wasserleitung und den Spülmechanismus, der an einen Wasserfall aus großer Höhe gemahnte. Als Laura kurz darauf aus dem hinteren Zimmer zurückkam, hatte sie ihren Bauchgurt abgeschnallt. Vermutlich war es ihr unangenehm, ihrer Großmutter ihren »Zustand« erklären zu müssen, falls sie es bemerkte.

Ich hörte der alten Frau zu, die immer noch gutmütig über den unerwarteten Besuch murrte. »Ich weiß nicht, wie ich euch ohne irgendwelche Zutaten im Haus ein Essen kochen soll.«

»Also, ich sage dir, wie«, meinte Ray geduldig. »Du stellst eine Liste mit allem, was du brauchst, zusammen, und wir sausen zum Supermarkt hinüber und sind im Nu wieder da.«

»Ich habe schon eine Liste geschrieben, wenn ich sie nur wiederfinde«, sagte sie und wühlte sich durch einzelne Zettel, die in der Mitte des Tisches lagen. »Freida Green, meine Nachbarin zwei Häuser weiter, nimmt mich einmal die Woche zum Supermarkt mit, wenn sie hingeht. Da ist sie. Was steht da?«

Ray nahm die Liste zur Hand und las in gekünsteltem Ton vor: »Da steht Schweinekoteletts mit Milchsauce, Süßkartoffeln, gebratene Äpfel und Zwiebeln, Maisbrot...«

Sie griff nach dem Zettel, aber er hielt ihn außer Reichweite. »Niemals. Stimmt nicht. Laß mal sehen. Möchtest du das haben, Sohn?«

»Ja, Ma’am.« Er reichte ihr den Zettel.

»Hm, das kann ich machen. Süßkartoffeln habe ich draußen, und ich glaube, ich habe noch Stangenbohnen und geschmorte Tomaten, die ich letzten Sommer eingemacht habe. Außerdem habe ich gerade ein Blech Erdnußbutterplätzchen gebacken. Die können wir zum Nachtisch essen, wenn du einen Liter Vanilleeis mitbringst. Aber echtes. Ich will keine gefrorene Milch.« Sie schrieb, während sie sprach und große, eckige Buchstaben auf das Blatt malte.

»Klingt gut. Was meinen Sie, Kinsey?« fragte er.

»Klingt toll.«

»Ach, du meine Güte. Kinsey. Ich schäme mich für meine schlechten Manieren. Ich habe Sie ganz vergessen, Herzchen. Was kann ich Ihnen anbieten? Ich müßte hier irgendwo noch eine Dose Limonade haben. Sehen Sie mal in der Speisekammer nach, aber achten Sie nicht darauf, wie es dort aussieht. Ich wollte sie eigentlich putzen, bin aber nicht dazu gekommen.«

»Eigentlich würde ich gern Ihr Telefon benutzen und Sie um einen Zettel und einen Stift bitten, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Gehen Sie nur und telefonieren Sie, solange Sie nicht in Paris in Frankreich anrufen. Ich habe ein begrenztes Einkommen, und dieses Telefon ist ohnehin schon so teuer. Da haben Sie einen Zettel. Laura, zeig ihr doch, wo das Telefon steht. Gleich da drin, neben dem Bett. Ich mache mal mit dieser Liste weiter.«

Ray sagte: »Ich habe ihr außerdem versprochen, daß sie ein paar Kleider in die Waschmaschine werfen kann. Hast du Waschmittel da?«

»In der Waschküche«, sagte sie und wies auf eine Tür.

Ich nahm Stift und Papier entgegen und ging ins Schlafzimmer, das so muffig war wie ein Schrank voller Mäntel. Die einzige Beleuchtung drang aus einem kleinen Badezimmer, das sich zur Linken öffnete. Schwere Vorhänge waren vor den Fenstern mit ihren bereits herabgezogenen Jalousien zusammengesteckt worden. Die Doppelbettmatratze sackte in einem eisernen Bettgestell zusammen, auf dem sich handgearbeitete Quilts stapelten. Das Zimmer wäre für das Diorama einer Wohnungseinrichtung der vierziger Jahre auf der Landesausstellung ideal gewesen. Sämtliche Oberflächen waren von einer feinen Staubschicht überzogen. Eigentlich wirkte nichts in diesem Haus besonders sauber, vermutlich eine Nebenerscheinung der mangelnden Sehkraft der alten Frau.

Das alte schwarze Wählscheibentelefon stand neben einer Lampe mit gebogenem Hals auf dem Nachttisch, umgeben von Großdruckbüchern, Pillenfläschchen, Cremes und Salben. Ich schaltete die Lampe an und wählte die Auskunft, von der ich mir die Nummern von United und American Airlines geben ließ. Zuerst rief ich bei United an und lauschte den üblichen Versicherungen, daß »mein Anruf in der Reihenfolge seines Eingangs entgegengenommen« würde. Aus Respekt vor Rays Mutter unterließ ich es, ihren Nachttisch zu durchsuchen, während ich darauf wartete, daß sich am anderen Ende jemand meldete. Allerdings musterte ich auf der Suche nach dem Bauchgurt den Raum. Er mußte hier irgendwo sein.

Schließlich nahm sich jemand meiner an und half mir, den Flug zu reservieren, den ich brauchte. Es gab einen Flug von Louisville nach Chicago um 19.1z Uhr, der um 19.2z Uhr dort ankam, worin sich der einstündige Zeitunterschied widerspiegelt. Nach kurzem Aufenthalt könnte ich um 20.14 Uhr von Chicago weiterfliegen und würde um 22.24 Uhr kalifornische Zeit in Los Angeles landen. Der Flug nach Santa Teresa ging um 23.00 Uhr und kam fünfundvierzig Minuten später an. Der letzte Anschluß war knapp, aber der Angestellte der Fluglinie schwor mir, daß das Ankunfts- und Abfluggate nah beieinander lagen. Da ich kein Gepäck hatte, glaubte er, daß es keine Probleme geben würde. Er riet mir, eine Stunde vor Abflug am Flughafen zu sein, damit ich mein Ticket bezahlen konnte.

Er hatte mich gerade wieder auf Warteleitung geschaltet, als Ray mit einem sauberen Handtuch in der Hand den Kopf zur Tür hereinstreckte. »Das ist für Sie«, rief er und warf es aufs Bett. »Wenn Sie zu Ende telefoniert haben, können Sie unter die Dusche hüpfen. An der Tür hängt ein Bademantel. Ma sagt, sie wirft Ihre Sachen in die Maschine, wenn Sie fertig sind.«

Ich legte eine Hand über die Sprechmuschel und sagte: »Danke. Ich bringe sie gleich raus. Was ist mit den Sachen im Wagen?«

»Die hat sie schon. Ich habe alles hereingeholt.«

Er wollte gerade wieder gehen, steckte dann aber doch noch einmal den Kopf herein. »Ach. Beinahe hätte ich es vergessen. Ma sagt, im selben Einkaufszentrum, wo auch der Supermarkt ist, gibt es eine Schnellreinigung. Wenn Sie mir Ihre Jacke geben, kann ich sie auf dem Hinweg dort abgeben und auf dem Rückweg wieder holen.«

Der Mann von der Fluglinie hatte sich wieder gemeldet und war bereits dabei, die Flugdaten zu bestätigen, während ich Ray begeistert zunickte. Den Hörer nach wie vor in die Halsbeuge geklemmt, leerte ich meine Blazertaschen und reichte ihm die Jacke. Er winkte und zog sich zurück, während ich mein Gespräch beendete.

Ich ging ins Badezimmer, wo ich nach kurzer Suche den Bauchgurt unten im Schmutzwäschekorb fand. Ich zerrte ihn heraus und inspizierte ihn, beeindruckt von der Genialität der Konstruktion. Das Gebilde ähnelte der überdimensionalen Gesichtsmaske eines Catchers, ein konvexer Rahmen aus teilbeweglichen Plastikrohren, umwickelt von einer Wattierung, in die unzählige zusammengebündelte Banknoten gepackt worden waren. Tragfähige Segeltuchriemen hielten den Gurt an Ort und Stelle. Ich untersuchte einige der Pakete und blätterte mich durch Fünf-, Zehn-, Zwanzig- und Fünfzig-Dollar-Noten in verschiedenen Größen. Viele Scheine waren mir unvertraut, und ich mußte annehmen, daß sie nicht mehr gültig waren. Mehrere Päckchen schienen buchstäblich frisch aus der Druckerpresse zu stammen. Es betrübte mich, daß Laura alltägliche Ausgaben mit Banknoten bestritt, für die ein interessierter Sammler viel Geld bezahlt hätte. Es war dumm von Ray, dabeizustehen und zuzusehen, wie seine Tochter alles verschleuderte. Wer wußte schon, wieviel Geld noch zu holen war?

Ich stopfte den Geldgurt wieder in den Wäschepuff. Mir ist stets daran gelegen, alles zu einem Abschluß zu bringen, und ich mag es nicht, wenn so viele Fragen unbeantwortet bleiben. Auf jeden Fall (sagte sie) war das nicht mein Problem. In sechs Stunden wäre ich unterwegs nach Kalifornien. Wenn noch irgendwo stapelweise die Moneten herumlagen, so war das einzig und allein Rays Angelegenheit. An einem Haken an der Tür hing ein blauer Chenille-Bademantel. Ich schlüpfte aus dem geliehenen Jeanskleid und der Unterwäsche, zog den Bademantel an und trug meine schmutzigen Kleider in die Küche hinaus. Ray und Laura hatten sich offenbar bereits auf ihren Besorgungsgang gemacht. Ich konnte Süßkartoffeln auf dem Herd stehen sehen, die in einer dunkelblau-weiß gesprenkelten Kasserolle vor sich hinköchelten. Liter-Einmachgläser mit Tomaten und grünen Bohnen waren von den Borden in der Speisekammer geholt und auf die Arbeitsfläche gestellt worden. Ich bedachte kurz die Möglichkeit von Botulismus infolge des Genusses mangelhaft konservierter Lebensmittel, aber, mein Gott, die Sterblichkeitsrate lag ja nur bei fünfundsechzig Prozent. Rays Mutter hätte vermutlich kein so gesegnetes Alter erreicht, wenn sie das Einmachen nicht perfekt beherrschte.

Die Tür zur Waschküche stand offen. Der Raum war nicht isoliert, und die Luft, die aus ihm herausströmte, war eisig. Rays Mutter widmete sich ihrer Arbeit, als spürte sie die Kälte gar nicht. Eine Waschmaschine und ein Trockner aus der Frühzeit standen links nebeneinander an der Wand. Dazwischen war ein zerbeulter Staubsauger im Blechbüchsendesign gequetscht, der wie die Schnauze eines Raumschiffs geformt war. »Ich hüpfe jetzt gleich unter die Dusche, Mrs. Rawson. Darf ich Ihnen die geben?« fragte ich.

»Aber sicher«, meinte sie. »Ich habe gerade die Sachen hineingeworfen, die mir Laura gegeben hat. Sie können mich Helen nennen, wenn Sie wollen«, fügte sie hinzu. »Mein verstorbener Mann hat mich immer Hell on Wheels genannt.«

Ich sah ihr zu, wie sie nach dem Meßbecher tastete und den Daumen über den Rand streckte, um zu fühlen, wie hoch das Waschpulver reichte. »Ich gelte schon seit Jahren im Sinne des Gesetzes als blind, und meine Augen werden immer schlechter. Ich kann mich aber immer noch zurechtfinden, solange mir niemand irgendwelches Zeug in den Weg legt. Ich soll eigentlich operiert werden, doch ich mußte warten, bis Ray kam, um mir zu helfen. Aber was quassele ich denn da. Ich will Sie nicht aufhalten.«

»Ist schon recht«, sagte ich. »Kann ich Ihnen irgend etwas helfen?«

»O nein, Herzchen. Gehen Sie nur duschen. Sie können den Bademantel anbehalten, bis Ihre Kleider fertig sind. Dauert nicht lang mit diesen alten Maschinen. Meine Freundin Freida Green hat neue, und bei ihr dauert es dreimal so lang, bis sie eine Ladung durchgewaschen hat, und braucht doppelt soviel Wasser. Sowie ich hier fertig bin, rühre ich einen Laib Maisbrot zusammen. Ich hoffe, Sie essen gern.«

»Und wie. Ich komme gleich wieder und helfe Ihnen.«

Die Dusche war ein zweifelhaftes Vergnügen. Der Wasserdruck war jämmerlich, und heiß und kalt wechselten sich im Einklang mit den Phasen der Waschmaschine in wildem Durcheinander ab. Ich schaffte es, mich sorgfältig abzuschrubben, wusch mir die Haare in einer Schäfchenwolke aus Seifenschaum und seifte und spülte meinen Körper so lange, bis ich mich wieder frisch fühlte. Dann trocknete ich mich ab und zog Helens Bademantel an. Ich schlüpfte in meine Reeboks, da mich meine heikle Ader daran hinderte, auf nur notdürftig sauberen Fußböden barfuß zu laufen. Im allgemeinen bin ich nicht eitel, was mein Aussehen betrifft, aber ich konnte es kaum erwarten, wieder in meine eigenen Kleider zu schlüpfen.

Bevor ich in die Küche zurückkehrte, benutzte ich meine Telefonkreditkarte und rief bei Henry in Kalifornien an. Er war offensichtlich nicht zu Hause, aber sein Anrufbeantworter meldete sich. Ich sagte: »Henry, hier ist Kinsey. Ich bin in Louisville, Kentucky. Hier ist es kurz nach ein Uhr, und ich habe für sieben Uhr einen Flug nach Hause gebucht. Ich weiß nicht, wann wir uns auf den Weg zum Flughafen machen werden, aber die nächsten zwei Stunden dürfte ich noch hier sein. Falls irgend möglich, müßtest du mich am Flughafen abholen. Ich habe fast kein Geld mehr, und ich weiß nicht, wie ich mein Auto sonst auslösen soll. Ich kann versuchen, mir das Geld hier zu borgen, aber diese Leute kommen mir nicht übermäßig verläßlich vor. Wenn ich vor meiner Abreise nichts mehr von dir höre, rufe ich dich an, sowie ich in Los Angeles bin.« Ich sah auf der Pappscheibe auf dem Telefon nach und nannte ihm Helens Nummer, bevor ich auflegte. Dann fuhr ich mir mit einem Kamm durchs Haar und ging wieder in die Küche, wo mich Helen zum Tischdecken abkommandierte.

Ray und Laura erschienen mit meinem Blazer in einem durchsichtigen Plastiksack von der Reinigung und je einem Armvoll Lebensmittel, die wir auspackten und aufräumten. Ich hängte meinen Blazer auf den Knopf an der Innenseite der Schlafzimmertür. Laura folgte mir und ging weiter ins Badezimmer, um zu duschen. Die Wäsche muß fertig gewesen sein, da ich den Trockner gegen die Wand rumpeln hörte. Sowie die Sachen trocken waren, würde ich meine Kleider herausholen und mich anziehen.

In der Zwischenzeit zeigte mir Helen, wie man Süßkartoffeln schält und püriert, während sie Äpfel und Zwiebeln in Viertel schnitt und sie mit Butter in die Bratpfanne gab. Ich schwieg wie eine Fliege an der Wand und hörte zu, wie Ray und seine Mutter plauderten, während sie das Abendessen zubereitete. »Vor ungefähr vier Monaten ist in Freida Greens Haus eingebrochen worden. Damals habe ich die Fenstergitter anbringen lassen. Wir hatten ein Nachbarschaftstreffen mit diesen beiden Polizisten, die uns gesagt haben, was wir bei einem Überfall tun sollen. Freida und ihre Freundin Minnie Paxton haben einen Selbstverteidigungskurs gemacht. Haben erzählt, daß sie gelernt haben, wie man schreit und richtig fest seitwärts ausschlägt. Der Sinn der Sache ist, dem Kerl die Kniescheibe zu brechen und ihn zu Fall zu bringen. Freida hat geübt und ist flach auf den Rücken gefallen. Hat sich doch dabei glatt das Steißbein gebrochen. Minnie mußte dermaßen lachen, daß sie beinahe in die Hose gemacht hätte, bis sie sah, wie schwer Freida verletzt war. Sie mußte einen Monat lang einen Eisbeutel auflegen, die Ärmste.«

»Also, ich will nichts davon hören, daß du versuchst, irgendeinen Kerl zu treten.«

»Nein, nein. Das würde ich auch nicht tun. Hat ja keinen Sinn bei einer alten Frau wie mir. Ahe Menschen können sich nicht mehr auf Körperkraft verlassen. Sogar Freida hat das gesagt. Deshalb habe ich ja die ganzen Schlösser einbauen lassen. Im Sommer habe ich früher immer die Türen offenstehen lassen, damit Luft hereinkommt. Jetzt nicht mehr. Nein, mein Herr.«

»He, Ma. Bevor ich es vergesse. Ist irgendwelche Post für mich gekommen? Ich dachte, mein Kumpel in Kalifornien hätte mir eventuell ein Päckchen oder einen Brief an diese Adresse geschickt.«

»Ach ja. Jetzt, wo du es sagst. Ich habe etwas bekommen und beiseite gelegt. Es ist schon eine ganze Weile her. Ich glaube, es muß hier irgendwo sein, wenn mir wieder einfällt, wo ich es hingesteckt habe. Schau doch mal in die Schublade drüben unter dem ganzen Kram.«

Ray zog die Schublade auf und wühlte sich durch allen möglichen Krimskrams: Lampenschnüre, Batterien, Stifte, Flaschenverschlüsse, Gutscheine, Hammer, Schraubenzieher, Kochutensilien. Eine Handvoll Briefumschläge war hinten hineingestopft worden, aber auf den meisten stand »Wurfsendung«. Es war nur ein persönlicher Umschlag darunter, der an Ray Rawson adressiert war und keine Absenderanschrift trug. Er äugte nach dem Poststempel. »Das ist es«, meinte er. Er riß den Umschlag auf und zog eine Beileidskarte mit der aufgeklebten Fotografie eines Friedhofs heraus. Der Text in der Karte lautete:

Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreichs geben;

was du auf Erden binden wirst,

das wird auch im Himmel gebunden sein,

und was du auf Erden lösen wirst,

das wird auch im Himmel gelöst sein.

Matthäus 16, 19

In der Stunde deines Verlustes in Gedanken bei dir.

Auf die Rückseite der Karte war ein kleiner Messingschlüssel geklebt. Ray zog ihn ab und drehte ihn in der Hand hin und her, bevor er ihn mir reichte. Ich musterte erst die eine Seite und dann die andere, genau wie er. Der Schlüssel war knapp vier Zentimeter lang. Auf der einen Seit war das Wort Master eingeprägt und auf der anderen die Ziffer M5 50. Konnte man sich leicht merken. Die Zahl war vermutlich mein Geburtsdatum in abgekürzter Form. Ich sagte: »Vermutlich ein Vorhängeschloß.«

»Was ist mit dem Schlüssel, den Sie haben?«

»Er ist im Schlafzimmer. Ich hole ihn, sobald Laura dort drinnen fertig ist.«

Das Essen stand schon fast auf dem Tisch, als Laura endlich herauskam. Es hatte den Anschein, als hätte sie sich mit ihrem Haar und dem Make-up besondere Mühe gegeben, obwohl ihre Großmutter gar nicht so gut sehen konnte. Während die Servierschüsseln am Herd gefüllt wurden, ging ich ins Schlafzimmer und nahm mein Schweizer Offiziersmesser von dem Stapel mit meinen Habseligkeiten auf dem Nachttisch. Ich nahm die Jacke aus dem Reinigungssack und trennte mit der kleinen Schere die Stiche auf, die ich in den inneren Schultersaum genäht hatte. Dann zog ich den Schlüssel heraus. Dieser hier war schwer, gut fünfzehn Zentimeter lang und hatte einen spitz zulaufenden, runden Griff. Ich hielt ihn näher an die Tischlampe heran, neugierig, ob es auch ein Master war. Lawless stand auf dem Griff, doch konnte ich keine weiteren Merkmale erkennen. Master-Vorhängeschlösser kannte ich. Von einem Lawless hatte ich dagegen noch nie gehört. Könnte eine nur regional verbreitete Firma sein oder eine, die es nicht mehr gab.

Ich kehrte an den Küchentisch zurück, wo ich mich setzte und Ray den Schlüssel reichte.

»Wofür ist der?« fragte Laura, als sie sich setzte.

»Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, er gehört zu dem hier«, sagte Ray. Er legte den großen, alten Schlüssel neben den kleineren mitten auf den Tisch. »Den hier hatte Johnny innen in seinem Safe angeklebt. Chester hat ihn diese Woche gefunden, als sie die Wohnung ausgeräumt haben.«

»klängen die mit dem Geld zusammen?«

»Ich hoffe es. Sonst haben wir Pech gehabt«, meinte er.

»Wie das?«

»Weil es der einzige Hinweis ist, den wir haben. Es sei denn, du hast eine Idee, wo wir vierzig Jahre, nachdem es versteckt worden ist, nach einem Haufen Geld suchen können.«

»Ich wüßte nicht einmal, wo ich anfangen sollte«, sagte sie.

»Ich auch nicht. Ich hatte gehofft, Kinsey würde uns helfen, aber es macht ganz den Eindruck, als ginge uns die Zeit aus«, meinte er und wandte sich dann an seine Mutter. »Soll ich das Tischgebet sprechen, Ma?«

Warum fühlte ich mich schuldig? Ich hatte nichts getan.

Das Essen war ein üppiges Zeugnis althergebrachter Südstaaten-Kochkunst. Es war seit Tagen die erste Mahlzeit, die ich zu mir nahm, die nicht voller Zusatzstoffe und Konservierungsmittel steckte. Der Gehalt an Zucker, Natrium und Fett war zwar fragwürdig, aber ich bin nicht besonders zimperlich, was Essen betrifft. Ich aß mit Appetit und Konzentration und achtete nur nebenbei auf das Gespräch um mich herum, bis Ray die Stimme erhob. Er hatte seine Gabel abgelegt und starrte seine Tochter erschrocken und entsetzt an.

»Du hast was getan?«

»Was gibt es daran auszusetzen?«

»Wann hast du mit ihr gesprochen?«

Ich sah, wie Laura die Farbe ins Gesicht stieg. »Gleich als wir hier angekommen sind«, sagte sie rechtfertigend. »Du hast mich doch ins andere Zimmer gehen sehen. Was hast du denn gedacht, was ich mache? Ich habe telefoniert.«

»Guter Gott. Du hast sie angerufen

»Sie ist meine Mutter. Natürlich habe ich sie angerufen. Ich wollte nicht, daß sie sich Sorgen macht, falls Gilbert plötzlich bei ihr auftaucht. Na und?«

»Wenn Gilbert auftaucht, wird sie ihm sagen, wo du bist.«

»Tut sie nicht.«

»Natürlich tut sie’s. Glaubst du etwa, Gilbert wird sie nicht mit seinem Charme um den Finger wickeln? Herrgott, vergiß den Charme. Er wird sie zu Klump schlagen. Natürlich wird sie es ihm sagen. Ich hab’s ja auch getan. Als er erst einmal angefangen hat, mir die Finger zu brechen, konnte ich es gar nicht erwarten, zu singen. Hast du sie wenigstens gewarnt?«

»Wovor gewarnt?«

»Oh, mein Gott«, sagte Ray. Er rieb sich mit der Handfläche übers Gesicht und verzerrte dabei seine Züge.

»Paß mal auf, Ray. Du brauchst mich nicht zu behandeln wie eine Vollidiotin.«

»Du kapierst es immer noch nicht, was? Dieser Typ wird mich umbringen. Und dich. Er wird Kinsey umbringen, deine Großmutter und jeden anderen, der sich ihm in den Weg stellt. Er will das Geld. Du bist für ihn nur ein Mittel zum Zweck.«

»Wie will er uns denn finden? Er wird uns nicht finden«, meinte sie.

»Wir müssen von hier verschwinden.« Ray stand auf, warf seine Serviette hin und sah mich an. Ich wußte ebensogut wie er, daß Gilbert, wenn er erst einmal unseren Aufenthaltsort kannte, im Handumdrehen hier wäre.

»Ich komme mit«, sagte ich.

Laura war entsetzt. »Wir sind noch nicht einmal mit dem Essen fertig. Was habt ihr denn?«

Er wandte sich zu mir. »Ziehen Sie Ihre Kleider an. Ma, du brauchst einen Mantel. Stell den Herd aus. Laß einfach alles stehen. Wir können uns später darum kümmern.«

Seine Panik war ansteckend. Helens Blick wanderte im Zimmer umher, und ihre Stimme zitterte. »Was ist denn los, Sohn? Ich begreife nicht, was los ist. Warum sollen wir weggehen? Wir haben unser Eis noch nicht gegessen.«

»Tu einfach, was ich sage und setz dich in Bewegung«, fauchte er und zerrte sie aus ihrem Stuhl hoch. Dann begann er, die Gasbrenner auszudrehen. Für eine Flucht war ich nicht angezogen. Ich trug nichts weiter als meine Reeboks und Helens Chenillebademantel. Ich ging zur Waschküche hinüber und hätte in meiner Eile, zum Trockner zu gelangen, beinahe Rays Stuhl umgeworfen. Laura protestierte heftig, aber mir fiel auf, daß sie sich genauso schnell bewegte wie wir anderen. Ich riß den Trockner auf, packte mir einen Armvoll heißer Klamotten und stürzte ins Schlafzimmer. Ich streifte meine Schuhe ab, zog Socken, BH und Höschen, Rollkragenpullover und Jeans an und schob die Füße wieder in die Reeboks, wobei ich die Fersen heruntertrat. Mein Gott, ich kämpfte schon wieder um die Goldmedaille bei der Kleiderüberwerfolympiade. Ich schlüpfte in meinen Blazer und begann, meine Habseligkeiten in die Taschen zu stopfen: Bargeld, Kreditkarten, Hausschlüssel, Pille, Dietriche. In der Küche hörte ich Laura einen Schrei ausstoßen, gefolgt vom Klirren einer zu Boden fallenden Schüssel. Ich ging in die Küche, während ich mir den letzten Krimskrams in die Taschen meiner Jeans schob.

Im Raum herrschte Totenstille. Helen, Ray und Laura regten sich nicht. Die Schüssel mit den pürierten Süßkartoffeln lag inmitten einer orangefarbenen Pfütze aus Püree und zerbrochenem Porzellan auf der Erde. Doch das spielte in diesem Moment keine Rolle, weil Gilbert in der Eßzimmertür stand und eine Pistole in der Hand hielt, mit der er genau auf mich zielte.